Kapitel
I: "Der Heizer"
Als der sechzehnjährige Josie Rossmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
Als der sechzehnjährige Josie Rossmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
"So
hoch", sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das
Weggehn dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der
Gepäckträger, die an ihm vorüber zogen, allmählich bis an das
Bordgeländer geschoben.
Ein
junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden
war, sagte im Vorübergehn: "Ja haben Sie denn noch keine Lust
auszusteigen?" "Ich bin doch fertig", sagte Josie ihn
anlachend und hob aus Übermut und weil er ein starker Junge war, den
Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der
ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit den andern
entfernte, merkte er, dass er seinen Regenschirm unten im Schiff
vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr
beglückt schien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen
Augenblick zu warten, überblickte schnell die Situation, um sich bei
der Rückkehr zurechtzufinden und eilte davon. Unten fand er zu
seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum
ersten Mal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffung
sämtlicher Passagiere zusammenhing, und musste sich seinen Weg durch
eine Unzahl kleiner Räume, fortwährend abbiegende Korridore, kurze
Treppen, die einander aber immer wieder folgten, ein leeres Zimmer
mit einem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis er sich
tatsächlich, da er diesen Weg nur ein oder zweimal und immer in
größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt hatte. In
seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf und nur immerfort
über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und von der
Ferne wie einen Hauch das letzte Arbeiten der schon eingestellten
Maschine merkte, fing er ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine
Türe zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte. "Es
ist ja offen", rief es von innen und Josie öffnete mit
ehrlichem Aufatmen die Tür. "Warum schlagen Sie so verrückt
auf die Tür?" fragte ein riesiger Mann, kaum dass er nach Josie
hinsah. Durch irgendeine Oberlichtluke fiel ein trübes, oben im
Schiff längst abgebrauchtes Licht in die klägliche Kabine, in
welcher ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und der Mann knapp
nebeneinander wie eingelagert standen. "Ich habe mich verirrt",
sagte Josie, "ich habe es während der Fahrt gar nicht so
bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff." "Ja,
da haben Sie recht", sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte
nicht auf, an dem Schloss eines kleinen Koffers zu hantieren, den er
mit beiden Händen immer wieder zudrückte, um das Einschnappen des
Riegels zu behorchen. "Aber kommen Sie doch herein", sagte
der Mann weiter, "Sie werden doch nicht draußen stehn."
"Störe ich nicht?" fragte Josie. "Ach, wie werden Sie
denn stören." "Sind Sie ein Deutscher?" suchte sich
Josie noch zu versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte,
welche besonders von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika
drohen. "Bin ich, bin ich", sagte der Mann. Josie zögerte
noch. Da fasste unversehens der Mann die Türklinke und schob mit der
Türe, die er rasch schloss, Josie zu sich herein. "Ich kann es
nicht leiden, wenn man mir vom Gang hereinschaut", sagte der
Mann, der wieder an seinem Koffer arbeitete. "Da läuft jeder
vorbei und schaut herein, das soll der Zehnte aushalten." "Aber
der Gang ist doch ganz leer", sagte Josie, der unbehaglich an
den Bettpfosten gequetscht dastand. "Ja, jetzt", sagte der
Mann. "Es handelt sich doch um jetzt", dachte Josie, "mit
dem Mann ist schwer zu reden." "Legen Sie sich doch aufs
Bett, da haben Sie mehr Platz", sagte der Mann. Josie kroch so
gut es ging hinein und lachte dabei laut über den ersten,
vergeblichen Versuch sich herüber zu schwingen. Kaum war er aber
drin, rief er: "Um Gotteswillen, ich habe ja ganz meinen Koffer
vergessen." "Wo ist er denn?" "Oben auf dem Deck,
ein Bekannter gibt Acht auf ihn. Wie heißt er nur?" Und er zog
aus einer Geheimtasche, die ihm seine Mutter für die Reise im
Rockfutter angelegt hatte, eine Visitenkarte. "Butterbaum, Franz
Butterbaum." "Haben Sie den Koffer sehr nötig?"
"Natürlich." "Ja warum haben Sie ihn dann einem
fremden Menschen gegeben?" "Ich hatte meinen Regenschirm
unten vergessen und bin gelaufen ihn zu holen, wollte aber den Koffer
nicht mit schleppen. Dann habe ich mich auch noch verirrt." "Sie
sind allein? Ohne Begleitung?" "Ja, allein." "Ich
sollte mich vielleicht an diesen Mann halten", ging es Josie
durch den Kopf, wo finde ich gleich einen bessern Freund. "Und
jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede
ich gar nicht", und der Mann setzte sich auf den Sessel, als
habe Josies Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen. "Ich
glaube aber, der Koffer ist noch nicht verloren." "Glauben
macht selig", sagte der Mann und kratzte sich kräftig in seinem
dunklen, kurzen, dichten Haar. "Auf dem Schiff wechseln mit den
Hafenplätzen auch die Sitten, in Hamburg hätte ihr Butterbaum den
Koffer vielleicht bewacht, hier ist höchstwahrscheinlich schon von
beiden keine Spur mehr." "Da muss ich aber doch gleich
hinauf schauen", sagte Josie und sah sich um, wie er
herauskommen könnte. "Bleiben Sie nur", sagte der Mann und
stieß ihn mit einer Hand gegen die Brust geradezu rau ins Bett
zurück. "Warum denn?" fragte Josie ärgerlich. "Weil
es keinen Sinn hat", sagte der Mann. "In einem kleinen
Weilchen gehe ich auch, dann gehn wir zusammen. Entweder ist der
Koffer gestohlen, dann ist keine Hilfe und Sie können ihm nachweinen
bis an das Ende ihrer Tage oder der Mensch bewacht ihn noch immer,
dann ist er ein Dummkopf und soll weiter wachen oder er ist bloß ein
ehrlicher Mensch und hat den Koffer stehen gelassen, dann werden wir
ihn bis das Schiff ganz entleert ist, desto besser finden. Ebenso
auch ihren Regenschirm." "Kennen Sie sich auf dem Schiff
aus?" fragte Josie misstrauisch und es schien ihm, als hätte
der sonst überzeugende Gedanke, dass auf dem leeren Schiff seine
Sachen am besten zu finden sein würden, einen verborgenen Haken.
"Ich bin doch Schiffsheizer", sagte der Mann. "Sie
sind Schiffsheizer", rief Josie freudig, als überstiege das
alle Erwartungen, und sah den Ellbogen aufgestützt den Mann näher
an. "Gerade vor der Kammer, wo ich mit den Slowaken geschlafen
habe, war eine Luke angebracht, durch die man in den Maschinenraum
sehen konnte." "Ja, dort habe ich gearbeitet", sagte
der Heizer. "Ich habe mich immer so für Technik interessiert",
sagte Josie, der in einem bestimmten Gedankengang blieb, "und
ich wäre sicher später Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach
Amerika hätte fahren müssen." "Warum haben Sie denn
fahren müssen?" "Ach was!" sagte Josie und warf die
ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd den Heizer
an, als bitte er ihn selbst für das nicht Eingestandene um seine
Nachsicht. "Es wird schon einen Grund gehabt haben", sagte
der Heizer und man wusste nicht recht, ob er damit die Erzählung
dieses Grundes fordern oder abwehren wolle. "Jetzt könnte ich
auch Heizer werden", sagte Josie, "meinen Eltern ist es
jetzt ganz gleichgültig, was ich werde." "Meine Stelle
wird frei", sagte der Heizer, steckte im Vollbewusstsein dessen
die Hände in die Hosentaschen und warf die Beine, die in faltigen,
lederartigen, eisengrauen Hosen steckten, aufs Bett hin, um sie zu
strecken. Josie musste mehr an die Wand rücken. "Sie verlassen
das Schiff?" "Jawohl, wir marschieren heute ab."
"Warum denn? Gefällt es Ihnen hier nicht?" "Ja, das
sind so die Verhältnisse, es entscheidet nicht immer, ob es einem
gefällt oder nicht. Übrigens haben Sie recht, es gefällt mir auch
nicht. Sie denken wahrscheinlich nicht mit Entschlossenheit daran,
Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es am leichtesten werden.
Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Europa studieren
wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht. Die amerikanischen
Universitäten sind ja unvergleichlich besser." "Das ist ja
möglich", sagte Josie, "aber ich habe ja fast kein Geld
zum Studieren. Ich habe zwar von irgend jemandem gelesen, der bei Tag
in einem Geschäft gearbeitet und in der Nacht studiert hat, bis er
Doktor und ich glaube Bürgermeister wurde. Aber dazu gehört doch
eine große Ausdauer, nicht? Ich fürchte, die fehlt mir. Außerdem
war ich gar kein besonders guter Schüler, der Abschied von der
Schule ist mir wirklich nicht schwer geworden. Und die Schulen hier
sind vielleicht noch strenger. Englisch kann ich fast gar nicht.
Überhaupt ist man hier gegen Fremde so eingenommen, glaube ich."
"Haben Sie das auch schon erfahren? Na, dann ist gut. Dann sind
Sie mein Mann. Sehn Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es
gehört der Hamburg-Amerika-Linie, warum sind wir nicht lauter
Deutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt
Schubal. Das ist doch nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund
schindet uns Deutsche auf einem deutschen Schiff. Glauben Sie nicht,"
— ihm ging die Luft aus, er fackelte mit der Hand, — "dass
ich klage um zu klagen. Ich weiß dass Sie keinen Einfluss haben und
selbst ein armes Bürschchen sind. Aber es ist zu arg." Und er
schlug auf den Tisch mehrmals hart mit der Faust und ließ kein Auge
von ihr, während er schlug. "Ich habe doch schon auf so vielen
Schiffen gedient," — und er nannte zwanzig Namen
hintereinander, als sei es ein Wort, Josie wurde ganz wirr, —"und
habe mich ausgezeichnet, bin belobt worden, war ein Arbeiter nach dem
Geschmack meiner Kapitäne, sogar auf dem gleichen Handelssegler war
ich einige Jahre", —er erhob sich, als sei das der Höhepunkt
seines Lebens, —"und hier auf diesem Kasten, wo alles nach
der Schnur eingerichtet ist, wo kein Witz erfordert wird — hier
taug ich nichts, hier steh ich dem Schubal immer im Wege, bin ein
Faulpelz, verdiene herausgeworfen zu werden und bekomme meinen Lohn
aus Gnade. Verstehn Sie das? Ich nicht." "Das dürfen Sie
sich nicht gefallen lassen", sagte Josie aufgeregt. Er hatte
fast das Gefühl davon verloren, dass er auf dem unsichern Boden
eines Schiffes an der Küste eines unbekannten Erdteils war, so
heimisch war ihm hier auf dem Bett des Heizers zu Mute. "Waren
Sie schon beim Kapitän? Haben Sie schon bei ihm ihr Recht gesucht?"
"Ach, gehen Sie, gehn Sie lieber weg. Ich will Sie nicht hier
haben. Sie hören nicht zu, was ich sage und geben mir Ratschläge.
Wie soll ich denn zum Kapitän gehn." Und müde setzte sich der
Heizer wieder und legte das Gesicht in beide Hände. "Einen
bessern Rat kann ich ihm nicht geben", sagte sich Josie. Und er
fand überhaupt, dass er lieber seinen Koffer hätte holen sollen,
statt hier Ratschläge zu geben, die ja nur für dumm gehalten
wurden. Als ihm der Vater den Koffer für immer übergeben hatte,
hatte er im Scherz gefragt: "Wie lange wirst du ihn haben?"
Und jetzt war dieser teure Koffer vielleicht schon im Ernst verloren.
Der einzige Trost war noch, dass der Vater von seiner jetzigen Lage
nicht das allergeringste erfahren konnte, selbst wenn er nachforschen
sollte. Nur dass er bis New York gekommen war, konnte die
Schiffsgesellschaft gerade noch sagen. Leid tat es aber Josie, dass
er die Sachen im Koffer noch kaum verwendet hatte, trotzdem er es
beispielsweise längst nötig gehabt hätte, das Hemd zu wechseln. Da
hatte er also am unrichtigen Ort gespart; jetzt wo er es gerade am
Beginn seiner Laufbahn nötig haben würde, rein gekleidet
aufzutreten, würde er im schmutzigen Hemd erscheinen müssen. Das
waren schöne Aussichten. Sonst wäre der Verlust des Koffers nicht
gar so arg gewesen, denn der Anzug, den er anhatte, war sogar besser,
als jener im Koffer, der eigentlich nur ein Notanzug war, den die
Mutter noch knapp vor der Abreise hatte flicken müssen. Jetzt
erinnerte er sich auch, dass im Koffer noch ein Stück Veroneser
Salami war, die ihm die Mutter als Extragabe eingepackt hatte, von
der er jedoch nur den kleinsten Teil hatte aufessen können, da er
während der Fahrt ganz ohne Appetit gewesen war und die Suppe, die
im Zwischendeck zur Verteilung kam, ihm reichlich genügt hatte.
Jetzt hätte er aber die Wurst gern bei der Hand gehabt, um sie dem
Heizer zu verehren. Denn solche Leute sind leicht gewonnen, wenn man
ihnen irgendeine Kleinigkeit zusteckt, das wusste Josie noch von
seinem Vater her, welcher durch Zigarrenverteilung alle die niedrigen
Angestellten gewann, mit denen er geschäftlich zu tun hatte. Jetzt
hatte Josie an Verschenkbarem noch sein Geld bei sich und das wollte
er, wenn er schon vielleicht den Koffer verloren haben sollte,
vorläufig nicht anrühren. Wieder kehrten seine Gedanken zum Koffer
zurück und er konnte jetzt wirklich nicht einsehn, warum er den
Koffer während der Fahrt so aufmerksam bewacht hatte, dass ihn die
Wache fast den Schlaf gekostet hatte, wenn er jetzt diesen gleichen
Koffer so leicht sich hatte wegnehmen lassen. Er erinnerte sich an
die fünf Nächte, während derer er einen kleinen Slowaken, der zwei
Schlafstellen links von ihm lag, unausgesetzt im Verdacht gehabt
hatte, dass er es auf seinen Koffer abgesehen habe. Dieser Slowake
hatte nur darauf gelauert, dass Josie endlich von Schwäche befallen
für einen Augenblick ein nicke, damit er den Koffer mit einer langen
Stange, mit der er immer während des Tages spielte oder übte, zu
sich hinüber ziehen könne. Bei Tage sah dieser Slowake genug
unschuldig aus, aber kaum war die Nacht gekommen, erhob er sich von
Zeit zu Zeit von seinem Lager und sah traurig zu Josies Koffer
herüber. Josie konnte dies ganz deutlich erkennen, denn immer hatte
hier und da jemand mit der Unruhe des Auswanderers ein Lichtchen
angezündet, trotzdem dies nach der Schiffsordnung verboten war, und
versuchte unverständliche Prospekte der Auswanderungsagenturen zu
entziffern. War ein solches Licht in der Nähe, dann konnte Josie ein
wenig eindämmern, war es aber in der Ferne oder war es dunkel, dann
musste er die Augen offen halten. Diese Anstrengung hatte ihn recht
erschöpft. Und nun war sie vielleicht ganz umsonst gewesen. Dieser
Butterbaum, wenn er ihn einmal irgendwo treffen sollte.
In
diesem Augenblick ertönten draußen, in weiter Ferne, in die
bisherige, vollkommene Ruhe hinein kleine, kurze Schläge wie von
Kinderfüßen, sie kamen näher, mit verstärktem Klang, und nun war
es ein ruhiger Marsch von Männern. Sie gingen offenbar, wie es in
dem schmalen Gang natürlich war, in einer Reihe, man hörte Klirren
wie von Waffen. Josie, der schon nahe daran gewesen war, sich im Bett
zu einem von allen Sorgen um Koffer und Slowaken befreiten Schlafe
auszustrecken, schreckte auf und stieß den Heizer an, um ihn endlich
aufmerksam zu machen, denn der Zug schien mit seiner Spitze die Tür
gerade erreicht zu haben. "Das ist die Schiffskapelle",
sagte der Heizer. "Die haben oben gespielt und gehen einpacken.
Jetzt ist alles fertig und wir können gehen. Kommen Sie." Er
fasste Josie bei der Hand, nahm noch im letzten Augenblick ein
Muttergottesbild von der Wand über dem Bett, stopfte es in seine
Brusttasche, ergriff seinen Koffer und verließ mit Josie eilig die
Kabine.
"Jetzt
gehe ich ins Büro und werde den Herren meine Meinung sagen. Es ist
niemand mehr da, man muss keine Rücksichten nehmen",
wiederholte der Heizer verschiedenartig und wollte im Gehen mit
Seitwärtsstoßen des Fußes eine den Weg kreuzende Ratte
niedertreten, stieß sie aber bloß schneller in das Loch hinein, das
sie noch rechtzeitig erreicht hatte. Er war überhaupt langsam in
seinen Bewegungen, denn wenn er auch lange Beine hatte, so waren sie
doch zu schwer.
Sie
kamen durch eine Abteilung der Küche, wo einige Mädchen in
schmutzigen Schürzen — sie begossen sie absichtlich — Geschirr
in großen Bottichen reinigten. Der Heizer rief eine gewisse Line zu
sich, legte den Arm um ihre Hüfte und führte sie, die sich immerzu
kokett gegen seinen Arm drückte, ein Stückchen mit. "Es gibt
jetzt Auszahlung, willst du mit?" fragte er. "Warum soll
ich mich bemühen, bring mir das Geld lieber mit", antwortete
sie, schlüpfte unter dem Arm durch und lief davon. "Wo hast du
denn den schönen Knaben aufgegabelt", rief sie noch, wollte
aber keine Antwort mehr. Man hörte das Lachen aller Mädchen, die
ihre Arbeit unterbrochen hatten.
Sie
gingen aber weiter und kamen an eine Türe, die oben einen kleinen
Vorgiebel hatte, der von kleinen vergoldeten Karyatiden getragen war.
Für eine Schiffseinrichtung sah das recht verschwenderisch aus.
Josie war, wie er merkte, niemals in diese Gegend gekommen, die
wahrscheinlich während der Fahrt den Passagieren der ersten und
zweiten Klasse vorbehalten war, während jetzt vor der großen
Schiffsreinigung die Trennungstüren ausgehoben waren. Sie waren auch
tatsächlich einigen Männern schon begegnet, die Besen an der
Schulter trugen und den Heizer gegrüßt hatten. Josie staunte über
den großen Betrieb, in seinem Zwischendeck hatte er davon freilich
wenig erfahren. Entlang der Gänge zogen sich auch Drähte
elektrischer Leitungen und eine kleine Glocke hörte man immerfort.
Der
Heizer klopfte respektvoll an der Türe an und forderte, als man
"Herein" rief, Josie mit einer Handbewegung auf, ohne
Furcht einzutreten. Er trat auch ein, aber blieb an der Türe stehen.
Vor den drei Fenstern des Zimmers sah er die Wellen des Meeres und
bei Betrachtung ihrer fröhlichen Bewegung schlug ihm das Herz, als
hätte er nicht fünf lange Tage das Meer ununterbrochen gesehn.
Große Schiffe kreuzten gegenseitig ihre Wege und gaben dem
Wellenschlag nur so weit nach, als es ihre Schwere erlaubte. Wenn man
die Augen klein machte, schienen diese Schiffe vor lauter Schwere zu
schwanken. Auf ihren Masten trugen sie schmale aber lange Flaggen,
die zwar durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem aber noch hin und
her zappelten. Wahrscheinlich von Kriegsschiffen her erklangen
Salutschüsse, die Kanonenrohre eines solchen nicht allzu weit
vorüber fahrenden Schiffes, strahlend mit dem Reflex ihres
Stahlmantels, waren wie gehätschelt von der sichern, glatten und
doch nicht waagerechten Fahrt. Die kleinen Schiffchen und Boote
konnte man wenigstens von der Tür aus nur in der Ferne beobachten,
wie sie in Mengen in die Öffnungen zwischen den großen Schiffen
einliefen. Hinter alledem aber stand New York und sah Josie mit den
hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer an. Ja, in diesem Zimmer
wusste man, wo man war.
An
einem runden Tisch saßen drei Herren, der eine ein Schiffsoffizier
in blauer Schiffsuniform, die zwei andern, Beamte der Hafenbehörde,
in schwarzen amerikanischen Uniformen. Auf dem Tisch lagen hoch
aufgeschichtet verschiedene Dokumente, welche der Offizier zuerst mit
der Feder in der Hand überflog, um sie dann den beiden andern zu
reichen, die bald lasen, bald exzerpierten, bald in ihre Aktentaschen
einlegten, wenn nicht gerade der eine, der fast ununterbrochen ein
kleines Geräusch mit den Zähnen vollführte, seinem Kollegen etwas
in ein Protokoll diktierte.
Am
Fenster saß an einem Schreibtisch, den Rücken der Türe zugewendet,
ein kleinerer Herr, der mit großen Folianten hantierte, die auf
einem starken Bücherbrett in Kopfhöhe vor ihm nebeneinander gereiht
waren. Neben ihm stand eine offene, wenigstens auf den ersten Blick
leere Kasse.
Das
zweite Fenster war leer und gab den besten Ausblick. In der Nähe des
dritten aber standen zwei Herren in halblautem Gespräch. Der eine
lehnte neben dem Fenster, trug auch die Schiffsuniform und spielte
mit dem Griff des Degens. Derjenige, mit dem er sprach, war dem
Fenster zugewendet und enthüllte hier und da durch eine Bewegung
einen Teil der Ordensreihe auf der Brust des andern. Er war in Zivil
und hatte ein dünnes Bambusstöckchen, das, da er beide Hände an
den Hüften festhielt, auch wie ein Degen abstand.
Josie
hatte nicht viel Zeit alles anzusehn, denn bald trat ein Diener auf
sie zu und fragte den Heizer mit einem Blick, als gehöre er nicht
hierher, was er denn wolle. Der Heizer antwortete so leise als er
gefragt wurde, er wolle mit dem Herrn Oberkassierer reden. Der Diener
lehnte für seinen Teil mit einer Handbewegung diese Bitte ab, ging
aber dennoch auf den Fußspitzen, dem runden Tisch im großen Bogen
ausweichend, zu dem Herrn mit den Folianten. Dieser Herr, das sah man
deutlich, erstarrte geradezu unter den Worten des Dieners, sah sich
aber endlich nach dem Manne um, der ihn zu sprechen wünschte,
fuchtelte dann streng abwehrend gegen den Heizer und der Sicherheit
halber auch gegen den Diener hin. Der Diener kehrte daraufhin zum
Heizer zurück und sagte in einem Tone, als vertraue er ihm etwas an:
"Scheren Sie sich sofort aus dem Zimmer!"
Der
Heizer sah nach dieser Antwort zu Josie hinunter, als sei dieser sein
Herz, dem er stumm seinen Jammer klage. Ohne weitere Besinnung machte
sich Josie los, lief quer durchs Zimmer, dass er sogar leicht an den
Sessel des Offiziers streifte; der Diener lief gebeugt, mit zum
Umfangen bereiten Armen, als jage er ein Ungeziefer, aber Josie war
der erste beim Tisch des Oberkassierers, wo er sich festhielt, für
den Fall, dass der Diener versuchen sollte ihn fortzuziehen.
Natürlich
wurde gleich das ganze Zimmer lebendig. Der Schiffsoffizier am Tisch
war aufgesprungen, die Herren von der Hafenbehörde sahen ruhig aber
aufmerksam zu, die beiden Herren am Fenster waren nebeneinander
getreten, der Diener, der glaubte, er sei dort, wo schon die hohen
Herren Interesse zeigten, nicht mehr am Platze, trat zurück. Der
Heizer an der Türe wartete angespannt auf den Augenblick, bis seine
Hilfe nötig würde. Der Oberkassierer endlich machte in seinem
Lehnsessel eine große Rechtswendung.
Josie
kramte aus seiner Geheimtasche, die er den Blicken dieser Leute zu
zeigen keine Bedenken hatte, seinen Reisepass hervor, den er statt
weiterer Vorstellung geöffnet auf den Tisch legte. Der Oberkassierer
schien diesen Pass für nebensächlich zu halten, denn er schnippte
ihn mit zwei Fingern beiseite, worauf Josie, als sei diese Formalität
zur Zufriedenheit erledigt, den Pass wieder einsteckte. "Ich
erlaube mir zu sagen", begann er dann, "dass meiner Meinung
nach dem Herrn Heizer Unrecht geschehen ist. Es ist hier ein gewisser
Schubal, der ihm aufsitzt. Er selbst hat schon auf vielen Schiffen,
die er Ihnen alle nennen kann, zur vollständigen Zufriedenheit
gedient, ist fleißig, meint es mit seiner Arbeit gut und es ist
wirklich nicht einzusehn, warum er gerade auf diesem Schiff, wo doch
der Dienst nicht so übermäßig schwer ist, wie z.B. auf
Handelsseglern, dem schlecht entsprechen sollte. Es kann daher nur
Verleumdung sein, die ihn in seinem Vorwärtskommen hindert und ihn
um die Anerkennung bringt, die ihm sonst ganz bestimmt nicht fehlen
würde. Ich habe nur das Allgemeine über diese Sache gesagt, seine
besonderen Beschwerden wird er Ihnen selbst vorbringen." Josie
hatte sich mit dieser Sache an alle Herren gewendet, weil ja
tatsächlich auch alle zuhörten und es viel wahrscheinlicher schien,
dass sich unter allen zusammen ein Gerechter vorfand, als dass dieser
Gerechte gerade der Oberkassierer sein sollte. Aus Schlauheit hatte
außerdem Josie verschwiegen, dass er den Heizer erst so kurze Zeit
kannte. Im Übrigen hätte er noch viel besser gesprochen, wenn er
nicht durch das rote Gesicht des Herrn mit dem Bambusstöckchen
beirrt worden wäre, den er von seinem jetzigen Standort überhaupt
zum ersten Mal erblickte.
"Es
ist alles Wort für Wort richtig", sagte der Heizer, ehe ihn
noch jemand gefragt, ja, ehe man noch überhaupt auf ihn hingesehen
hatte. Diese Übereiltheit des Heizers wäre ein großer Fehler
gewesen, wenn nicht der Herr mit den Orden, der wie es jetzt Josie
aufleuchtete, jedenfalls der Kapitän war, offenbar mit sich bereits
übereingekommen wäre, den Heizer anzuhören. Er streckte nämlich
die Hand aus und rief zum Heizer: "Kommen Sie her!" Mit
einer Stimme, fest, um mit einem Hammer darauf zu schlagen. Jetzt
hing alles vom Benehmen des Heizers ab, denn was die Gerechtigkeit
seiner Sache anbelangte, an der zweifelte Josie nicht.
Glücklicherweise
zeigte sich bei dieser Gelegenheit, dass der Heizer schon viel in der
Welt herum gekommen war. Musterhaft ruhig nahm er aus seinem
Köfferchen mit dem ersten Griff ein Bündelchen Papiere sowie ein
Notizbuch, ging damit, als verstünde sich das von selbst, unter
vollständiger Vernachlässigung des Oberkassierers zum Kapitän und
breitete auf dem Fensterbrett seine Beweismittel aus. Dem
Oberkassierer blieb nichts übrig, als sich selbst hin zu bemühen.
"Der Mann ist ein bekannter Querulant", sagte er zur
Erklärung, "er ist mehr in der Kasse als im Maschinenraum. Er
hat Schubal, diesen ruhigen Menschen, ganz zur Verzweiflung gebracht.
Hören Sie einmal!" wandte er sich an den Heizer, "Sie
treiben ihre Zudringlichkeit doch schon wirklich zu weit. Wie oft hat
man Sie schon aus den Auszahlungsräumen heraus geworfen, wie Sie es
mit ihren ganz, vollständig und ausnahmslos unberechtigten
Forderungen verdienen! Wie oft sind Sie von dort hierher in die
Hauptkasse gelaufen gekommen! Wie oft hat man Ihnen im Guten gesagt,
dass Schubal Ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist, mit dem allein Sie
sich als sein Untergebener abzufinden haben! Und jetzt kommen Sie gar
noch her, wenn der Herr Kapitän da ist, schämen sich nicht, sogar
ihn zu belästigen, sondern entblöden sich nicht, als eingelernten
Stimmführer ihrer abgeschmackten Beschuldigungen diesen Kleinen
mitzubringen, den ich überhaupt zum ersten Mal auf dem Schiffe
sehe."
Josie
hielt sich mit Gewalt zurück vor zu springen. Aber da war auch schon
der Kapitän da, welcher sagte: "Hören wir den Mann doch einmal
an. Der Schubal wird mir sowieso mit der Zeit viel zu selbstständig,
womit ich aber nichts zu Ihren Gunsten gesagt haben will." Das
letztere galt dem Heizer, es war nur natürlich, dass er sich nicht
sofort für ihn einsetzen konnte, aber alles schien auf dem richtigen
Weg. Der Heizer begann seine Erklärungen und überwand sich gleich
am Anfang, indem er den Schubal mit Herr titulierte. Wie freute sich
Josie am verlassenen Schreibtisch des Oberkassierers, wo er eine
Briefwaage immer wieder nieder drückte, vor lauter Vergnügen. Herr
Schubal ist ungerecht. Herr Schubal bevorzugt die Ausländer. Herr
Schubal verwies den Heizer aus dem Maschinenraum und ließ ihn
Klosette reinigen, was doch gewiss nicht des Heizers Sache war.
Einmal wurde sogar die Tüchtigkeit des Herrn Schubal angezweifelt,
die eher scheinbar, als wirklich vorhanden sein sollte. Bei dieser
Stelle starrte Josie mit aller Kraft den Kapitän an, zu tunlich, als
sei er sein Kollege, nur damit er sich durch die etwas ungeschickte
Ausdrucksweise des Heizers nicht zu seinen Ungunsten beeinflussen
lasse. Immerhin erfuhr man aus den vielen Reden nichts Eigentliches
und wenn auch der Kapitän noch immer vor sich hinsah, in den Augen
die Entschlossenheit den Heizer diesmal bis zu Ende anzuhören, so
wurden doch die anderen Herren ungeduldig und die Stimme des Heizers
regierte bald nicht mehr unumschränkt in dem Raum, was manches
befürchten ließ. Als Erster setzte der Herr in Zivil sein
Bambusstöckchen in Tätigkeit und klopfte, wenn auch nur leise auf
das Parkett. Die anderen Herren sahen natürlich hier und da hin, die
Herren von der Hafenbehörde, die offenbar pressiert waren, griffen
wieder zu den Akten und begannen, wenn auch noch etwas
geistesabwesend, sie durchzusehn, der Schiffsoffizier rückte seinem
Tische wieder näher und der Oberkassierer, der gewonnenes Spiel zu
haben glaubte, seufzte aus Ironie tief auf. Von der allgemein
eintretenden Zerstreuung schien nur der Diener bewahrt, der von den
Leiden des unter die Großen gestellten armen Mannes einen Teil
mitfühlte und Josie ernst zunickte, als wolle er damit etwas
erklären.
Inzwischen
ging vor den Fenstern das Hafenleben weiter, ein flaches Lastschiff
mit einem Berg von Fässern, die wunderbar verstaut sein mussten,
dass sie nicht ins Rollen kamen, zog vorüber und erzeugte in dem
Zimmer fast Dunkelheit, kleine Motorboote, die Josie jetzt, wenn er
Zeit gehabt hätte, genau hätte ansehen können, rauschten nach den
Zuckungen der Hände eines am Steuer aufrecht stehenden Mannes
schnurgerade dahin, eigentümliche Schwimmkörper tauchten hier und
da selbstständig aus dem ruhelosen Wasser, wurden gleich wieder
überschwemmt und versanken vor dem erstaunten Blick, Boote der
Ozeandampfer wurden von heiß arbeitenden Matrosen vorwärts gerudert
und waren voll von Passagieren, die darin, so wie man sie hinein
gezwängt hatte, still und erwartungsvoll saßen, wenn es auch manche
nicht unterlassen konnten, die Köpfe nach den wechselnden Szenerien
zu drehen. Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen von dem
unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke.
Aber
alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung,
aber was tat der Heizer? Er redete sich allerdings in Schweiß, die
Papiere auf dem Fenster konnte er längst mit seinen zitternden
Händen nicht mehr halten, aus allen Himmelsrichtungen strömten ihm
Klagen über Schubal zu, von denen seiner Meinung nach jede Einzelne
genügt hätte, diesen Schubal vollständig zu begraben, aber was er
dem Kapitän vorzeigen konnte, war nur ein trauriges
Durcheinanderstrudeln aller insgesamt. Längst schon pfiff der Herr
mit dem Bambusstöckchen schwach zur Decke hinauf, die Herren von der
Hafenbehörde hielten schon den Offizier an ihrem Tisch und machten
keine Miene ihn wieder los zu lassen, der Oberkassierer wurde
sichtlich nur durch die Ruhe des Kapitäns vor dem Dreinfahren
zurückgehalten, wonach es ihn juckte. Der Diener erwartete in
Habachtstellung jeden Augenblick einen auf den Heizer bezüglichen
Befehl seines Kapitäns.
Da
konnte Josie nicht mehr untätig bleiben. Er ging also langsam zu der
Gruppe hin und überlegte im Gehen nur desto schneller, wie er die
Sache möglichst geschickt angreifen könnte. Es war wirklich höchste
Zeit, noch ein kleines Weilchen nur und sie konnten ganz gut beide
aus dem Büro fliegen. Der Kapitän mochte ja ein guter Mann sein und
überdies gerade jetzt, wie es Josie schien, einen besondern Grund
haben, sich als gerechter Vorgesetzter zu zeigen, aber schließlich
war er kein Instrument, das man in Grund und Boden spielen konnte —
und gerade so behandelte ihn der Heizer, allerdings aus seinem
grenzenlos empörten Inneren heraus.
Josie
sagte also zum Heizer: "Sie müssen das einfacher erzählen,
klarer, der Herr Kapitän kann das nicht würdigen, so wie Sie es ihm
erzählen. Kennt er denn alle Maschinisten und Laufburschen bei Namen
oder gar beim Taufnamen, dass er, wenn Sie nur einen solchen Namen
aussprechen, gleich wissen kann, um wen es sich handelt. Ordnen Sie
doch ihre Beschwerden, sagen Sie die wichtigste zuerst und absteigend
die andern, vielleicht wird es dann überhaupt nicht mehr nötig
sein, die meisten auch nur zu erwähnen. Mir haben Sie es doch immer
so klar dargestellt." Wenn man in Amerika Koffer stehlen kann,
kann man auch hier und da lügen, dachte er zur Entschuldigung.
Wenn
es aber nur geholfen hätte! Ob es nicht auch schon zu spät war? Der
Heizer unterbrach sich zwar sofort, als er die bekannte Stimme hörte,
aber mit seinen Augen, die ganz von Tränen, der beleidigten
Mannesehre, der schrecklichen Erinnerungen, der äußersten
gegenwärtigen Not verdeckt waren, konnte er Josie schon nicht einmal
mehr gut erkennen. Wie sollte er auch jetzt, Josie sah das schweigend
vor dem jetzt Schweigenden wohl ein, wie sollte er auch jetzt
plötzlich seine Redeweise ändern, da es ihm doch schien, als hätte
er alles, was zu sagen war, ohne die geringste Anerkennung schon
vorgebracht und als habe er andererseits noch gar nichts gesagt und
könne doch den Herren jetzt nicht zumuten, noch alles anzuhören.
Und in einem solchen Zeitpunkt kommt noch Josie, sein einziger
Anhänger, daher, will ihm gute Lehren geben, zeigt ihm aber statt
dessen, dass alles, alles verloren ist.
Wäre
ich früher gekommen, statt aus dem Fenster zu schauen, sagte sich
Josie, senkte vor dem Heizer das Gesicht und schlug die Hände an die
Hosennaht zum Zeichen des Endes jeder Hoffnung.
Aber
der Heizer missverstand das, witterte wohl in Josie irgendwelche
geheimen Vorwürfe gegen sich und in der guten Absicht, sie ihm
auszureden, fing er zur Krönung seiner Taten mit Josie jetzt zu
streiten an. Jetzt, wo doch die Herren am runden Tisch längst empört
über den nutzlosen Lärm waren, der ihre wichtigen Arbeiten störte,
wo der Hauptkassierer allmählich die Geduld des Kapitäns
unverständlich fand und zum sofortigen Ausbruch neigte, wo der
Diener ganz wieder in der Sphäre seiner Herren den Heizer mit wildem
Blicke maß und wo endlich der Herr mit dem Bambusstöckchen, zu
welchem sogar der Kapitän hier und da freundschaftlich hinüber sah,
schon gänzlich abgestumpft gegen den Heizer, ja von ihm angewidert,
ein kleines Notizbuch hervor zog und offenbar mit ganz andern
Angelegenheiten beschäftigt die Augen zwischen dem Notizbuch und
Josie hin und her wandern ließ.
"Ich
weiß ja, ich weiß ja", sagte Josie, der Mühe hatte, den jetzt
gegen ihn gekehrten Schwall des Heizers abzuwehren, trotzdem aber
quer durch allen Streit noch ein Freundeslächeln für ihn übrig
hatte. "Sie haben Recht, Recht, ich habe ja nie daran
gezweifelt." Er hätte ihm gern die herum fahrenden Hände aus
Furcht vor Schlägen gehalten, noch lieber allerdings ihn in einen
Winkel gedrängt, um ihm ein paar leise, beruhigende Worte
zuzuflüstern, die niemand sonst hätte hören müssen. Aber der
Heizer war außer Rand und Band. Josie begann jetzt schon sogar aus
dem Gedanken eine Art Trost zu schöpfen, dass der Heizer im Notfall
mit der Kraft seiner Verzweiflung alle anwesenden sieben Männer
bezwingen könne. Allerdings lag auf dem Schreibtisch, wie ein Blick
dorthin lehrte, ein Aufsatz mit viel zu vielen Druckknöpfen der
elektrischen Leitung und eine Hand, einfach auf sie niedergedrückt,
konnte das ganze Schiff mit allen seinen von feindlichen Menschen
gefüllten Gängen rebellisch machen.
Da
trat der doch so uninteressierte Herr mit dem Bambusstöckchen auf
Josie zu und fragte nicht überlaut, aber deutlich über allem
Geschrei des Heizers: "Wie heißen Sie denn eigentlich?" In
diesem Augenblick, als hätte jemand hinter der Tür auf diese
Äußerung des Herrn gewartet, klopfte es. Der Diener sah zum Kapitän
hinüber, dieser nickte. Daher ging der Diener zur Tür und öffnete
sie. Draußen stand in einem alten Kaiserrock ein Mann von mittleren
Proportionen, seinem Aussehen nach nicht eigentlich zur Arbeit an den
Maschinen geeignet und war doch — Schubal. Wenn es Josie nicht an
aller Augen erkannt hätte, die eine gewisse Befriedigung
ausdrückten, von der nicht einmal der Kapitän frei war, er hätte
es zu seinem Schrecken am Heizer sehen müssen, der die Fäuste an
den gestrafften Armen so ballte, als sei diese Ballung das Wichtigste
an ihm, dem er alles, was er an Leben habe, zu opfern bereit sei. Da
steckte jetzt alle seine Kraft, auch die, welche ihn überhaupt
aufrecht erhielt.
Und
da war also der Feind frei und frisch im Festanzug, unter dem Arm ein
Geschäftsbuch, wahrscheinlich die Lohnlisten und Arbeitsausweise des
Heizers, und sah, mit dem ungescheuten Zugeständnis, dass er die
Stimmung jedes einzelnen vor allem feststellen wolle, in aller Augen
der Reihe nach. Die sieben waren auch schon alle seine Freunde, denn
wenn auch der Kapitän früher gewisse Einwände gegen ihn gehabt
oder vielleicht auch nur vorgeschützt hatte, nach dem Leid, das ihm
der Heizer angetan hatte, schien ihm wahrscheinlich an Schubal auch
das Geringste nicht mehr auszusetzen. Gegen einen Mann wie den Heizer
konnte man nicht streng genug verfahren und wenn dem Schubal etwas
vorzuwerfen war, so war es der Umstand, dass er die Widerspenstigkeit
des Heizers im Laufe der Zeiten nicht so weit hatte brechen können,
dass es dieser heute noch gewagt hatte, vor dem Kapitän zu
erscheinen.
Nun
konnte man ja vielleicht noch annehmen, die Gegenüberstellung des
Heizers und Schubals werde die ihr vor einem höheren Forum
zukommende Wirkung auch vor den Menschen nicht verfehlen, denn wenn
sich auch Schubal gut verstellen konnte, er musste es doch durchaus
nicht bis zum Ende aushalten können. Ein kurzes Aufblitzen seiner
Schlechtigkeit sollte genügen, um sie den Herren sichtbar zu machen,
dafür wollte Josie schon sorgen. Er kannte doch schon beiläufig den
Scharfsinn, die Schwächen, die Launen der einzelnen Herren und unter
diesem Gesichtspunkt war die bisher hier verbrachte Zeit nicht
verloren. Wenn nur der Heizer besser auf dem Platze gewesen wäre,
aber der schien vollständig kampfunfähig. Wenn man ihm den Schubal
hingehalten hätte, hätte er wohl dessen gehassten Schädel mit den
Fäusten aufklopfen können, wie eine dünnschalige Nuss. Aber schon
die paar Schritte zu ihm hinzugehn, war er wohl kaum im Stande. Warum
hatte denn Josie das so leicht Vorauszusehende nicht vorausgesehen,
dass Schubal endlich kommen müsse, wenn nicht aus eigenem Antrieb,
so vom Kapitän gerufen. Warum hatte er auf dem Herweg mit dem Heizer
nicht einen genauen Kriegsplan besprochen, statt wie sie es in
Wirklichkeit getan hatten, heillos unvorbereitet einfach dort
einzutreten, wo eine Türe war? Konnte der Heizer überhaupt noch
reden, Ja und Nein sagen, wie es bei dem Kreuzverhör, das allerdings
nur im günstigsten Fall bevorstand, nötig sein würde. Er stand da,
die Beine auseinander gestellt, die Knie ein wenig gebogen, den Kopf
etwas gehoben und die Luft verkehrte durch den offenen Mund, als gebe
es innen keine Lungen mehr, die sie verarbeiteten.
Josie
allerdings fühlte sich so kräftig und bei Verstand, wie er es
vielleicht zu Hause niemals gewesen war. Wenn ihn doch seine Eltern
sehen könnten, wie er im fremden Land vor angesehenen
Persönlichkeiten das Gute verfocht und wenn er es auch noch nicht
zum Siege gebracht hatte, so doch zur letzten Eroberung sich
vollkommen bereit stellte. Würden sie ihre Meinung über ihn
revidieren? Ihn zwischen sich niedersetzen und loben? Ihm einmal in
die ihnen so ergebenen Augen sehn? Unsichere Fragen und
ungeeignetester Augenblick sie zu stellen!
"Ich
komme, weil ich glaube, dass mich der Heizer irgendwelcher
Unredlichkeiten beschuldigt. Ein Mädchen aus der Küche sagte mir,
sie hätte ihn auf dem Wege hierher gesehen. Herr Kapitän und Sie
alle meine Herren, ich bin bereit, jede Beschuldigung an der Hand
meiner Schriften, nötigenfalls durch Aussagen unvoreingenommener und
unbeeinflusster Zeugen, die vor der Türe stehn, zu widerlegen."
So sprach Schubal. Das war allerdings die klare Rede eines Mannes,
und nach der Veränderung in den Mienen der Zuhörer hätte man
glauben können, sie hörten zum ersten Mal nach langer Zeit wieder
menschliche Laute. Sie bemerkten freilich nicht, dass selbst diese
schöne Rede Löcher hatte. Warum war das erste sachliche Wort, das
ihm einfiel, "Unredlichkeiten"? Hätte vielleicht die
Beschuldigung hier einsetzen müssen, statt bei seinen nationalen
Voreingenommenheiten? Ein Mädchen aus der Küche hatte den Heizer
auf dem Weg ins Büro gesehen und Schubal hatte sofort begriffen? War
es nicht das Schuldbewusstsein, das ihm den Verstand schärfte? Und
Zeugen hatte er gleich mitgebracht und nannte sie noch außerdem
unvoreingenommen und unbeeinflusst? Gaunerei, nichts als Gaunerei,
und die Herren duldeten das und anerkannten es noch als richtiges
Benehmen? Warum hatte er zweifellos sehr viel Zeit zwischen der
Meldung des Küchenmädchens und seiner Ankunft hier verstreichen
lassen, doch zu keinem andern Zwecke, als damit der Heizer die Herren
so ermüde, dass sie allmählich ihre klare Urteilskraft verloren
hätten, welche Schubal vor allem zu fürchten hatte? Hatte er, der
sicher schon lange hinter der Tür gestanden war, nicht erst in dem
Augenblick geklopft, als er infolge der nebensächlichen Frage jenes
Herren hoffen durfte, der Heizer sei erledigt?
Alles
war klar und wurde ja auch von Schubal wider Willen so dargeboten,
aber den Herren musste man es anders, noch handgreiflicher sagen. Sie
brauchten Aufrüttelung. Also Josie, rasch, nütze jetzt wenigstens
die Zeit aus, ehe die Zeugen auftreten und alles überschwemmen.
Eben
aber winkte der Kapitän dem Schubal ab, der daraufhin sofort —
denn seine Angelegenheit schien für ein Weilchen verschoben worden
zu sein — beiseite trat und mit dem Diener, der sich ihm gleich
angeschlossen hatte, eine leise Unterhaltung begann, bei der es an
Seitenblicken nach dem Heizer und Josie sowie an den überzeugtesten
Handbewegungen nicht fehlte. Schubal schien so seine nächste große
Rede einzuüben.
"Wollten
Sie nicht den jungen Mann hier etwas fragen, Herr Jakob?" sagte
der Kapitän unter allgemeiner Stille zu dem Herrn mit dem
Bambusstöckchen.
"Allerdings",
sagte dieser mit einer kleinen Neigung für die Aufmerksamkeit
dankend. Und fragte dann Josie nochmals: "Wie heißen Sie
eigentlich?"
Josie,
welcher glaubte, es sei im Interesse der großen Hauptsache gelegen,
wenn dieser Zwischenfall des hartnäckigen Fragers bald erledigt
würde, antwortete kurz, ohne wie es seine Gewohnheit war, durch
Vorlage des Passes sich vorzustellen, den er erst hätte suchen
müssen: "Josie Rossmann."
"Aber",
sagte der mit Jakob Angesprochene und trat zuerst fast ungläubig
lächelnd zurück. Auch der Kapitän, der Oberkassierer, der
Schiffsoffizier, ja sogar der Diener zeigten deutlich ein übermäßiges
Erstaunen wegen Josies Namen. Nur die Herren von der Hafenbehörde
und Schubal verhielten sich gleichgültig.
"Aber",
wiederholte der Herr Jakob und trat mit etwas steifen Schritten auf
Josie zu, "dann bin ich ja dein Onkel Jakob und du bist mein
lieber Neffe. Ahnte ich es doch die ganze Zeit über", sagte er
zum Kapitän hin, ehe er Josie umarmte und küsste, der alles stumm
geschehen ließ.
"Wie
heißen Sie?" fragte Josie, nachdem er sich losgelassen fühlte,
zwar sehr höflich, aber gänzlich ungerührt, und strengte sich an,
die Folgen abzusehen, welche dieses neue Ereignis für den Heizer
haben könne. Vorläufig deutete nichts daraufhin, dass Schubal aus
dieser Sache Nutzen ziehen könnte. "Begreifen Sie doch, junger
Mann, ihr Glück", sagte der Kapitän, der durch die Frage die
Würde der Person des Herrn Jakob verletzt glaubte, der sich zum
Fenster gestellt hatte, offenbar um sein aufgeregtes Gesicht, das er
überdies mit einem Taschentuch betupfte, den andern nicht zeigen zu
müssen. "Es ist der Staatsrat Edward Jakob, der sich Ihnen als
ihr Onkel zu erkennen gegeben hat. Es erwartet Sie nunmehr, doch wohl
ganz gegen ihre bisherigen Erwartungen, eine glänzende Laufbahn.
Versuchen Sie das einzusehen, so gut es im ersten Augenblick geht und
fassen Sie sich."
"Ich
habe allerdings einen Onkel Jakob in Amerika", sagte Josie zum
Kapitän gewendet, "aber wenn ich recht verstanden habe, lautet
bloß der Zuname des Herrn Staatsrat Jakob."
"So
ist es", sagte der Kapitän erwartungsvoll.
"Nun,
mein Onkel Jakob, welcher der Bruder meiner Mutter ist, heißt aber
mit dem Taufnamen Jakob, während sein Zuname natürlich gleich jenem
meiner Mutter lauten müsste, welche eine geborene Bendelmayer ist."
"Meine
Herren!" rief der Staatsrat, der von seinem Erholungsposten beim
Fenster munter zurückkehrte, mit Bezug auf Josies Erklärung, aus.
Alle mit Ausnahme der Hafenbeamten brachen in Lachen aus, manche wie
in Rührung, manche undurchdringlich.
"So
lächerlich war das, was ich gesagt habe, doch keineswegs",
dachte Josie.
"Meine
Herren", wiederholte der Staatsrat, "Sie nehmen gegen
meinen und gegen ihren Willen an einer kleinen Familienszene teil und
ich kann deshalb nicht umhin, Ihnen eine Erläuterung zu geben, da
wie ich glaube nur der Herr Kapitän", diese Erwähnung hatte
eine gegenseitige Verbeugung zur Folge, "vollständig
unterrichtet ist."
Jetzt
muss ich aber wirklich auf jedes Wort Acht geben, sagte sich Josie
und freute sich, als er bei einem Seitwärtsschauen bemerkte, dass in
die Figur des Heizers das Leben zurückzukehren begann.
"Ich
lebe seit allen den langen Jahren meines amerikanischen Aufenthaltes
— das Wort Aufenthalt passt hier allerdings schlecht, für den
amerikanischen Bürger, der ich mit ganzer Seele bin — seit allen
den langen Jahren lebe ich also von meinen europäischen Verwandten
vollständig abgetrennt, aus Gründen, die erstens nicht hierher
gehören und die zweitens zu erzählen mich wirklich zu sehr
hernehmen würde. Ich fürchte mich sogar vor dem Augenblick, wo ich
gezwungen sein werde, sie meinem lieben Neffen zu erzählen, wobei
sich leider ein offenes Wort über seine Eltern und ihren Anhang
nicht vermeiden lassen wird."
"Er
ist mein Onkel, kein Zweifel", sagte sich Josie und lauschte.
"Wahrscheinlich hat er seinen Namen ändern lassen."
"Mein
lieber Neffe ist nun von seinen Eltern — sagen wir nur das Wort,
das die Sache auch wirklich bezeichnet — einfach beiseite geschafft
worden, wie man eine Katze vor die Tür wirft, wenn sie ärgert. Ich
will durchaus nicht beschönigen, was mein Neffe gemacht hat, dass er
so gestraft wurde — Beschönigen ist nicht amerikanische Art —
aber sein Verschulden ist von der Art, dass dessen einfaches Nennen
schon genug Entschuldigung enthält."
"Das
lässt sich hören", dachte Josie, "aber ich will nicht,
dass er es allen erzählt. Übrigens kann er es ja auch nicht wissen.
Woher denn? Aber wir werden sehen, er wird schon alles wissen."
"Er
wurde nämlich", fuhr der Onkel fort und stützte sich mit
kleinen Neigungen auf das vor ihm eingestemmte Bambusstöckchen,
wodurch es ihm tatsächlich gelang, der Sache einen Teil der
unnötigen Feierlichkeit zu nehmen, die sie sonst unbedingt gehabt
hätte — "er wurde nämlich von einem Dienstmädchen Johanna
Brummer, einer etwa fünfunddreißig-jährigen Person, verführt. Ich
will mit dem Worte verführt meinen Neffen durchaus nicht kränken,
aber es ist doch schwer, ein anderes, gleich passendes Wort zu
finden."
Josie,
der schon ziemlich nahe zum Onkel getreten war, drehte sich hier um,
um den Eindruck der Erzählung von den Gesichtern der Anwesenden
abzulesen. Keiner lachte, alle hörten geduldig und ernsthaft zu.
Schließlich lacht man auch nicht über den Neffen eines Staatsrates,
bei der ersten Gelegenheit, die sich darbietet. Eher hätte man schon
sagen können, dass der Heizer, wenn auch nur ganz wenig, Josie
anlächelte, was aber erstens als neues Lebenszeichen erfreulich und
zweitens entschuldbar war, da ja Josie in der Kabine aus dieser
Sache, die jetzt so publik wurde, ein besonderes Geheimnis hatte
machen wollen.
"Nun
hat diese Brummer", setzte der Onkel fort, "von meinem
Neffen ein Kind bekommen, einen gesunden Jungen, welcher in der Taufe
den Namen Jakob erhielt, zweifellos in Gedanken an meine Wenigkeit,
welche selbst in den sicher nur ganz nebensächlichen Erwähnungen
meines Neffen auf das Mädchen einen großen Eindruck gemacht haben
muss. Glücklicherweise, sage ich. Denn da die Eltern zur Vermeidung
der Alimentenzahlung oder sonstigen bis an sie selbst heran
reichenden Skandales — ich kenne, wie ich betonen muss, weder die
dortigen Gesetze noch die sonstigen Verhältnisse der Eltern, sondern
weiß nur von zwei Bettelbriefen der Eltern aus früherer Zeit, die
ich zwar unbeantwortet gelassen, aber aufgehoben habe, und welche
meine einzige und überdies einseitige briefliche Verbindung mit
ihnen in der ganzen Zeit bedeuten — da also die Eltern zur
Vermeidung der Alimentenzahlung und des Skandales ihren Sohn, meinen
lieben Neffen, nach Amerika haben transportieren lassen, mit
unverantwortlich ungenügender Ausrüstung, wie man sieht — wäre
der Junge, wenn man von den gerade noch in Amerika lebendigen Zeichen
und Wundern absieht, auf sich allein angewiesen, wohl schon gleich in
einem Gässchen im Hafen von New York verkommen, wenn nicht jenes
Dienstmädchen in einem an mich gerichteten Brief, der nach langen
Irrfahrten vorgestern in meinen Besitz kam, mir die ganze Geschichte,
samt Personenbeschreibung meines Neffen und vernünftigerweise auch
Namensnennung des Schiffes, mitgeteilt hätte. Wenn ich es darauf
angelegt hätte, Sie, meine Herren, zu unterhalten, könnte ich wohl
einige Stellen jenes Briefes" — er zog zwei riesige, eng
beschriebene Briefbogen aus der Tasche und schwenkte sie — "hier
vorlesen. Er würde sicher Wirkung machen, da er mit einer etwas
einfachen, wenn auch immer gut gemeinten Schlauheit, und mit viel
Liebe zu dem Vater ihres Kindes geschrieben ist. Aber ich will weder
Sie mehr unterhalten, als es zur Aufklärung nötig ist, noch
vielleicht gar zum Empfang möglicherweise noch bestehende Gefühle
meines Neffen verletzen, der den Brief, wenn er mag, in der Stille
seines ihn schon erwartenden Zimmers zur Belehrung lesen kann."
Josie hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen. Im Gedränge
einer immer mehr zurückgestoßenen Vergangenheit saß sie in ihrer
Küche neben dem Küchenschrank, auf dessen Platte sie ihren Ellbogen
stützte. Sie sah ihn an, wenn er hin und wieder in die Küche kam,
um ein Glas zum Wasser trinken für seinen Vater zu holen oder einen
Auftrag seiner Mutter auszurichten. Manchmal schrieb sie in der
vertrackten Stellung seitlich vom Küchenschrank einen Brief und
holte sich die Eingebungen von Josies Gesicht. Manchmal hielt sie die
Augen mit der Hand verdeckt, dann drang keine Anrede zu ihr. Manchmal
kniete sie in ihrem engen Zimmerchen neben der Küche und betete zu
einem hölzernen Kreuz, Josie beobachtete sie dann nur mit Scheu, im
Vorübergehn, durch die Spalte der ein wenig geöffneten Tür.
Manchmal jagte sie in der Küche herum und fuhr wie eine Hexe lachend
zurück, wenn Josie ihr in den Weg kam. Manchmal schloss sie die
Küchentüre, wenn Josie eingetreten war und behielt die Klinke
solange in der Hand, bis er wegzugehen verlangte. Manchmal holte sie
Sachen, die er gar nicht haben wollte, und drückte sie ihm
schweigend in die Hände. Einmal aber sagte sie "Josie!"
und führte ihn, der noch über die unerwartete Ansprache staunte,
unter Grimassen seufzend in ihr Zimmerchen, das sie zusperrte.
Würgend umarmte sie seinen Hals und während sie ihn bat, sie zu
entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr
Bett, als wolle sie ihn von jetzt niemandem mehr lassen und ihn
streicheln und pflegen bis zum Ende der Welt. "Josie, oh, du
mein Josie", rief sie, als sehe sie ihn und bestätige sich
seinen Besitz, während er nicht das Geringste sah und sich
unbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für
ihn aufgehäuft zu haben schien. Dann legte sie sich auch zu ihm und
wollte irgendwelche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr
keine sagen und sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte
ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin,
wozu sie Josie aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten
Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich, dass Josie
Kopf und Hals aus den Kissen heraus schüttelte, zwischen seinen
Beinen, stieß dann den Bauch einige Male gegen ihn, ihm war als sei
sie ein Teil seiner selbst und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn
eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen. Weinend kam er
endlich nach vielen Wiedersehenswünschen ihrerseits in sein Bett.
Das war alles gewesen, und doch verstand es der Onkel, daraus eine
große Geschichte zu machen. Und die Köchin hatte also auch an ihn
gedacht und den Onkel von seiner Ankunft verständigt. Das war schön
von ihr gehandelt und er würde es ihr wohl noch einmal vergelten.
"Und
jetzt", rief der Senator, "will ich von dir offen hören,
ob ich dein Onkel bin oder nicht."
"Du
bist mein Onkel", sagte Josie und küsste ihm die Hand und wurde
dafür auf die Stirn geküsst. "Ich bin sehr froh, dass ich dich
getroffen habe, aber du irrst, wenn du glaubst, dass meine Eltern nur
Schlechtes von dir reden. Aber auch abgesehen davon, sind in deiner
Rede einige Fehler enthalten gewesen, d.h. ich meine, es hat sich in
Wirklichkeit nicht alles so zugetragen. Du kannst aber auch wirklich
von hier aus die Dinge nicht so gut beurteilen und ich glaube
außerdem, dass es keinen besondern Schaden bringen wird, wenn die
Herren in Einzelheiten einer Sache, an der ihnen doch wirklich nicht
viel liegen kann, ein wenig unrichtig informiert worden sind."
"Wohl gesprochen", sagte der Senator, führte Josie vor den
sichtlich teilnehmenden Kapitän und sagte: "Habe ich nicht
einen prächtigen Neffen?" "Ich bin glücklich", sagte
der Kapitän mit einer Verbeugung, wie sie nur militärisch geschulte
Leute zu Stande bringen, "ihren Neffen, Herr Senator, kennen
gelernt zu haben. Es ist eine besondere Ehre für mein Schiff, dass
es den Ort eines solchen Zusammentreffens abgeben konnte. Aber die
Fahrt im Zwischendeck war wohl sehr arg, ja, wer kann das wissen, wer
da mit geführt wird. Einmal ist z.B. auch der Erstgeborene des
obersten ungarischen Magnaten, der Name und der Grund der Reise ist
mir schon entfallen, in unserem Zwischendeck gefahren. Ich habe es
erst viel später erfahren. Nun, wir tun alles Mögliche, den Leuten
im Zwischendeck die Fahrt möglichst zu erleichtern, viel mehr z.B.
als die amerikanischen Linien, aber eine solche Fahrt zu einem
Vergnügen zu machen, ist uns allerdings noch immer nicht gelungen."
"Es
hat mir nicht geschadet", sagte Josie.
"Es
hat ihm nicht geschadet!" wiederholte laut lachend der Senator.
"Nur
meinen Koffer fürchte ich verloren zu—". Und damit erinnerte
er sich an alles, was geschehen war, und was noch zu tun übrig
blieb, sah sich um und erblickte alle Anwesenden stumm vor Achtung
und Staunen auf ihren frühern Plätzen, die Augen auf ihn gerichtet.
Nur den Hafenbeamten sah man, so weit ihre strengen, selbst
zufriedenen Gesichter einen Einblick gestatteten, das Bedauern an, zu
so ungelegener Zeit gekommen zu sein, und die Taschenuhr, die sie
jetzt vor sich liegen hatten, war ihnen wahrscheinlich wichtiger, als
alles, was im Zimmer vorging und vielleicht noch geschehen konnte.
Der
erste, welcher nach dem Kapitän seine Anteilnahme aussprach, war
merkwürdigerweise der Heizer. "Ich gratuliere Ihnen herzlich",
sagte er und schüttelte Josie die Hand, womit er auch etwas wie
Anerkennung ausdrücken wollte. Als er sich dann mit der gleichen
Ansprache auch an den Senator wenden wollte, trat dieser jedoch
zurück, als überschreite der Heizer damit seine Rechte; der Heizer
ließ auch sofort ab.
Die
Übrigen aber sahen jetzt ein, was zu tun war und bildeten gleich um
Josie und den Senator einen Wirrwarr. So geschah es, dass Josie sogar
eine Gratulation Schubals erhielt, annahm und für sie dankte. Als
Letzte traten in der wieder entstandenen Ruhe die Hafenbeamten hinzu
und sagten zwei englische Worte, was einen lächerlichen Eindruck
machte.
Der
Senator war ganz in der Laune, um das Vergnügen vollständig
auszukosten, nebensächlichere Momente sich und den andern in
Erinnerung zu bringen, was natürlich von allen nicht nur geduldet,
sondern mit Interesse hingenommen wurde. So machte er darauf
aufmerksam, dass er sich die in dem Brief der Köchin erwähnten
hervorstechendsten Erkennungszeichen Josies in sein Notizbuch zu
möglicherweise notwendigem, augenblicklichen Gebrauch eingetragen
hatte. Nun hatte er während des unerträglichen Geschwätzes des
Heizers zu keinem andern Zweck, als um sich abzulenken, das Notizbuch
herausgezogen und die natürlich nicht gerade detektivisch richtigen
Beobachtungen der Köchin mit Josies Aussehen zum Spiel in Verbindung
zu bringen gesucht. "Und so findet man seinen Neffen",
schloss er in einem Tone, als wolle er noch einmal Gratulationen
bekommen.
"Was
wird jetzt dem Heizer geschehn?" fragte Josie, vorbei an der
letzten Erzählung des Onkels. Er glaubte in seiner neuen Stellung
alles, was er auch dachte, aussprechen zu können.
"Dem
Heizer wird geschehen, was er verdient", sagte der Senator, "und
was der Herr Kapitän erachtet. Ich glaube, wir haben von dem Heizer
genug und übergenug, wozu mir jeder der anwesenden Herren sicher
zustimmen wird."
"Darauf
kommt es doch nicht an, bei einer Sache der Gerechtigkeit",
sagte Josie. Er stand zwischen dem Onkel und dem Kapitän und
glaubte, vielleicht durch diese Stellung beeinflusst, die
Entscheidung in der Hand zu haben.
Und
trotzdem schien der Heizer nichts mehr für sich zu hoffen. Die Hände
hielt er halb in den Hosengürtel, der durch seine aufgeregten
Bewegungen mit Streifen eines gemusterten Hemdes zum Vorschein
gekommen war. Das kümmerte ihn nicht im Geringsten, er hatte sein
ganzes Leid geklagt, nun sollte man auch noch die paar Fetzen sehen,
die er am Leibe trug und dann sollte man ihn fort tragen. Er dachte
sich aus, der Diener und Schubal als die zwei hier im Range tiefsten
sollten ihm diese letzte Güte erweisen. Schubal würde dann Ruhe
haben und nicht mehr in Verzweiflung kommen, wie sich der
Oberkassierer ausgedrückt hatte. Der Kapitän würde lauter Rumänen
anstellen können, es würde überall Rumänisch gesprochen werden
und vielleicht würde dann wirklich alles besser gehen. Kein Heizer
würde mehr in der Hauptkasse schwätzen, nur sein letztes Geschwätz
würde man in ziemlich freundlicher Erinnerung behalten, da es, wie
der Senator ausdrücklich erklärt hatte, die mittelbare Veranlassung
zur Erkennung des Neffen gegeben hatte. Dieser Neffe hatte ihm
übrigens vorher öfters zu nützen gesucht und daher für seinen
Dienst bei der Wiedererkennung längst vorher einen mehr als
genügenden Dank abgestattet; dem Heizer fiel gar nicht ein, jetzt
noch etwas von ihm zu verlangen. Im Übrigen, mochte er auch der
Neffe des Senators sein, ein Kapitän war er noch lange nicht, aber
aus dem Munde des Kapitäns würde schließlich das böse Wort
fallen. — So wie es seiner Meinung entsprach, versuchte auch der
Heizer nicht zu Josie hinzusehen, aber leider blieb in diesem Zimmer
der Feinde kein anderer Ruheort für seine Augen.
"Missverstehe
die Sachlage nicht", sagte der Senator zu Josie, "es
handelt sich vielleicht um eine Sache der Gerechtigkeit, aber
gleichzeitig um eine Sache der Disziplin. Beides und ganz besonders
das letztere unterliegt hier der Beurteilung des Herrn Kapitäns."
"So
ist es", murmelte der Heizer. Wer es merkte und verstand,
lächelte befremdet.
"Wir
aber haben überdies den Herrn Kapitän in seinen Amtsgeschäften,
die sich sicher gerade bei der Ankunft in New York unglaublich
häufen, so sehr schon behindert, dass es höchste Zeit für uns ist,
das Schiff zu verlassen, um nicht zum Überfluss auch noch durch
irgendwelche höchst unnötige Einmischung diese geringfügige
Zänkerei zweier Maschinisten zu einem Ereignis zu machen. Ich
begreife deine Handlungsweise, lieber Neffe, übrigens vollkommen,
aber gerade das gibt mir das Recht, dich eilends von hier
fortzuführen."
"Ich
werde sofort ein Boot für Sie flott machen lassen", sagte der
Kapitän, ohne zum Erstaunen Josies auch nur den kleinsten Einwand
gegen die Worte des Onkels vorzubringen, die doch zweifellos als eine
Selbstdemütigung des Onkels angesehen werden konnten. Der
Oberkassierer eilte überstürzt zum Schreibtisch und telefonierte
den Befehl des Kapitäns an den Bootsmeister.
"Die
Zeit drängt schon", sagte sich Josie, "aber ohne alle zu
beleidigen, kann ich nichts tun. Ich kann doch jetzt den Onkel nicht
verlassen, nachdem er mich kaum wiedergefunden hat. Der Kapitän ist
zwar höflich, aber das ist auch alles. Bei der Disziplin hört seine
Höflichkeit auf und der Onkel hat ihm sicher aus der Seele
gesprochen. Mit Schubal will ich nicht reden, es tut mir sogar leid,
dass ich ihm die Hand gereicht habe. Und alle andern Leute hier sind
Spreu." Und er ging langsam in solchen Gedanken zum Heizer, zog
dessen rechte Hand aus dem Gürtel und hielt sie spielend in der
seinen. "Warum sagst du denn nichts?" fragte er. "Warum
lässt du dir alles gefallen?"
Der
Heizer legte nur die Stirn in Falten, als suche er den Ausdruck, für
das, was er zu sagen habe. Im Übrigen sah er auf seine und Josies
Hand hinab.
"Dir
ist ja Unrecht geschehn, wie keinem auf dem Schiff, das weiß ich
ganz genau." Und Josie zog seine Finger hin und her zwischen den
Fingern des Heizers, der mit glänzenden Augen ringsumher schaute,
als widerfahre ihm eine Wonne, die ihm aber niemand verübeln möge.
"Du
musst dich aber zur Wehr setzen, Ja und Nein sagen, sonst haben ja
die Leute keine Ahnung von der Wahrheit. Du musst mir versprechen,
dass du mir folgen wirst, denn ich selbst, das fürchte ich mit
vielem Grund, werde dir gar nicht mehr helfen können." Und nun
weinte Josie, während er die Hand des Heizers küsste, und nahm die
rissige, fast leblose Hand und drückte sie an seine Wangen, wie
einen Schatz, auf den man verzichten muss. — Da war aber auch schon
der Onkel Senator an seiner Seite und zog ihn, wenn auch nur mit dem
leichtesten Zwange, fort. "Der Heizer scheint dich bezaubert zu
haben", sagte er und sah verständnisinnig über Josies Kopf zum
Kapitän hin. "Du hast dich verlassen gefühlt, da hast du den
Heizer gefunden und bist ihm jetzt dankbar, das ist ja ganz löblich.
Treibe das aber, schon mir zuliebe, nicht zu weit, und lerne deine
Stellung begreifen."
Vor
der Türe entstand ein Lärmen, man hörte Rufe und es war sogar, als
werde jemand brutal gegen die Tür gestoßen.
Ein
Matrose trat ein, etwas verwildert und hatte eine Mädchenschürze
umgebunden. "Es sind Leute draußen", rief er und stieß
einmal mit den Ellbogen herum, als sei er noch im Gedränge. Endlich
fand er seine Besinnung und wollte vor dem Kapitän salutieren, da
bemerkte er die Mädchenschürze, riss sie herunter, warf sie zu
Boden und rief: "Das ist ja ekelhaft, da haben sie mir eine
Mädchenschürze umgebunden." Dann aber klappte er die Hacken
zusammen und salutierte. Jemand versuchte zu lachen, aber der Kapitän
sagte streng: "Das nenne ich eine gute Laune. Wer ist denn
draußen?" "Es sind meine Zeugen", sagte Schubal
vortretend, "ich bitte ergebenst um Entschuldigung für ihr
unpassendes Benehmen. Wenn die Leute die Seefahrt hinter sich haben,
sind sie manchmal wie toll." — "Rufen Sie sie sofort
herein", befahl der Kapitän und gleich sich zum Senator
umwendend sagte er verbindlich, aber rasch: "Haben Sie jetzt die
Güte, verehrter Herr Senator, mit ihrem Herrn Neffen diesem Matrosen
zu folgen, der Sie ins Boot bringen wird. Ich muss wohl nicht erst
sagen, welches Vergnügen und welche Ehre mir das persönliche
Bekanntwerden mit Ihnen, Herr Senator, bereitet hat. Ich wünsche mir
nur bald Gelegenheit zu haben, mit Ihnen, Herr Senator, unser
unterbrochenes Gespräch über die amerikanischen Flottenverhältnisse
wieder einmal aufnehmen zu können und dann vielleicht neuerdings auf
so angenehme Weise wie heute unterbrochen zu werden." "Vorläufig
genügt mir dieser eine Neffe", sagte der Onkel lachend. "Und
nun nehmen Sie meinen besten Dank für ihre Liebenswürdigkeit und
leben Sie wohl. Es wäre übrigens gar nicht so unmöglich, dass wir"
— er drückte Josie herzlich an sich — "bei unserer nächsten
Europareise vielleicht für längere Zeit zusammenkommen könnten."
"Es würde mich herzlich freuen", sagte der Kapitän. Die
beiden Herren schüttelten einander die Hände, Josie konnte nur noch
stumm und flüchtig seine Hand dem Kapitän reichen, denn dieser war
bereits von den vielleicht fünfzehn Leuten in Anspruch genommen,
welche unter Führung Schubals zwar etwas betroffen, aber doch sehr
laut, einzogen. Der Matrose bat den Senator, vorausgehen zu dürfen,
und teilte dann die Menge für ihn und Josie, die leicht zwischen den
sich verbeugenden Leuten durchkamen. Es schien, dass diese im Übrigen
gutmütigen Leute, den Streit Schubals mit dem Heizer als einen Spaß
auffassten, dessen Lächerlichkeit nicht einmal vor dem Kapitän
aufhöre. Josie bemerkte unter ihnen auch das Küchenmädchen Line,
welche, ihm lustig zuzwinkernd, die vom Matrosen hingeworfene Schürze
umband, denn es war die ihrige.
Weiter
dem Matrosen folgend, verließen sie das Büro und bogen in einen
kleinen Gang ein, der sie nach paar Schritten zu einem Türchen
brachte, von dem aus eine kurze Treppe in das Boot hinab führte,
welches für sie vorbereitet war. Die Matrosen im Boot, in das ihr
Führer gleich mit einem einzigen Satz hinunter sprang, erhoben sich
und salutierten. Der Senator gab Josie gerade eine Ermahnung zu
vorsichtigem Hinuntersteigen, als Josie noch auf der obersten Stufe
in heftiges Weinen ausbrach. Der Senator legte die rechte Hand unter
Josies Kinn, hielt ihn fest an sich gepresst und streichelte ihn mit
der linken Hand. So gingen sie langsam Stufe für Stufe hinab und
traten engverbunden ins Boot, wo der Senator für Josie gerade sich
gegenüber einen guten Platz aussuchte. Auf ein Zeichen des Senators
stießen die Matrosen vom Schiffe ab und waren gleich in voller
Arbeit. Kaum waren sie paar Meter vom Schiff entfernt, machte Josie
die unerwartete Entdeckung, dass sie sich gerade auf jener Seite des
Schiffes befanden, wohin die Fenster der Hauptkasse gingen. Alle drei
Fenster waren mit Zeugen Schubals besetzt, welche freundschaftlich
grüßten und winkten, sogar der Onkel dankte und ein Matrose machte
das Kunststück, ohne eigentlich das gleichmäßige Rudern zu
unterbrechen eine Kusshand hinauf zu schicken. Es war wirklich, als
gäbe es keinen Heizer mehr. Josie fasste den Onkel, mit dessen Knien
sich seine fast berührten, genauer ins Auge und es kamen ihm
Zweifel, ob dieser Mann ihm jemals den Heizer werde ersetzen können.
Auch wich der Onkel seinem Blicke aus und sah auf die Wellen hin, von
denen ihr Boot umschwankt wurde.
Kapitel
II: Der Onkel
Im
Hause des Onkels gewöhnte sich Josie bald an die neuen Verhältnisse.
Der Onkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freundlich entgegen
und niemals musste Josie sich erst durch schlechte Erfahrungen
belehren lassen, wie dies meist das erste Leben im Ausland so
verbittert.
Josies
Zimmer lag im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fünf untere
Stockwerke, an welche sich in der Tiefe noch drei unterirdische
anschlossen, von dem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden.
Das Licht, das in sein Zimmer durch zwei Fenster und eine Balkontüre
eindrang, brachte Josie immer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens
aus seiner kleinen Schlafkammer hier eintrat. Wo hätte er wohl
wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Einwanderer ans Land
gestiegen wäre? Ja, vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach
seiner Kenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für sehr
wahrscheinlich hielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten
eingelassen, sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiter darum
zu kümmern, dass er keine Heimat mehr hatte. Denn auf Mitleid durfte
man hier nicht hoffen, und es war ganz richtig, was Josie in dieser
Hinsicht über Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen
hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung
wahrhaft zu genießen.
Ein
schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach
hin. Was aber in der Heimatstadt Josies wohl der höchste
Aussichtspunkt gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den
Überblick über eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich
abgehackter Häuser gerade und darum wie fliehend in die Ferne sich
verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer
sich erhoben. Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht
vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der
von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinander
gestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von
Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch
eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub und
Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfasst und durchdrungen von
einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der
Gegenstände zerstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht
wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde
über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden
Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.
Vorsichtig,
wie der Onkel in allem war, riet er Josie, sich vorläufig ernsthaft
nicht auf das Geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und
anschauen, aber sich nicht gefangen nehmen lassen. Die ersten Tage
eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar und
wenn man sich hier auch, damit nur Josie keine unnötige Angst habe,
rascher eingewöhne, als wenn man vom Jenseits in die menschliche
Welt eintrete, so müsse man sich doch vor Augen halten, dass das
erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und dass man sich
dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfe man
ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen lassen
dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die z.B. statt nach
diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem
Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße herunter
gesehen hätten. Das müsse unbedingt verwirren! Diese einsame
Untätigkeit, die sich in einen arbeitsreichen New Yorker Tag
verschaut, könne einem Vergnügungsreisenden gestattet und
vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos, angeraten werden, für
einen der hier bleiben wird, sei sie ein Verderben, man könne in
diesem Fall ruhig dieses Wort anwenden, wenn es auch eine
Übertreibung ist. Und tatsächlich verzog der Onkel immer ärgerlich
das Gesicht, wenn er bei einem seiner Besuche, die immer nur einmal
täglich und zwar immer zu den verschiedensten Tageszeiten erfolgten,
Josie auf dem Balkone antraf. Josie merkte das bald und versagte sich
infolgedessen das Vergnügen, auf dem Balkon zu stehen, nach
Möglichkeit.
Es
war ja auch bei weitem nicht das einzige Vergnügen, das er hatte. In
seinem Zimmer stand ein amerikanischer Schreibtisch bester Sorte, wie
sich ihn sein Vater seit Jahren gewünscht und auf den
verschiedensten Versteigerungen um einen ihm erreichbaren, billigen
Preis zu kaufen gesucht hatte, ohne dass es ihm bei seinen kleinen
Mitteln jemals gelungen wäre. Natürlich war dieser Tisch mit jenen
angeblich amerikanischen Schreibtischen, wie sie sich auf
europäischen Versteigerungen herumtreiben, nicht zu vergleichen. Er
hatte z.B. in seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe
und selbst der Präsident der Union hätte für jeden seiner Akten
einen passenden Platz gefunden, aber außerdem war an der Seite ein
Regulator und man konnte durch Drehen an der Kurbel die
verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach
Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich
langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu
aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz
ein ganz anderes Aussehen und alles ging, je nachdem man die Kurbel
drehte, langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es war eine neueste
Erfindung, erinnerte aber Josie sehr lebhaft an die Krippenspiele,
die zuhause auf dem Christmarkt den staunenden Kindern gezeigt
wurden, und auch Josie war oft in seine Winterkleider eingepackt
davor gestanden und hatte ununterbrochen die Kurbeldrehung, die ein
alter Mann ausführte, mit den Wirkungen im Krippenspiel verglichen,
mit dem stockenden Vorwärtskommen der heiligen drei Könige, dem
Aufglänzen des Sternes und dem befangenen Leben im heiligen Stall.
Und immer war es ihm erschienen, als ob die Mutter, die hinter ihm
stand, nicht genau genug alle Ereignisse verfolge, er hatte sie zu
sich hingezogen, bis er sie an seinem Rücken fühlte und hatte ihr
solange mit lauten Ausrufen verborgenere Erscheinungen gezeigt,
vielleicht ein Häschen, das vorn im Gras abwechselnd Männchen
machte und sich dann wieder zum Lauf bereitete, bis die Mutter ihm
den Mund zuhielt und wahrscheinlich in ihre frühere Unachtsamkeit
verfiel. Der Tisch war freilich nicht dazu gemacht, um an solche
Dinge zu erinnern, aber in der Geschichte der Erfindungen bestand
wohl ein ähnlich undeutlicher Zusammenhang wie in Josies
Erinnerungen. Der Onkel war zum Unterschied von Josie mit diesem
Schreibtisch durchaus nicht einverstanden, nur hatte er eben für
Josie einen ordentlichen Schreibtisch kaufen wollen und solche
Schreibtische waren jetzt sämtlich mit dieser Neueinrichtung
versehen, deren Vorzug nämlich auch darin bestand, bei älteren
Schreibtischen ohne große Kosten angebracht werden zu können.
Immerhin unterließ der Onkel nicht, Josie zu raten, den Regulator
möglichst gar nicht zu verwenden; um die Wirkung des Rates zu
verstärken, behauptete der Onkel, die Maschinerie sei sehr
empfindlich, leicht zu verderben und die Wiederherstellung sehr
kostspielig. Es war nicht schwer einzusehen, dass solche Bemerkungen
nur Ausflüchte waren, wenn man sich auch andererseits sagen musste,
dass der Regulator sehr leicht zu fixieren war, was der Onkel jedoch
nicht tat.
In
den ersten Tagen, an denen selbstverständlich zwischen Josie und dem
Onkel häufigere Aussprachen stattgefunden hatten, hatte Josie auch
erzählt, dass er zu Hause wenig zwar, aber gern Klavier gespielt
habe, was er allerdings lediglich mit den Anfangskenntnissen hatte
bestreiten können, die ihm die Mutter beigebracht hatte. Josie war
sich dessen wohl bewusst, dass eine solche Erzählung gleichzeitig
die Bitte um ein Klavier war, aber er hatte sich schon genügend
umgesehen, um zu wissen, dass der Onkel auf keine Weise zu sparen
brauchte. Trotzdem wurde ihm diese Bitte nicht gleich gewährt, aber
etwa acht Tage später sagte der Onkel, fast in der Form eines
widerwilligen Eingeständnisses, das Klavier sei eben angelangt und
Josie könne, wenn er wolle, den Transport überwachen. Das war
allerdings eine leichte Arbeit, aber dabei nicht einmal viel leichter
als der Transport selbst, denn im Haus war ein eigener Möbelaufzug,
in welchem ohne Gedränge ein ganzer Möbelwagen Platz finden konnte,
und in diesem Aufzug schwebte auch das Piano zu Josies Zimmer hinauf.
Josie selbst hätte zwar in dem gleichen Aufzug mit dem Piano und den
Transportarbeitern fahren können, aber da gleich daneben ein
Personenaufzug zur Benutzung frei stand, fuhr er in diesem, hielt
sich mittels eines Hebels stets in gleicher Höhe mit dem andern
Aufzug und betrachtete unverwandt durch die Glaswände das schöne
Instrument, das jetzt sein Eigentum war. Als er es in seinem Zimmer
hatte und die ersten Töne anschlug, bekam er eine so närrische
Freude, dass er statt weiter zu spielen aufsprang und aus einiger
Entfernung die Hände in den Hüften das Klavier lieber anstaunte.
Auch die Akustik des Zimmers war ausgezeichnet und sie trug dazu bei,
sein anfängliches, kleines Unbehagen, in einem Eisenhause zu wohnen,
gänzlich verschwinden zu lassen. Tatsächlich merkte man auch im
Zimmer, so eisenmäßig das Gebäude von außen erschien, von
eisernen Baubestandteilen nicht das Geringste, und niemand hätte
auch nur eine Kleinigkeit in der Einrichtung aufzeigen können,
welche die vollständigste Gemütlichkeit irgendwie gestört hätte.
Josie erhoffte sich in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel
und schämte sich nicht, wenigstens vor dem Einschlafen an die
Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen
Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken. Es klang ja
allerdings sonderbar, wenn er vor den in die Lärm erfüllte Luft
geöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Heimat spielte,
das die Soldaten am Abend, wenn sie in den Kasernenfenstern liegen
und auf den finstern Platz hinaus schauen, von Fenster zu Fenster
einander zusingen — aber sah er dann auf die Straße, so war sie
unverändert und nur ein kleines Stück eines großen Kreislaufes,
das man nicht an und für sich anhalten konnte, ohne alle Kräfte zu
kennen, die in der Runde wirkten. Der Onkel duldete das Klavierspiel,
sagte auch nichts dagegen, zumal Josie sich auch ohne Mahnung nur
selten das Vergnügen des Spieles gönnte, ja, er brachte Josie sogar
Noten amerikanischer Märsche und natürlich auch der Nationalhymne,
aber allein aus der Freude an der Musik war es wohl nicht zu
erklären, als er eines Tages, ohne allen Scherz, Josie fragte, ob er
nicht auch das Spiel auf der Geige oder auf dem Waldhorn lernen
wolle.
Natürlich
war das Lernen des Englischen Josies erste und wichtigste Aufgabe.
Ein junger Professor einer Handelshochschule erschien morgens um
sieben Uhr in Josies Zimmer und fand ihn schon an seinem Schreibtisch
bei den Heften sitzen oder memorierend im Zimmer auf und ab gehn.
Josie sah wohl ein, dass zur Aneignung des Englischen keine Eile groß
genug sei und dass er hier außerdem die beste Gelegenheit habe,
seinem Onkel eine außerordentliche Freude durch rasche Fortschritte
zu machen. Und tatsächlich gelang es bald, während zuerst das
Englische in den Gesprächen mit dem Onkel sich auf Gruß und
Abschiedsworte beschränkt hatte, immer größere Teile der Gespräche
ins Englische hinüber zu spielen, wodurch gleichzeitig
vertraulichere Themen sich einzustellen begannen. Das erste
amerikanische Gedicht, die Darstellung einer Feuersbrunst, das Josie
seinem Onkel an einem Abend rezitieren konnte, machte diesen tief
ernst vor Zufriedenheit. Sie standen damals beide an einem Fenster in
Josies Zimmer, der Onkel sah hinaus, wo alle Helligkeit des Himmels
schon vergangen war, und schlug im Mitgefühl der Verse langsam und
gleichmäßig in die Hände, während Josie aufrecht neben ihm stand
und mit starren Augen das schwierige Gedicht sich entrang.
Je
besser Josies Englisch wurde, desto größere Lust zeigte der Onkel,
ihn mit seinen Bekannten zusammenzuführen und ordnete nur für jeden
Fall an, dass bei solchen Zusammenkünften vorläufig der
Englischprofessor sich immer in Josies Nähe zu halten habe. Der
allererste Bekannte, dem Josie eines Vormittags vorgestellt wurde,
war ein schlanker, junger, unglaublich biegsamer Mann, den der Onkel
mit besonderen Komplimenten in Josies Zimmer führte. Es war offenbar
einer jener vielen, vom Standpunkt der Eltern aus gesehen,
missratenen Millionärssöhne, dessen Leben so verlief, dass ein
gewöhnlicher Mensch auch nur einen beliebigen Tag im Leben dieses
jungen Mannes nicht ohne Schmerz verfolgen konnte. Und als wisse oder
ahne er dies und als begegne er dem, so weit es in seiner Macht
stand, war um seine Lippen und Augen ein unaufhörliches Lächeln des
Glückes, das ihm selbst, seinem Gegenüber und der ganzen Welt zu
gelten schien.
Mit
diesem jungen Mann, einem Herrn Mack, wurde unter unbedingter
Zustimmung des Onkels, besprochen, gemeinsam um halb sechs Uhr früh,
sei es in der Reitschule, sei es ins Freie zu reiten. Josie zögerte
zwar zuerst seine Zusage zu geben, da er doch noch niemals auf einem
Pferd gesessen war und das Reiten zuerst ein wenig lernen wolle, aber
da ihm der Onkel und Mack so sehr zuredeten und das Reiten als bloßes
Vergnügen und als gesunde Übung, aber gar nicht als Kunst,
darstellten, sagte er schließlich zu. Nun musste er allerdings schon
um halb fünf aus dem Bett und das tat ihm oft sehr Leid, denn er
litt hier, wohl infolge der steten Aufmerksamkeit, die er während
des Tages aufwenden musste, geradezu an Schlafsucht, aber in seinem
Badezimmer verlor sich das Bedauern bald. Über die ganze Wanne, der
Länge und Breite nach, spannte sich das Sieb der Dusche — welcher
Mitschüler zuhause und war er noch so reich, besaß etwas Derartiges
und gar noch allein für sich — und da lag nun Josie ausgestreckt,
in dieser Wanne konnte er die Arme ausbreiten und ließ die Ströme
des lauen, heißen, wieder lauen und endlich eisigen Wassers, nach
Belieben teilweise oder über die ganze Fläche hin auf sich herab.
Wie in dem noch ein wenig fortlaufenden Genusse des Schlafes lag er
da und fing besonders gern mit den geschlossenen Augenlidern die
letzten, einzeln fallenden Tropfen auf, die sich dann öffneten und
über das Gesicht hin flossen.
In
der Reitschule, wo ihn das hoch sich aufbauende Automobil des Onkels
absetzte, erwartete ihn bereits der Englischprofessor, während Mack
ausnahmslos erst später kam. Er konnte aber auch unbesorgt erst
später kommen, denn das eigentliche, lebendige Reiten fing erst an,
wenn er da war. Bäumten sich nicht die Pferde aus ihrem bisherigen
Halbschlaf auf, wenn er eintrat, knallte die Peitsche nicht lauter
durch den Raum, erschienen nicht plötzlich auf der umlaufenden
Galerie einzelne Personen, Zuschauer, Pferdewärter, Reitschüler
oder was sie sonst sein mochten? Josie aber nützte die Zeit vor der
Ankunft Macks dazu aus, um doch ein wenig, wenn auch nur die
primitivsten Vorübungen des Reitens, zu betreiben. Es war ein langer
Mann da, der auf den höchsten Pferderücken mit kaum erhobenem Arm
hinauf reichte und der Josie diesen immer kaum eine Viertelstunde
dauernden Unterricht erteilte. Die Erfolge, die Josie hierbei hatte,
waren nicht übergroß und er konnte sich viele englische Klagerufe
dauernd aneignen, die er während dieses Lernens zu seinem
Englischprofessor atemlos ausstieß, der immer am gleichen Türpfosten
meist sehr schlafbedürftig lehnte. Aber fast alle Unzufriedenheit
mit dem Reiten hörte auf, wenn Mack kam. Der lange Mann wurde
weggeschickt und bald hörte man in dem noch immer halbdunklen Saal
nichts anderes, als die Hufe der galoppierenden Pferde und man sah
kaum etwas anderes als Macks erhobenen Arm, mit dem er Josie ein
Kommando gab. Nach einer halben Stunde solchen wie Schlaf vergehenden
Vergnügens, wurde Halt gemacht, Mack war in großer Eile,
verabschiedete sich von Josie, klopfte ihm manchmal auf die Wange,
wenn er mit seinem Reiten besonders zufrieden gewesen war und
verschwand, ohne vor großer Eile mit Josie auch nur gemeinsam durch
die Tür heraus zu gehen. Josie nahm dann den Professor mit ins
Automobil und sie fuhren zu ihrer Englischstunde meist auf Umwegen,
denn bei der Fahrt durch das Gedränge der großen Straße, die
eigentlich direkt von dem Hause des Onkels zur Reitschule führte,
wäre zu viel Zeit verloren gegangen. Im Übrigen hörte wenigstens
diese Begleitung des Englischprofessors bald auf, denn Josie, der
sich Vorwürfe machte, den müden Mann nutzlos in die Reitschule zu
bemühen, zumal die englische Verständigung mit Mack eine sehr
einfache war, bat den Onkel, den Professor von dieser Pflicht zu
entheben. Nach einiger Überlegung gab der Onkel dieser Bitte auch
nach.
Verhältnismäßig
lange dauerte es, ehe sich der Onkel entschloss, Josie auch nur einen
kleinen Einblick in sein Geschäft zu erlauben, trotzdem Josie öfters
darum ersucht hatte. Es war eine Art Kommissions- und
Speditionsgeschäftes, wie sie, so weit sich Josie erinnern konnte,
in Europa vielleicht gar nicht zu finden war. Das Geschäft bestand
nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von
den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern
vermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und
Urprodukte für die großen Fabrikskartelle und zwischen ihnen
besorgte. Es war daher ein Geschäft, welches in einem Käufe,
Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfasste
und ganz genaue, unaufhörliche telefonische und telegrafische
Verbindungen mit den Klienten unterhalten musste. Der Saal der
Telegrafen war nicht kleiner, sondern größer als das Telegrafenamt
der Vaterstadt, durch das Josie einmal an der Hand eines dort
bekannten Mitschülers gegangen war. Im Saal der Telefone gingen,
wohin man schaute, die Türen der Telefonzellen auf und zu und das
Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die nächste dieser
Türen und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen
Angestellten gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf
eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren
drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er
besonders schwer und nur die Finger, welche den Bleistift hielten,
zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch. In den Worten, die er
in den Sprechtrichter sagte, war er sehr sparsam und oft sah man
sogar, dass er vielleicht gegen den Sprecher etwas einzuwenden hatte,
ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse Worte, die er hörte,
zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen konnte, die Augen zu
senken und zu schreiben. Er musste auch nicht reden, wie der Onkel
Josie leise erklärte, denn die gleichen Meldungen, wie sie dieser
Mann aufnahm, wurden noch von zwei anderen Angestellten gleichzeitig
aufgenommen und dann verglichen, so dass Irrtümer möglichst
ausgeschlossen waren. In dem gleichen Augenblick, als der Onkel und
Josie aus der Tür getreten waren, schlüpfte ein Praktikant hinein
und kam mit dem inzwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten durch
den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten
Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloss
sich den Schritten des ihm vorhergehenden an und sah auf den Boden,
auf dem er möglichst rasch vorwärts kommen wollte oder fing mit den
Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren ab, die er
in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt flatterten.
"Du
hast es wirklich weit gebracht", sagte Josie einmal auf einem
dieser Gänge durch den Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tage
verwenden musste, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen
haben wollte.
"Und
alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, musst du
wissen. Ich hatte damals im Hafenviertel ein kleines Geschäft, und
wenn dort am Tag fünf Kisten abgeladen waren, so war es viel, und
ich ging aufgeblasen nach Hause. Heute habe ich die drittgrößten
Lagerhäuser im Hafen und jener Laden ist das Esszimmer und die
Gerätekammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner Packträger.
"Das
grenzt ja ans Wunderbare", sagte Josie.
"Alle
Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich", sagte der Onkel,
das Gespräch abbrechend.
Eines
Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des Essens, das Josie wie
gewöhnlich allein einzunehmen gedachte und forderte ihn auf, sich
gleich schwarz anzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem
zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden. Während Josie sich im
Nebenzimmer umkleidete, setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und
sah die gerade beendete Englischaufgabe durch, schlug mit der Hand
auf den Tisch und rief laut: "Wirklich ausgezeichnet!"
Zweifellos
gelang das Anziehen besser, als Josie dieses Lob hörte, aber er war
auch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.
Im
Speisezimmer des Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch
in Erinnerung hatte, erhoben sich zwei große, dicke Herren zur
Begrüßung, ein gewisser Green der eine, ein gewisser Pollunder der
Zweite, wie sich während des Tischgespräches herausstellte. Der
Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges Wort über irgendwelche
Bekannten auszusprechen und überließ es immer Josie, durch eigene
Beobachtung das Notwendige oder Interessante herauszufinden. Nachdem
während des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche
Angelegenheiten besprochen worden waren, was für Josie eine gute
Lektion hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und man
Josie still mit seinem Essen sich hatte beschäftigen lassen, als sei
er ein Kind, das sich vor allem ordentlich satt essen müsse, beugte
sich Herr Green zu Josie hin und fragte in dem unverkennbaren
Bestreben, ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen, im
Allgemeinen nach Josies ersten amerikanischen Eindrücken. Josie
antwortete unter einer Sterbensstille rings herum mit einigen
Seitenblicken auf den Onkel ziemlich ausführlich und suchte sich zum
Dank durch eine etwas new yorkisch gefärbte Redeweise angenehm zu
machen. Bei einem Ausdruck lachten sogar alle drei Herren
durcheinander und Josie fürchtete schon, einen groben Fehler gemacht
zu haben, jedoch nein, er hatte, wie ihm Herr Pollunder erklärte,
sogar etwas sehr Gelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunder schien
überhaupt an Josie ein besonderes Gefallen zu finden und während
der Onkel und Herr Green wieder zu den geschäftlichen Besprechungen
zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Josie seinen Sessel nahe zu sich
hin schieben, fragte ihn zuerst vielerlei über seinen Namen, seine
Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich, um Josie
wieder ausruhen zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst von sich
und seiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinen Landgut in
der Nähe von New York wohnte, wo er aber allerdings nur die Abende
verbringen konnte, denn er war Bankier und sein Beruf hielt ihn in
New York den ganzen Tag. Josie wurde auch gleich herzlichst
eingeladen, auf dieses Landgut herauszukommen, ein so frisch
gebackener Amerikaner wie Josie habe ja auch sicher das Bedürfnis,
sich von New York manchmal zu erholen.
Josie
bat den Onkel sofort um die Erlaubnis, diese Einladung annehmen zu
dürfen und der Onkel gab auch scheinbar freudig diese Erlaubnis,
ohne aber ein bestimmtes Datum zu nennen oder auch nur in Erwägung
ziehen zu lassen, wie es Josie und Herr Pollunder erwartet hatten.
Aber
schon am nächsten Tag wurde Josie in ein Büro des Onkels beordert —
der Onkel hatte zehn verschiedene Büros allein in diesem Hause —
wo er den Onkel und Herrn Pollunder beide ziemlich einsilbig in den
Fauteuils liegend antraf. "Herr Pollunder", sagte der
Onkel, er war in der Abenddämmerung des Zimmers kaum zu erkennen,
"Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf sein Landgut
mitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben." "Ich
wusste nicht, dass es schon heute sein sollte", antwortete
Josie, "sonst wäre ich schon vorbereitet." "Wenn du
nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch
besser für nächstens", meinte der Onkel. "Was für
Vorbereitungen!" rief Herr Pollunder. "Ein junger Mann ist
immer vorbereitet." "Es ist nicht seinetwegen", sagte
der Onkel zu seinem Gaste gewendet, "aber er müsste immerhin
noch in sein Zimmer hinaufgehen und Sie wären aufgehalten." "Es
ist auch dazu reichlich Zeit", sagte Herr Pollunder, "ich
habe auch eine Verzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluss
gemacht." "Du siehst", sagte der Onkel, "was für
Unannehmlichkeiten dein Besuch schon jetzt veranlasst." "Es
tut mir Leid", sagte Josie, "aber ich werde gleich wieder
da sein" und wollte schon weg springen. "Übereilen Sie
sich nicht", sagte Herr Pollunder. "Sie machen mir nicht
die geringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir ihr Besuch eine
reine Freude." "Du versäumst morgen deine Reitstunde, hast
du sie schon abgesagt?" "Nein", sagte Josie, dieser
Besuch, auf den er sich gefreut hatte, fing an eine Last zu werden,
"ich wusste ja nicht-". "Und trotzdem willst du weg
fahren?" fragte der Onkel weiter. Herr Pollunder, dieser
freundliche Mensch, kam zur Hilfe. "Wir werden auf der Fahrt bei
der Reitschule halten und die Sache in Ordnung bringen." "Das
lässt sich hören", sagte der Onkel. "Aber Mack wird dich
doch erwarten." "Erwarten wird er mich nicht", sagte
Josie, "aber er wird allerdings hinkommen." "Nun
also?" sagte der Onkel, als wäre Josies Antwort nicht die
geringste Rechtfertigung gewesen. Wieder sagte Herr Pollunder das
Entscheidende: "Aber Klara", sie war Herrn Pollunders
Tochter, "erwartet ihn auch, und schon heute Abend, und sie hat
wohl den Vorzug vor Mack?" "Allerdings", sagte der
Onkel. "Also lauf schon in dein Zimmer", und er schlug
mehrmals wie ohne Willen gegen die Armlehne des Fauteuils. Josie war
schon bei der Tür, als ihn der Onkel noch mit der Frage zurückhielt:
"Zur Englischstunde bist du doch wohl morgen früh wieder hier?"
"Aber!" rief Herr Pollunder und drehte sich, so weit es
seine Dicke erlaubte, in seinem Fauteuil vor Erstaunen. "Ja darf
er denn nicht wenigstens den morgigen Tag draußen bleiben? Ich
brächte ihn dann übermorgen früh wieder zurück." "Das
geht auf keinen Fall", erwiderte der Onkel. "Ich kann sein
Studium nicht so in Unordnung kommen lassen. Später, wenn er in
einem an und für sich geregelten Berufsleben sein wird, werde ich
ihm sehr gern auch für längere Zeit erlauben, einer so freundlichen
und ehrenden Einladung zu folgen." "Was das für
Widersprüche sind!" dachte Josie. Herr Pollunder war traurig
geworden. "Für einen Abend und eine Nacht steht es aber
wirklich fast nicht dafür." "Das war auch meine Meinung",
sagte der Onkel. "Man muss nehmen, was man bekommt", sagte
Herr Pollunder und lachte schon wieder. "Also, ich warte",
rief er Josie zu, welcher, da der Onkel nichts mehr sagte, davon
eilte. Als er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Büro nur
noch Herrn Pollunder, der Onkel war fortgegangen. Herr Pollunder
schüttelte Josie ganz glücklich beide Hände, als wolle er sich so
stark als möglich dessen vergewissern, dass Josie nun doch mitfahre.
Josie war noch ganz erhitzt von der Eile und schüttelte auch
seinerseits Herrn Pollunders Hände, er freute sich, den Ausflug
machen zu können. "Hat sich der Onkel nicht darüber geärgert,
dass ich fahre?" "Aber nein! Das hat er ja alles nicht so
ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt ihm eben am Herzen." "Hat
er es Ihnen selbst gesagt, dass er das Frühere nicht so ernst
gemeint hat?" "Oh ja", sagte Herr Pollunder gedehnt
und bewies damit, dass er nicht lügen konnte. "Es ist
merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zu
besuchen, trotzdem Sie doch sein Freund sind." Auch Herr
Pollunder konnte, trotzdem er dies nicht offen eingestand, keine
Erklärung dafür finden und beide dachten, als sie in Herrn
Pollunders Automobil durch den warmen Abend fuhren, noch lange
darüber nach, trotzdem sie gleich von andern Dingen sprachen.
Sie
saßen eng beieinander und Herr Pollunder hielt Josies Hand in der
seinen, während er erzählte. Josie wollte vieles über das Fräulein
Klara hören, als sei er ungeduldig über die lange Fahrt und könne
mit Hilfe der Erzählungen früher ankommen als in Wirklichkeit.
Trotzdem er am Abend noch niemals durch die New Yorker Straßen
gefahren war und über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke die
Richtung wechselnd, wie in einem Wirbelwind, der Lärm jagte, nicht
wie von Menschen verursacht, sondern wie ein fremdes Element,
kümmerte sich Josie, während er Herrn Poilunders Worte genau
aufzunehmen suchte, um nichts anderes, als um Herrn Pollunders dunkle
Weste, über die quer eine goldene Kette ruhig hing. Aus den Straßen,
wo das Publikum in großer, unverhüllter Furcht vor Verspätung im
fliegenden Schritt und in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile
gebracht waren, zu den Theatern drängte, kamen sie durch
Übergangsbezirke in die Vorstädte, wo ihr Automobil durch
Polizeileute zu Pferd immer wieder in Seitenstraßen gewiesen wurde,
da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern, die
im Streik standen, besetzt waren und nur der notwendigste
Wagenverkehr an den Kreuzungsstellen gestattet werden konnte.
Durchquerte dann das Automobil aus dunkleren, dumpf hallenden Gassen
kommend, eine dieser ganzen Plätzen gleichenden Straßen, dann
erschienen nach beiden Seiten hin in Perspektiven, denen niemand bis
zum Ende folgen konnte, die Trottoire angefüllt mit einer in
winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren Gesang einheitlicher
war, als der einer einzigen Menschenstimme. In der freigehaltenen
Fahrbahn aber sah man hier und da einen Polizisten auf unbeweglichem
Pferd oder Träger von Fahnen oder beschriebenen, über die Straße
gespannten, Tüchern oder einen von Mitarbeitern und Ordonnanzen
umgebenen Arbeiterführer oder einen Wagen der elektrischen
Straßenbahn, der sich nicht rasch genug geflüchtet hatte und nun
leer und dunkel dastand, während der Führer und der Schaffner auf
der Plattform saßen. Kleine Trupps von Neugierigen standen weit
entfernt von den wirklichen Demonstranten und verließen ihre Plätze
nicht, trotzdem sie über die eigentlichen Ereignisse im Unklaren
blieben. Josie aber lehnte froh in dem Arm, den Herr Pollunder um ihn
gelegt hatte, die Überzeugung, dass er bald in einem beleuchteten,
von Mauern umgebenen, von Hunden bewachten Landhause ein willkommener
Gast sein werde; dies tat ihm über alle Maßen Wohl und wenn er auch
wegen einer beginnenden Schläfrigkeit, nicht mehr alles, was Herr
Pollunder sagte, fehlerlos oder wenigstens nicht ohne Unterbrechungen
auffasste, so raffte er sich doch von Zeit zu Zeit auf und wischte
sich die Augen, um wieder für eine Weile festzustellen, ob Herr
Pollunder seine Schläfrigkeit bemerke, denn das wollte er um jeden
Preis vermieden wissen.
Kapitel
III: "Ein Landhaus bei New York"
"Wir
sind angekommen", sagte Herr Pollunder gerade in einem von
Josies verlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus,
das, nach der Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung New
Yorks, umfangreicher und höher war, als es sonst für ein Landhaus
nötig ist, das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere
Teil des Hauses beleuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wie
weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume,
zwischen denen — das Gitter war schon geöffnet — ein kurzer Weg
zur Freitreppe des Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim
Aussteigen glaubte Josie zu bemerken, dass die Fahrt doch ziemlich
lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte er eine
Mädchenstimme neben sich sagen: "Da ist ja endlich der Herr
Jakob." "Ich heiße Rossmann", sagte Josie und fasste
die ihm hin gereichte Hand eines Mädchens, das er jetzt in Umrissen
erkannte. "Er ist ja nur Jakobs Neffe", sagte Herr
Pollunder erklärend, "und heißt selbst Josie Rossmann."
"Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hier zu haben",
sagte das Mädchen, dem an Namen nicht viel lag. Trotzdem fragte
Josie noch, während er zwischen Herrn Pollunder und dem Mädchen auf
das Haus zuschritt: "Sie sind das Fräulein Klara?" "Ja",
sagte sie und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht vom Hause
her auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, "ich wollte mich aber
hier in der Finsternis nicht vorstellen." "Ja hat sie uns
denn am Gitter erwartet?" dachte Josie, der im Gehen allmählich
aufwachte. "Wir haben übrigens noch einen Gast heute Abend",
sagte Klara. "Nicht möglich!" rief Pollunder ärgerlich.
"Herrn Green", sagte Klara. "Wann ist er gekommen?"
fragte Josie wie in einer Ahnung befangen. "Vor einem
Augenblick. Habt ihr denn sein Automobil nicht vor dem euren gehört?"
Josie sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er die Sache
beurteile, aber der hatte die Hände in den Hosentaschen und stampfte
bloß etwas stärker im Gehn. "Es nützt nichts nur knapp
außerhalb New Yorks zu wohnen, von Störungen bleibt man nicht
verschont. Wir werden unsern Wohnsitz unbedingt noch weiter verlegen
müssen. Und sollte ich die halbe Nacht durchfahren müssen, ehe ich
nach Hause komme." Sie blieben an der Freitreppe stehn. "Aber
Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier", sagte Klara,
die offenbar mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber
über sich heraus beruhigen wollte. "Warum kommt er dann gerade
heute Abend", sagte Pollunder und die Rede rollte schon wütend
über die wulstige Unterlippe, die als loses schweres Fleisch leicht
in große Bewegung kam. "Allerdings!" sagte Klara.
"Vielleicht wird er bald wieder weg gehn", bemerkte Josie
und staunte selbst über das Einverständnis, in welchem er sich mit
diesen noch gestern ihm gänzlich fremden Leuten befand. "Oh
nein", sagte Klara, "er hat irgendein großes Geschäft für
Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich lange dauern wird, denn er
hat mir schon im Spaß gedroht, dass ich wenn ich eine höfliche
Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werde zuhören müssen."
"Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht", rief
Pollunder, als sei damit endlich das Schlimmste erreicht. "Ich
hätte wahrhaftig Lust", sagte er und wurde freundlicher durch
den neuen Gedanken, "ich hätte wahrhaftig Lust, Sie Herr
Rossmann wieder ins Automobil zu nehmen und zu ihrem Onkel
zurückzubringen. Der heutige Abend ist schon von vornherein gestört
und wer weiß, wann Sie uns nächstens ihr Herr Onkel wieder
überlässt. Bringe ich Sie aber heute schon wieder zurück, so wird
er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können." Und er
fasste Josie schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen. Aber
Josie rührte sich nicht und Klara bat, ihn hier zu lassen, denn
zumindestens sie und Josie würden von Herrn Green nicht im
Geringsten gestört werden können und schließlich merkte auch
Pollunder, dass selbst sein Entschluss nicht der festeste war.
Überdies — und dies war vielleicht das Entscheidende — hörte
man plötzlich Herrn Green vom obersten Treppenaufsatz in den Garten
hinunter rufen: "Wo bleibt ihr denn?" "Kommt",
sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe ein. Hinter ihm gingen
Josie und Klara, die einander jetzt im Licht studierten. "Die
roten Lippen, die sie hat", sagte sich Josie und dachte an die
Lippen des Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der Tochter
verwandelt hatten. "Nach dem Nachtmahl", so sagte sie,
"werden wir, wenn es ihnen recht ist, gleich in meine Zimmer
gehn, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind, wenn schon
Papa sich mit ihm beschäftigen muss. Und Sie werden dann so
freundlich sein mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon
erzählt, wie gut Sie das treffen, ich aber bin leider ganz unfähig
Musik auszuüben und rühre mein Klavier nicht an, so sehr ich die
Musik eigentlich liebe." Mit dem Vorschlag Klaras war Josie ganz
einverstanden, wenn er auch gern Herrn Pollunder mit in ihre
Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigen Gestalt Greens —
an Pollunders Größe hatte sich Josie eben schon gewöhnt — die
sich vor ihnen, wie sie die Stufen hinauf stiegen, langsam
entwickelte, wich allerdings von Josie jede Hoffnung, diesem Manne
den Herrn Pollunder heute Abend irgendwie zu entlocken.
Herr
Green empfing sie sehr eilig, als sei vieles einzuholen, nahm Herrn
Pollunders Arm und schob Josie und Klara vor sich in das
Speisezimmer, das besonders infolge der Blumen auf dem Tische, die
sich aus Streifen frischen Laubes halb aufrichteten, sehr festlich
aussah und doppelt die Anwesenheit des störenden Herrn Green
bedauern ließ. Gerade freute sich noch Josie, der beim Tische
wartete, bis die andern sich setzten, dass die große Glastüre zum
Garten hin offen bleiben würde, denn ein starker Duft wehte herein
wie in eine Gartenlaube, da machte sich gerade Herr Green unter
Schnaufen daran, diese Glastüre zuzumachen, bückte sich nach den
untersten Riegeln, streckte sich nach den obersten und alles so
jugendlich rasch, dass der herbei eilende Diener nichts mehr zu tun
fand. Die ersten Worte des Herrn Green bei Tische waren Ausdrücke
des Staunens darüber, dass Josie die Erlaubnis des Onkels zu diesem
Besuche bekommen hatte. Einen gefüllten Suppenlöffel nach dem
andern hob er zum Mund und erklärte rechts zu Klara, links zu Herrn
Pollunder, warum er so staune und wie der Onkel über Josie wache und
wie die Liebe des Onkels zu Josie zu groß sei, als dass man sie noch
die Liebe eines Onkels nennen könne. "Nicht genug, dass er sich
hier unnötig einmischt, mischt er sich noch gleichzeitig zwischen
mich und den Onkel ein", dachte Josie und konnte keinen Schluck
der goldfarbigen Suppe hinunter bringen. Dann wollte er sich aber
wieder nicht anmerken lassen, wie gestört er sich fühlte, und
begann die Suppe stumm in sich hinein zu schütten. Das Essen verging
langsam wie eine Plage. Nur Herr Green und höchstens noch Klara
waren lebhaft und fanden mitunter Gelegenheit zu einem kurzen Lachen.
Herr Pollunder verfing sich nur einige Mal in die Unterhaltung, wenn
Herr Green von Geschäften zu sprechen anfing. Doch zog er sich auch
von solchen Gesprächen bald zurück und Herr Green musste ihn nach
einiger Zeit wieder unvermutet damit überraschen. Er legte übrigens
Gewicht darauf — und da war es, dass Josie, der aufhorchte, als
drohe etwas, von Klara darauf aufmerksam gemacht werden musste, dass
der Braten vor ihm stand und er bei einem Abendessen war — dass er
von vornherein nicht die Absicht gehabt habe, diesen unerwarteten
Besuch zu machen. Denn wenn auch das Geschäft, von dem noch
gesprochen werden solle, von besonderer Dringlichkeit sei, so hätte
wenigstens das Wichtigste heute in der Stadt verhandelt und das
Nebensächlichere für morgen oder später aufgespart werden können.
Und so sei er auch tatsächlich noch lange vor Geschäftsschluss bei
Herrn Pollunder gewesen, habe ihn aber nicht angetroffen, so dass er
gezwungen gewesen sei, nach Hause zu telefonieren, dass er über
Nacht ausbleibe, und heraus zu fahren. "Dann muss ich um
Entschuldigung bitten", sagte Josie laut und ehe jemand Zeit zur
Antwort hatte, "denn ich bin daran Schuld, dass Herr Pollunder
sein Geschäft heute früher verließ und es tut mir sehr leid."
Herr Pollunder bedeckte den größern Teil seines Gesichtes mit der
Serviette, während Klara Josie zwar anlächelte, doch war es kein
teilnehmendes Lächeln, sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen
sollte. "Da braucht es keine Entschuldigung", sagte Herr
Green, der gerade eine Taube mit scharfen Schnitten zerlegte, "ganz
im Gegenteil, ich bin ja froh, den Abend in so angenehmer
Gesellschaft zu verbringen, statt das Nachtmahl allein zuhause
einzunehmen, wo mich meine alte Wirtschafterin bedient, die so alt
ist, dass ihr schon der Weg von der Tür zu meinem Tisch schwer fällt
und ich mich für lange in meinem Sessel zurück lehnen kann, wenn
ich sie auf diesem Gang beobachten will. Erst vor Kurzem habe ich
durchgesetzt, dass der Diener die Speisen bis zur Tür des
Speisezimmers bringt, der Weg aber von der Tür zu meinem Tisch
gehört ihr, so weit ich sie verstehe." "Mein Gott",
rief Klara, "ist das eine Treue!" "Ja, es gibt noch
Treue auf der Welt", sagte Herr Green und führte einen Bissen
in den Mund, wo die Zunge, wie Josie zufällig bemerkte, mit einem
Schwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand auf.
Fast gleichzeitig griffen Herr Pollunder und Klara nach seinen
Händen. "Sie müssen noch sitzen bleiben", sagte Klara.
Und als er sich wieder gesetzt hatte, flüsterte sie ihm zu: "Wir
werden bald zusammen verschwinden. Haben Sie Geduld." Herr Green
hatte sich inzwischen ruhig mit seinem Essen beschäftigt, als sei es
Herrn Pollunders und Klaras natürliche Aufgabe, Josie zu beruhigen,
wenn er ihm Übelkeiten verursachte.
Das
Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der
Herr Green jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war,
jeden neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen; es bekam wirklich den
Anschein, als wolle er sich von seiner alten Wirtschafterin gründlich
erholen. Hin und wieder lobte er Fräulein Klaras Kunst in der
Führung des Hauswesens, was ihr sichtlich schmeichelte, während
Josie versucht war ihn abzuwehren, als greife er sie an. Aber Herr
Green begnügte sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte öfters,
ohne vom Teller aufzusehn, die auffallende Appetitlosigkeit Josies.
Herr Pollunder nahm Josies Appetit in Schutz, trotzdem er als
Gastgeber Josie auch zum Essen hätte aufmuntern sollen. Und
tatsächlich fühlte sich Josie durch den Zwang, unter dem er während
des ganzen Nachtmahls litt, so empfindlich, dass er gegen die eigene
bessere Einsicht diese Äußerung Herrn Pollunders als
Unfreundlichkeit auslegte. Und es entsprach nur diesem seinem
Zustand, dass er einmal ganz unpassend rasch und viel aß und dann
wieder für lange Zeit müde Gabel und Messer sinken ließ und der
unbeweglichste der Gesellschaft war, mit dem der Diener, der die
Speisen reichte, oft nichts anzufangen wusste.
"Ich
werde schon morgen dem Herrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein
Klara durch ihr Nichtessen gekränkt haben", sagte Herr Green
und beschränkte sich darauf, die spaßige Absicht dieser Worte durch
die Art, wie er mit dem Besteck hantierte auszudrücken. "Sehen
Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist", fuhr er fort und
griff Klara unters Kinn. Sie ließ es geschehn und schloss die Augen.
"Du Dingschen", rief er, lehnte sich zurück und lachte
hochrot im Gesicht mit der Kraft des Gesättigten. Vergebens suchte
sich Josie das Benehmen Herrn Pollunders zu erklären. Der saß vor
seinem Teller und sah in ihn, als geschehe dort das eigentlich
Wichtige. Er zog Josies Sessel nicht näher zu sich und wenn er
einmal sprach, so sprach er zu allen, aber zu Josie hatte er nichts
Besonderes zu reden. Dagegen duldete er, dass Green, dieser alte,
ausgepichte New Yorker Junggeselle, mit deutlicher Absicht Klara
berührte, dass er Josie, Pollunders Gast, beleidigte oder wenigstens
als Kind behandelte und wer weiß zu welchen Taten sich stärkte und
vordrang.
Nach
Aufhebung der Tafel — als Green die allgemeine Stimmung merkte, war
er der erste, der aufstand und gewissermaßen alle mit sich erhob —
ging Josie allein abseits zu einem der großen, durch schmale, weiße
Leisten geteilten Fenster, die zur Terrasse führten und die
eigentlich, wie er beim Nähertreten merkte, richtige Türen waren.
Was war von der Abneigung übrig geblieben, die Herr Pollunder und
seine Tochter anfangs gegenüber Green gefühlt hatten und die damals
Josie etwas unverständlich vorgekommen war. Jetzt standen sie mit
Green beisammen und nickten ihm zu. Der Rauch aus Herrn Greens
Zigarre, einem Geschenk Pollunders, die von jener Dicke war, von der
der Vater zuhause hier und da als von einer Tatsache zu erzählen
pflegte, die er wahrscheinlich selbst mit eigenen Augen niemals
gesehen hatte, verbreitete sich in dem Saal und trug Greens Einfluss
auch in Winkel und Nischen, die er persönlich niemals betreten
würde. So weit entfernt Josie auch stand, noch er spürte von dem
Rauch einen Kitzel in der Nase und das Benehmen Herrn Greens, nach
welchem er sich von seinem Platz aus nur einmal schnell umsah,
erschien ihm infam. Jetzt hielt er es gar nicht mehr für
ausgeschlossen, dass ihm der Onkel die Erlaubnis zu diesem Besuch nur
deshalb so lange verweigert hatte, weil er den schwachen Charakter
Herrn Pollunders kannte und infolgedessen eine Kränkung Josies bei
diesem Besuch wenn auch nicht genau voraussah, so doch im Bereich der
Möglichkeit erblickte. Auch das amerikanische Mädchen gefiel ihm
nicht, trotzdem er sich sie durchaus nicht etwa viel schöner
vorgestellt hatte. Seitdem sich Herr Green mit ihr abgegeben hatte,
war er sogar überrascht von der Schönheit, deren ihr Gesicht fähig
war, und besonders von dem Glanz ihrer unbändig bewegten Augen.
Einen Rock, der so fest wie der ihre den Körper umschlossen hätte,
hatte er noch niemals gesehen: Kleine Falten in dem gelblichen,
zarten und festen Stoff zeigten die Stärke der Spannung. Und doch
lag Josie gar nichts an ihr und er hätte gern darauf verzichtet, auf
ihre Zimmer geführt zu werden, wenn er statt dessen die Tür auf
deren Klinke er für jeden Fall die Hände gelegt hatte, hätte
öffnen, ins Automobil steigen oder wenn der Chauffeur schon schlief,
nach New York allein hätte spazieren dürfen. Die klare Nacht mit
dem ihm zugeneigten vollen Mond stand frei für jedermann, und
draußen im Freien vielleicht Furcht zu haben, schien Josie sinnlos.
Er stellte sich vor — und zum ersten Mal wurde ihm in diesem Saale
wohl — wie er am Morgen — früher dürfte er kaum zu Fuß nach
Hause kommen — den Onkel überraschen wollte. Er war zwar noch
niemals in seinem Schlafzimmer gewesen, wusste auch gar nicht, wo es
lag, aber er wollte es schon erfragen. Dann wollte er anklopfen und
auf das förmliche "Herein!" ins Zimmer laufen und den
lieben Onkel, den er bisher immer nur bis hoch hinauf angezogen und
zugeknöpft kannte, aufrecht im Bette sitzend, die Augen erstaunt zur
Tür gerichtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja an und für
sich vielleicht noch nicht viel, aber man musste nur ausdenken, was
das zur Folge haben konnte! Vielleicht würde er zum ersten Mal
gemeinsam mit seinem Onkel frühstücken, der Onkel im Bett, er auf
einem Sessel, das Frühstück auf einem Tischchen zwischen ihnen,
vielleicht würde dieses gemeinsame Frühstück zu einer ständigen
Einrichtung werden, vielleicht würden sie in Folge dieser Art
Frühstück, was sogar kaum zu vermeiden war, öfters als wie bisher
bloß einmal während des Tages zusammenkommen und dann natürlich
auch offener miteinander reden können. Es lag ja schließlich nur an
dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel
gegenüber etwas unfolgsam oder besser starrköpfig gewesen war. Und
wenn er auch heute über Nacht hier bleiben musste — es sah leider
ganz danach aus, trotzdem man ihn hier beim Fenster stehn und auf
eigene Faust sich unterhalten ließ — vielleicht wurde dieser
unglückliche Besuch der Wendepunkt zum Bessern in dem Verhältnis
zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmer heute
Abend ähnliche Gedanken.
Ein
wenig getröstet wendete er sich um. Klara stand vor ihm und sagte:
"Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier
nicht ein wenig heimisch fühlen? Kommen Sie, ich will den letzten
Versuch machen." Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe.
An einem Seitentisch saßen die beiden Herren bei leicht schäumenden,
in hohe Gläser gefüllten Getränken, die Josie unbekannt waren und
die er zu verkosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einen
Ellbogen auf dem Tisch und sein ganzes Gesicht Herrn Pollunder
möglichst nahe gerückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt
hätte, hätte man ganz gut annehmen können, es werde hier etwas
Verbrecherisches besprochen und kein Geschäft. Während Herr
Pollunder mit freundlichem Blick Josie zur Türe folgte, sah sich
Green, trotzdem man doch schon unwillkürlich sich den Blicken seines
Gegenübers anzuschließen pflegt, auch nicht im Geringsten nach
Josie um, welchem in diesem Benehmen der Ausdruck einer Art
Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Josie für sich, und
Green für sich solle hier mit seinen Fähigkeiten auszukommen
versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischen ihnen
werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung
eines von beiden herstellen. "Wenn er das meint", sagte
sich Josie, "dann ist er ein Narr. Ich will wahrhaftig nichts
von ihm und er soll mich auch in Ruhe lassen." Kaum war er auf
den Gang getreten, fiel ihm ein, dass er sich wahrscheinlich
unhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augen
hatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto
williger ging er jetzt neben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge
traute er zuerst seinen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte
einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchter stehen sah,
dessen dicken Schaft jener mit beiden Händen umschlossen hielt. "Die
neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt",
erklärte Klara. "Wir haben dieses Haus erst vor Kurzem gekauft
und es gänzlich umbauen lassen, so weit sich ein altes Haus mit
seiner eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen lässt." "Da
gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser", sagte Josie.
"Natürlich", sagte Klara lachend und zog ihn weiter. "Sie
haben merkwürdige Begriffe von Amerika." "Sie sollen mich
nicht auslachen", sagte er ärgerlich. Schließlich kannte er
schon Europa und Amerika, sie aber nur Amerika.
Im
Vorübergehn stieß Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine Tür
auf und sagte ohne anzuhalten: "Hier werden Sie schlafen."
Josie wollte natürlich das Zimmer sich gleich anschauen, aber Klara
erklärte ungeduldig und fast schreiend, das habe doch Zeit und er
solle nur vorher mitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenig hin
und her, schließlich meinte Josie, er müsse sich nicht in allem
nach Klara richten, riss sich los und trat in das Zimmer. Ein
überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch einen
Baumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörte
Vögelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht
war, konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. Josie
bedauerte die elektrische Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt
bekommen hatte, nicht mitgenommen zu haben. In diesem Hause war ja
eine Taschenlampe unentbehrlich, hätte man ein paar solcher Lampen
gehabt, hätte man die Diener schlafen schicken können. Er setzte
sich aufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus. Ein aufgestörter
Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumes zu drängen.
Die Pfeife eines New Yorker Vorortzuges erklang irgendwo im Land.
Sonst war es still.
Aber
nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich bös rief sie:
"Was soll denn das?" und klatschte auf ihren Rock. Josie
wollte erst antworten, bis sie höflicher war. Aber sie ging mit
großen Schritten auf ihn zu, rief: "Also wollen Sie mit mir
kommen oder nicht?" und stieß ihn mit Absicht oder bloß in der
Erregung derartig an die Brust, dass er aus dem Fenster gestürzt
wäre, hätte er nicht noch im letzten Augenblick vom Fensterbrett
gleitend mit den Füßen den Zimmerboden berührt. "Jetzt wäre
ich bald heraus gefallen", sagte er vorwurfsvoll. "Schade,
dass es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig. Ich stoße
Sie noch einmal hinunter." Und wirklich umfasste sie ihn und
trug ihn, der verblüfft sich zuerst schwer zu machen vergaß, mit
ihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aber dort
besann er sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und
umfasste nun sie. "Ach, Sie tun mir weh", sagte sie gleich.
Aber nun glaubte sie Josie nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ
ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber
und ließ sie nicht los. Es war auch so leicht, sie in ihrem engen
Kleid zu umfassen. "Lassen Sie mich", flüsterte sie, das
erhitzte Gesicht eng an seinem; er musste sich anstrengen sie zu
sehn, so nahe war sie ihm, "lassen Sie mich, ich werde ihnen
etwas Schönes geben." "Warum seufzt sie so", dachte
Josie, "es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht",
und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich, nach einem
Augenblick unachtsamen, schweigenden Dastehns fühlte er wieder ihre
wachsende Kraft an seinem Leib und sie hatte sich ihm entwunden,
fasste ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit
Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor
sich mit großartiger Regelmäßigkeit Atem holend gegen die Wand.
Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Josie hin und sagte,
ohne sich allzu sehr zu ihm hinab zu beugen: "Jetzt rühr dich,
wenn du kannst." "Katze, tolle Katze", konnte Josie
gerade noch aus dem Durcheinander von Wut und Scham rufen, in dem er
sich befand. "Du bist ja wahnsinnig, du tolle Katze." "Gib
Acht auf deine Worte", sagte sie und ließ die eine Hand zu
seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfing, dass Josie
ganz unfähig war, etwas anderes zu tun, als Luft zu schnappen,
während sie mit der andern Hand an seine Wange fuhr, wie probeweise
sie berührte, sie wieder und zwar immer weiter in die Luft zurückzog
und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfahren lassen konnte.
"Wie wäre es", fragte sie dabei, "wenn ich dich zur
Strafe für dein Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen
Ohrfeige nach Hause schicken wollte. Vielleicht wäre es dir nützlich
für deinen künftigen Lebensweg, wenn es auch keine schöne
Erinnerung abgeben würde. Du tust mir ja leid und bist ein
erträglich hübscher Junge und hättest du Jiu-Jitsu gelernt,
hättest du wahrscheinlich mich durchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem —
es verlockt mich geradezu riesig dich zu ohrfeigen, so wie du jetzt
daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern, wenn ich es aber tun
sollte, so wisse schon jetzt, dass ich es fast gegen meinen Willen
tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer
Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis dir die
Backen anschwellen. Und vielleicht bist du ein Ehrenmann — ich
möchte es fast glauben — und wirst mit den Ohrfeigen nicht
weiterleben wollen und dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist du
auch so gegen mich gewesen. Gefalle ich dir vielleicht nicht? Lohnt
es sich nicht auf mein Zimmer zu kommen? Achtung! Jetzt hätte ich
dir schon fast unversehens die Ohrfeige aufgepelzt. Wenn du heute
also noch so loskommen solltest, benimm dich nächstens feiner. Ich
bin nicht dein Onkel, mit dem du trotzen kannst. Im Übrigen will ich
dich noch darauf aufmerksam machen, dass wenn ich dich ungeohrfeigt
loslasse, du nicht glauben musst, dass deine jetzige Lage und
wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das Gleiche
sind, solltest du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehn,
dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm
das alles erzähle." Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Josie
los, in seinen undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wie ein
Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen Klaras Hand an seinem Hals,
wand sich daher noch ein wenig und lag dann still.
Sie
forderte ihn auf aufzustehen, er antwortete nicht und rührte sich
nicht. Sie entzündete irgendwo eine Kerze, das Zimmer bekam Licht,
ein blaues Zickzackmuster erschien auf dem Deckengetäfel, aber Josie
lag, den Kopf aufs Sofapolster aufgestützt, so wie ihn Klara
gebettet hatte, und wendete ihn nicht einen Finger breit. Klara ging
im Zimmer herum, ihr Rock rauschte um ihre Beine, wahrscheinlich beim
Fenster blieb sie eine lange Weile stehn. "Ausgetrotzt?"
hörte man sie dann fragen. Josie empfand es schwer, in diesem
Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunder für diese Nacht zugedacht
war, keine Ruhe bekommen zu können. Da wanderte dieses Mädchen
herum, blieb stehn und redete und er hatte sie doch so
unaussprechlich satt. Rasch schlafen und von hier fort gehn war sein
einziger Wunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, sondern nur hier
auf dem Kanapee bleiben. Er lauerte nur darauf, dass sie wegginge, um
hinter ihr her zur Tür zu springen, sie zu verriegeln und dann
wieder zurück auf das Kanapee sich zu werfen. Er hatte ein solches
Bedürfnis sich zu strecken und zu gähnen, aber vor Klara wollte er
das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte sein Gesicht
immer unbeweglicher werden und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte
ihm vor den Augen, ohne dass er recht wusste, was es war.
Klara
trat wieder zu ihm, beugte sich in die Richtung seiner Blicke und
hätte er sich nicht bezwungen, hätte er sie schon anschauen müssen.
"Ich gehe jetzt", sagte sie. "Vielleicht bekommst du
später Lust zu mir zu kommen. Die Tür zu meinen Zimmern ist die
vierte von dieser Tür aus gerechnet, auf dieser Seite des Ganges. Du
gehst also an drei weiteren Türen vorüber und die, zu welcher du
dann kommst, ist die richtige. Ich gehe nicht mehr hinunter in den
Saal, sondern bleibe schon in meinem Zimmer. Du hast mich aber auch
ordentlich müde gemacht. Ich werde nicht gerade auf dich warten,
aber wenn du kommen willst, so komm. Erinnere dich, dass du
versprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen. Aber vielleicht
habe ich dich ganz entnervt und du kannst dich nicht mehr rühren,
dann bleib und schlaf dich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von
unserer Rauferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, dass dir
das Sorge machen sollte." Darauf lief sie trotz ihrer
angeblichen Müdigkeit mit zwei Sprüngen aus dem Zimmer.
Sofort
setzte sich Josie aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich
geworden. Um ein wenig Bewegung zu machen, ging er zur Tür und sah
auf den Gang hinaus. War dort aber eine Finsternis! Er war froh, als
er die Tür zugemacht und abgesperrt hatte, und wieder bei seinem
Tisch im Schein der Kerze stand. Sein Entschluss war, nicht länger
in diesem Haus zu bleiben, sondern hinunter zu Herrn Pollunder zu
gehn, ihm offen zu sagen, wie ihn Klara behandelt hatte — am
Eingeständnis seiner Niederlage lag ihm gar nichts — und mit
dieser wohl genügenden Begründung um die Erlaubnis zu bitten, nach
Hause fahren oder gehn zu dürfen. Sollte Herr Pollunder etwas gegen
diese sofortige Heimkehr einzuwenden haben, dann wollte ihn Josie
wenigstens bitten, ihn durch einen Diener zum nächsten Hotel führen
zu lassen. In dieser Weise, wie sie Josie plante, ging man zwar sonst
in der Regel nicht mit freundlichen Gastgebern um, aber noch seltener
ging man mit einem Gaste derartig um wie es Klara getan hatte. Sie
hatte sogar noch ihr Versprechen, dem Herrn Pollunder von der
Rauferei vorläufig nichts zu sagen, für eine Freundlichkeit
gehalten, das war aber schon Himmel schreiend. Ja war denn Josie zu
einem Ringkampf eingeladen worden, so dass es für ihn beschämend
gewesen wäre, von einem Mädchen geworfen zu werden, das
wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens mit dem Lernen von
Ringkämpferkniffen verbracht hatte. Am Ende hatte sie gar von Mack
Unterricht bekommen. Mochte sie ihm nur alles erzählen, der war
sicher einsichtig, das wusste Josie, trotzdem er niemals Gelegenheit
gehabt hatte, das im Einzelnen zu erfahren. Josie wusste aber auch,
dass wenn Mack ihn unterrichten würde, er noch viel größere
Fortschritte als Klara machen würde; dann käme er eines Tages
wieder hierher, höchstwahrscheinlich uneingeladen, untersuchte
natürlich zuerst die Örtlichkeit, deren genaue Kenntnis ein großer
Vorteil Klaras gewesen war, packte dann diese gleiche Klara und
klopfte mit ihr das gleiche Kanapee aus, auf das sie ihn heute
geworfen hatte.
Jetzt
handelte es sich nur darum, den Weg zum Saal zurück zu finden, wo er
ja wahrscheinlich auch seinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf
einen unpassenden Platz gelegt hatte. Die Kerze wollte er natürlich
mitnehmen, aber selbst bei Licht war es nicht leicht sich
auszukennen. Er wusste z.B. nicht einmal, ob dieses Zimmer in der
gleichen Ebene, wie der Saal gelegen war. Klara hatte ihn auf dem
Herweg immer so gezogen, dass er sich gar nicht hatte umsehn können,
Herr Green und die Leuchter tragenden Diener hatten ihm auch zu
denken gegeben, kurz, er wusste jetzt tatsächlich nicht einmal ob
sie eine oder zwei oder vielleicht gar keine Treppe passiert hatten.
Nach der Aussicht zu schließen lag das Zimmer ziemlich hoch und er
suchte sich deshalb einzubilden, dass sie über Treppen gekommen
waren, aber schon zum Hauseingang hatte man ja über Treppen steigen
müssen, warum konnte nicht auch diese Seite des Hauses erhöht sein.
Aber wenn wenigstens auf dem Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer
Tür zu sehen oder eine Stimme aus der Ferne auch noch so leise zu
hören gewesen wäre.
Seine
Taschenuhr, ein Geschenk des Onkels, zeigte elf Uhr, er nahm die
Kerze und ging auf den Gang hinaus. Die Tür ließ er offen, um für
den Fall, dass sein Suchen vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer
wiederzufinden und danach für den äußersten Notfall die Tür zu
Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit sich die Türe nicht von selbst
schließe, verstellte er sie mit einem Sessel. Auf dem Gange zeigte
sich der Übelstand, dass gegen Josie — er ging natürlich von
Klaras Türe weg nach links zu — ein Luftzug strich, der zwar ganz
schwach war, aber immerhin leicht die Kerze hätte auslöschen
können, so dass Josie die Flamme mit der Hand schützen und überdies
öfters stehen bleiben musste, damit die niedergedrückte Flamme sich
erhole. Es war ein langsames Vorwärtskommen und der Weg schien
dadurch doppelt lang.
Josie
war schon an großen Strecken der Wände vorüber gekommen, die
gänzlich ohne Türen waren, man konnte sich nicht vorstellen, was
dahinter war. Dann kam wieder Tür an Tür, er versuchte mehrere zu
öffnen, sie waren versperrt und die Räume offenbar unbewohnt. Es
war eine Raumverschwendung sondergleichen und Josie dachte an die
östlichen New Yorker Quartiere, die ihm der Onkel zu zeigen
versprochen hatte, wo angeblich in einem kleinen Zimmer mehrere
Familien wohnten und das Heim einer Familie in einem Zimmerwinkel
bestand, in dem sich die Kinder um ihre Eltern scharten. Und hier
standen so viele Zimmer leer und waren nur dazu da, um hohl zu
klingen, wenn man an die Türe schlug. Herr Pollunder schien Josie
irregeführt zu sein von falschen Freunden, und vernarrt in seine
Tochter und dadurch verdorben. Der Onkel hatte ihn sicher richtig
beurteilt und nur sein Grundsatz, auf die Menschenbeurteilung Josies
keinen Einfluss zu nehmen, war schuld an diesem Besuch und an diesen
Wanderungen auf den Gängen. Josie wollte das morgen dem Onkel ohne
weiters sagen, denn nach seinem Grundsatz würde der Onkel auch das
Urteil des Neffen über ihn gerne und ruhig anhören. Überdies war
dieser Grundsatz vielleicht das einzige, was Josie an seinem Onkel
nicht gefiel und selbst dieses Nichtgefallen war nicht unbedingt.
Plötzlich
hörte die Wand an der einen Gangseite auf und ein eiskaltes,
marmornes Geländer trat an ihre Stelle. Josie stellte die Kerze
neben sich und beugte sich vorsichtig hinüber. Dunkle Leere wehte
ihm entgegen. Wenn das die Haupthalle des Hauses war — im Schimmer
der Kerze erschien ein Stück einer gewölbeartig geführten Decke —
warum war man nicht durch diese Halle eingetreten? Wozu diente nur
dieser große tiefe Raum? Man stand ja hier oben wie auf der Galerie
einer Kirche. Josie bedauerte fast, nicht bis morgen in diesem Hause
bleiben zu können, er hätte gern bei Tageslicht von Herrn Pollunder
sich überall herumführen und über alles unterrichten lassen.
Das
Geländer war übrigens nicht lang und bald wurde Josie wieder vom
geschlossenen Gang aufgenommen. Bei einer plötzlichen Wendung des
Ganges stieß Josie mit ganzer Wucht an die Mauer und nur die
ununterbrochene Sorgfalt, mit der er die Kerze krampfhaft hielt,
bewahrte sie glücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen. Da der
Gang kein Ende nehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick
gab, weder in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas rührte, dachte
Josie schon daran, er gehe immerfort im gleichen Kreisgang in der
Runde und hoffte schon, die offene Türe seines Zimmers vielleicht
wieder zu finden, aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder.
Bis jetzt hatte sich Josie von lautem Rufen zurückgehalten, denn er
wollte in einem fremden Haus zu so später Stunde keinen Lärm
machen, aber jetzt sah er ein, dass es in diesem unbeleuchteten Hause
kein Unrecht war und machte sich gerade daran, nach beiden Seiten des
Ganges ein lautes Hallo zu schreien, als er in der Richtung, aus der
er gekommen war, ein kleines sich näherndes Licht bemerkte. Jetzt
konnte er erst die Länge des geraden Ganges abschätzen, das Haus
war eine Festung, keine Villa. Josies Freude über dieses rettende
Licht war so groß, dass er alle Vorsicht vergaß, und darauf zulief,
schon bei den ersten Sprüngen löschte seine Kerze aus. Er achtete
nicht darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hier kam ihm ein alter
Diener mit einer Laterne entgegen, der ihm den richtigen Weg schon
zeigen würde.
"Wer
sind Sie?" fragte der Diener und hielt Josie die Laterne ans
Gesicht, wodurch er gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein
Gesicht erschien etwas steif durch einen großen, weißen Vollbart,
der erst auf der Brust in seidenartige Ringel ausging.
Es
muss ein treuer Diener sein, dem man das Tragen eines solchen Bartes
erlaubt, dachte Josie und sah diesen Bart unverwandt der Länge und
Breite nach an, ohne sich dadurch behindert zu fühlen, dass er
selbst beobachtet wurde. Im Übrigen antwortete er sofort, dass er
der Gast des Herrn Pollunder sei, aus seinem Zimmer in das
Speisezimmer gehen wolle und es nicht finden könne. "Ach so",
sagte der Diener, "wir haben das elektrische Licht noch nicht
eingeführt." "Ich weiß", sagte Josie. "Wollen
Sie sich nicht ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?" fragte der
Diener. "Bitte", sagte Josie und tat es. "Es zieht
hier so auf den Gängen", sagte der Diener, "die Kerze
löscht leicht aus, darum habe ich eine Laterne." "Ja, eine
Laterne ist viel praktischer", sagte Josie. "Sie sind auch
schon von der Kerze ganz betropft", sagte der Diener und
leuchtete mit der Kerze Josies Anzug ab. "Das habe ich ja gar
nicht bemerkt", rief Josie und es tat ihm sehr leid, da es ein
schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm am
besten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch nicht
genützt haben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig
genug, den Anzug zu reinigen, so gut es in der Eile ging; immer
wieder drehte sich Josie vor ihm herum und zeigte ihm noch hier und
dort einen Flecken, den der Diener folgsam entfernte. "Warum
zieht es denn hier eigentlich so?" fragte Josie, als sie schon
weiter gingen. "Es ist hier eben noch viel zu bauen", sagte
der Diener, "man hat zwar mit dem Umbau schon angefangen, aber
es geht sehr langsam. Jetzt streiken auch noch die Bauarbeiter, wie
Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärger mit so einem Bau. Jetzt
sind da paar große Durchbrüche gemacht worden, die niemand
vermauert und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nicht
die Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehn." "Da
muss ich wohl lauter reden?" fragte Josie. "Nein, Sie haben
eine klare Stimme", sagte der Diener. "Aber um auf diesen
Bau zurückzukommen, besonders hier in der Nähe der Kapelle, die
später unbedingt von dem übrigen Haus abgesperrt werden muss, ist
die Zugluft gar nicht auszuhalten." "Die Brüstung, an der
man in diesem Gang vorüber kommt, geht also in eine Kapelle hinaus?"
"Ja." "Das habe ich mir gleich gedacht", sagte
Josie. "Sie ist sehr sehenswert", sagte der Diener, "wäre
sie nicht gewesen, hätte wohl Herr Mack das Haus nicht gekauft."
"Herr Mack?" fragte Josie, "ich dachte, das Haus
gehöre Herrn Pollunder." "Allerdings", sagte der
Diener, "aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag
gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?" "Oh ja", sagte
Josie. "Aber in welcher Verbindung ist er denn mit Herrn
Pollunder?" "Er ist der Bräutigam des Fräuleins",
sagte der Diener. "Das wusste ich freilich nicht", sagte
Josie und blieb stehn. "Setzt Sie das in solches Erstaunen?"
fragte der Diener. "Ich will es nur mir zurechtlegen. Wenn man
solche Beziehungen nicht kennt, kann man ja die größten Fehler
machen", antwortete Josie. "Es wundert mich nur, dass man
Ihnen davon nichts gesagt hat", sagte der Diener. "Ja
wirklich", sagte Josie beschämt. "Wahrscheinlich dachte
man, Sie wüssten es", sagte der Diener, "es ist ja keine
Neuigkeit. Hier sind wir übrigens", und er öffnete eine Tür,
hinter der sich eine Treppe zeigte, die senkrecht zu der Hintertüre
des ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchteten Speisezimmers
führte. Ehe Josie in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die
Stimmen Herrn Pollunders und Herrn Greens unverändert wie vor nun
wohl schon zwei Stunden hörte, sagte der Diener: "Wenn Sie
wollen, erwarte ich Sie hier und führe Sie dann in Ihr Zimmer. Es
macht immerhin Schwierigkeiten, sich gleich am ersten Abend hier
auszukennen." "Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurück
gehn", sagte Josie und wusste nicht, warum er bei dieser
Auskunft traurig wurde. "Es wird nicht so arg sein", sagte
der Diener ein wenig überlegen lächelnd und klopfte ihm auf den
Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Josies Worte dahin erklärt, dass
Josie beabsichtige, während der ganzen Nacht im Speisezimmer zu
bleiben, sich mit den Herren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken.
Josie wollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdem dachte er,
der Diener, der ihm besser gefiel als die andern hiesigen Diener,
könne ihm ja dann die Wegrichtung nach New York zeigen und sagte
deshalb: "Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicherlich
eine große Freundlichkeit von Ihnen und ich nehme sie dankbar an.
Jedenfalls werde ich in einer kleinen Weile herauskommen und Ihnen
dann sagen, was ich weiter tun werde. Ich denke schon, dass mir ihre
Hilfe noch nötig sein wird." "Gut", sagte der Diener,
stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich auf ein niedriges
Postament, dessen Leere wahrscheinlich auch mit dem Umbau des Hauses
zusammenhing, "ich werde also hier warten." "Die Kerze
können Sie auch bei mir lassen", sagte der Diener noch, als
Josie mit der brennenden Kerze in den Saal gehen wollte. "Ich
bin aber zerstreut", sagte Josie und reichte die Kerze dem
Diener hin, welcher ihm bloß zunickte, ohne dass man wusste, ob er
es mit Absicht tat oder ob es eine Folge dessen war, dass er mit der
Hand seinen Bart strich.
Josie
öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn sie
bestand aus einer einzigen Glasplatte, die sich fast bog, wenn die
Tür rasch geöffnet und nur an der Klinke fest gehalten wurde. Josie
ließ die Tür erschrocken los, denn er hatte gerade besonders still
eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehn, merkte er noch, wie
hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Postament
herabgestiegen war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch die
Türe schloss. "Verzeihen Sie, dass ich störe", sagte er
zu den beiden Herren, die ihn mit ihren großen, erstaunten
Gesichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog er mit einem Blick
den Saal, ob er nicht irgendwo schnell seinen Hut finden könne. Er
war aber nirgends zu sehn, der Esstisch war völlig abgeräumt,
vielleicht war der Hut unangenehmer Weise irgendwie in die Küche
fort getragen worden. "Wo haben Sie denn Klara gelassen?"
fragte Herr Pollunder, dem übrigens die Störung nicht unlieb
schien, denn er setzte sich gleich anders in seinem Fauteuil und
kehrte Josie seine ganze Front zu. Herr Green spielte den
Unbeteiligten, zog eine Brieftasche heraus, die an Größe und Dicke
ein Ungeheuer ihrer Art war, schien in den vielen Taschen ein
bestimmtes Stück zu suchen, las aber während des Suchens auch
andere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen. "Ich hätte
eine Bitte, die Sie nicht missverstehen dürfen", sagte Josie,
ging eiligst zu Herrn Pollunder hin und legte, um ihm recht nahe zu
sein, die Hand auf die Armlehne des Fauteuils. "Was soll denn
das für eine Bitte sein?" fragte Herr Pollunder und sah Josie
mit offenem, rückhaltlosem Blicke an. "Sie ist natürlich schon
erfüllt." Und er legte den Arm um Josie und zog ihn zu sich
zwischen seine Beine. Josie duldete das gerne, trotzdem er sich im
Allgemeinen doch für eine solche Behandlung allzu erwachsen fühlte.
Aber das Aussprechen seiner Bitte wurde natürlich schwieriger. "Wie
gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?" fragte Herr
Pollunder. "Scheint es Ihnen nicht auch, dass man auf dem Lande
sozusagen befreit wird, wenn man aus der Stadt herkommt. Im
allgemeinen" — und ein nicht misszuverstehender, durch Josie
etwas verdeckter Seitenblick ging auf Herrn Green — "im
Allgemeinen habe ich dieses Gefühl immer wieder, jeden Abend."
"Er spricht", dachte Josie, "als wüsste er nicht von
dem großen Haus, den endlosen Gängen, der Kapelle, den leeren
Zimmern, dem Dunkel überall." "Nun!" sagte Herr
Pollunder. "Die Bitte!" und er schüttelte Josie
freundschaftlich, der stumm dastand. "Ich bitte", sagte
Josie und so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ sich nicht
vermeiden, dass der daneben sitzende Green alles hörte, vor dem
Josie die Bitte, die möglicherweise als eine Beleidigung Pollunders
aufgefasst werden konnte, so gern verschwiegen hätte — "ich
bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, nach Hause."
Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere umso
schneller nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen,
Dinge an die er gar nicht eigentlich vorher gedacht hatte. "Ich
möchte um alles gerne nach Hause. Ich werde gerne wiederkommen, denn
wo Sie, Herr Pollunder, sind, dort bin ich auch gerne. Nur heute kann
ich nicht hier bleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis
zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine
guten Gründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir
herausgenommen, gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich
zu erzwingen. Ich habe seine Liebe zu mir einfach missbraucht. Was
für Bedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt
gleichgültig, ich weiß bloß ganz bestimmt, dass nichts in diesen
Bedenken war, was Sie, Herr Pollunder, kränken könnte, der Sie der
beste, der allerbeste Freund meines Onkels sind. Kein anderer kann
sich in der Freundschaft meines Onkels auch nur im Entferntesten mit
Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzige Entschuldigung für
meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie haben vielleicht
keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkel und
mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange
meine Englischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im
praktischen Handel nicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich
auf die Güte meines Onkels angewiesen, die ich allerdings als
Blutsverwandter genießen darf. Sie dürfen nicht glauben, dass ich
schon jetzt irgendwie mein Brot anständig — und vor allem andern
soll mich Gott bewahren — verdienen könnte. Dazu ist leider meine
Erziehung zu unpraktisch gewesen. Ich habe vier Klassen eines
europäischen Gymnasiums als Durchschnittsschüler durchgemacht und
das bedeutet für den Gelderwerb viel weniger als nichts, denn unsere
Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich. Sie würden lachen,
wenn ich Ihnen erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wenn man
weiter studiert, das Gymnasium zu Ende macht, an die Universität
geht, dann gleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie aus und man
hat zum Schluss eine geordnete Bildung, mit der sich etwas anfangen
lässt und die einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich
aber bin aus diesem zusammenhängenden Studium leider herausgerissen
worden, manchmal glaube ich, ich weiß gar nichts, und schließlich
wäre auch alles, was ich wissen könnte, für Amerika noch immer zu
wenig. Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hier und da
Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne Sprachen und
vielleicht auch Handelswissenschaften lernt, als ich aus der
Volksschule trat, gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar
im Englischen unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals
nicht ahnen, was für ein Unglück über mich kommen wird, und wie
ich das Englische brauchen werde, und zweitens musste ich für das
Gymnasium viel lernen, so dass ich für andere Beschäftigungen nicht
besonders viel Zeit hatte. — Ich erwähne das alles, um Ihnen zu
zeigen, wie abhängig ich von meinem Onkel bin und wie verpflichtet
infolgedessen ich ihm gegenüber auch bin. Sie werden sicher zugeben,
dass ich es mir bei solchen Verhältnissen nicht erlauben darf, auch
nur das geringste gegen seinen auch nur geahnten Willen zu tun. Und
darum muss ich, um den Fehler den ich ihm gegenüber begangen habe,
nur halbwegs wieder gut zu machen, sofort nachhause gehn."
Während dieser langen Rede Josies hatte Herr Pollunder aufmerksam
zugehört, öfters, besonders wenn der Onkel erwähnt wurde, Josie
wenn auch unmerklich an sich gedrückt und einige Male ernst und wie
erwartungsvoll zu Green hinüber gesehn, der sich weiterhin mit
seiner Brieftasche beschäftigte. Josie aber war, je deutlicher ihm
seine Stellung zum Onkel im Laufe seiner Rede zu Bewusstsein kam,
immer unruhiger geworden, hatte sich unwillkürlich aus dem Arm
Pollunders zu drängen gesucht, alles beengte ihn hier, der Weg zum
Onkel durch die Glastüre, über die Treppe, durch die Allee, über
die Landstraßen, durch die Vorstädte zur großen Verkehrsstraße,
einmündend in des Onkels Haus, erschien ihm als etwas streng
Zusammengehöriges, das leer, glatt und für ihn vorbereitet da lag
und mit einer starken Stimme nach ihm verlangte. Herrn Pollunders
Güte und Herrn Greens Abscheulichkeit verschwammen und er wollte aus
diesem rauchigen Zimmer nichts anderes für sich haben, als die
Erlaubnis zum Abschied nehmen. Zwar fühlte er sich gegen Herrn
Pollunder abgeschlossen, gegen Herrn Green kampfbereit und doch
erfüllte ihn rings herum eine unbestimmte Furcht, deren Stöße
seine Augen trübten.
Er
trat einen Schritt zurück und stand nun gleich weit von Herrn
Pollunder und von Herrn Green entfernt. "Wollten Sie ihm nicht
etwas sagen?" fragte Herr Pollunder Herrn Green und fasste wie
bittend Herrn Greens Hand. "Ich wüsste nichts, was ich ihm
sagen sollte?" sagte Herr Green, der endlich einen Brief aus
seiner Tasche gezogen und vor sich auf den Tisch gelegt hatte. "Es
ist recht lobenswert, dass er zu seinem Onkel zurückkehren will, und
nach menschlicher Voraussicht sollte man glauben, dass er dem Onkel
eine besondere Freude damit machen wird. Es müsste denn sein, dass
er durch seine Unfolgsamkeit den Onkel schon allzu böse gemacht hat,
was ja auch möglich ist. Dann allerdings wäre es besser, er bliebe
hier. Es ist eben schwer, etwas Bestimmtes zu sagen, wir sind zwar
beide Freunde des Onkels und es dürfte Mühe machen zwischen meiner
und Herrn Pollunders Freundschaft Rangunterschiede zu erkennen, aber
in das Innere des Onkels können wir nicht hineinschauen und ganz
besonders nicht über die vielen Kilometer hinweg, die uns hier von
New York trennen." "Bitte, Herr Green", sagte Josie
und näherte sich mit Selbstüberwindung Herrn Green, "ich höre
aus ihren Worten heraus, dass Sie es auch für das Beste halten, wenn
ich gleich zurückkehre." "Das habe ich durchaus nicht
gesagt", meinte Herr Green und vertiefte sich in das Anschauen
des Briefes, an dessen Rändern er mit zwei Fingern hin und her fuhr.
Er schien damit andeuten zu wollen, dass er von Herrn Pollunder
gefragt worden sei, ihm auch geantwortet habe, während er mit Josie
eigentlich nichts zu tun habe.
Inzwischen
war Herr Pollunder zu Josie getreten und hatte ihn sanft von Herrn
Green weg zu einem der großen Fenster gezogen. "Lieber Herr
Rossmann", sagte er zu Josies Ohr herab gebeugt und wischte zur
Vorbereitung mit dem Taschentuch über sein Gesicht und bei der Nase
innehaltend schnäuzte er, "Sie werden doch nicht glauben, dass
ich Sie gegen ihren Willen hier zurückhalten will. Davon ist ja
keine Rede. Das Automobil kann ich Ihnen zwar nicht zur Verfügung
stellen, denn es steht weit von hier in einer öffentlichen Garage,
da ich noch keine Zeit hatte, hier, wo alles erst im Werden ist, eine
eigene Garage einzurichten. Der Chauffeur wiederum schläft nicht
hier im Haus, sondern in der Nähe der Garage, ich weiß wirklich
selbst nicht wo. Außerdem ist es gar nicht seine Pflicht, jetzt
zuhause zu sein, seine Pflicht ist es nur, früh zur rechten Zeit
hier vorzufahren. Aber das alles wären keine Hindernisse für ihre
augenblickliche Heimkehr, denn wenn Sie darauf bestehn, begleite ich
Sie sofort zur nächsten Station der Stadtbahn, die allerdings so
weit entfernt ist, dass Sie nicht viel früher zuhause ankommen
dürften, als wenn Sie früh — wir fahren ja schon um sieben Uhr —
mit mir in meinem Automobil fahren wollen." "Da möchte
ich, Herr Pollunder, doch lieber mit der Stadtbahn fahren",
sagte Josie. "An die Stadtbahn habe ich gar nicht gedacht. Sie
sagen selbst, dass ich mit der Stadtbahn früher ankomme, als früh
mit dem Automobil." "Es ist aber ein ganz kleiner
Unterschied." "Trotzdem, trotzdem, Herr Pollunder",
sagte Josie, "ich werde in Erinnerung an ihre Freundlichkeit
immer gerne herkommen, vorausgesetzt natürlich, dass Sie mich nach
meinem heutigen Benehmen noch einladen wollen, und vielleicht werde
ich es nächstens besser ausdrücken können, warum heute jede
Minute, um die ich meinen Onkel früher sehe, für mich so wichtig
ist." Und als hätte er bereits die Erlaubnis zum Weggehn
erhalten, fügte er hinzu: "Aber keinesfalls dürfen Sie mich
begleiten. Es ist auch ganz unnötig. Draußen ist ein Diener, der
mich gern zur Station begleiten wird. Jetzt muss ich nur noch meinen
Hut suchen." Und bei den letzten Worten durchschritt er schon
das Zimmer, um noch in Eile einen letzten Versuch zu machen, ob sein
Hut doch vielleicht zu finden wäre. "Könnte ich Ihnen nicht
mit einer Mütze aushelfen", sagte Herr Green und zog eine Mütze
aus der Tasche, "vielleicht passt sie ihnen zufällig."
Verblüfft blieb Josie stehn und sagte: "Ich werde Ihnen doch
nicht ihre Mütze wegnehmen. Ich kann ja ganz gut mit unbedecktem
Kopf gehn. Ich brauche gar nichts." "Es ist nicht meine
Mütze. Nehmen Sie nur!" "Dann danke ich", sagte
Josie, um sich nicht aufzuhalten, und nahm die Mütze. Er zog sie an
und lachte zuerst, da sie ganz genau passte, nahm sie wieder in die
Hand und betrachtete sie, konnte aber das Besondere, das er an ihr
suchte, nicht finden; es war eine vollkommen neue Mütze. "Sie
passt so gut!" sagte er. "Also, sie passt!" rief Herr
Green und schlug auf den Tisch.
Josie
ging schon zur Tür zu, um den Diener zu holen, da erhob sich Herr
Green, streckte sich nach dem reichlichen Mahl und der vielen Ruhe,
klopfte stark gegen seine Brust und sagte in einem Ton zwischen Rat
und Befehl: "Ehe Sie weg gehn, müssen Sie von Fräulein Klara
Abschied nehmen." "Das müssen Sie", sagte auch Herr
Pollunder, der ebenfalls aufgestanden war. Ihm hörte man es an, dass
die Worte nicht aus seinem Herzen kamen, schwach ließ er die Hände
an die Hosennaht schlagen und knöpfte immer wieder seinen Rock auf
und zu, der nach der augenblicklichen Mode ganz kurz war und kaum zu
den Hüften ging, was so dicke Leute wie Herrn Pollunder schlecht
kleidete. Übrigens hatte man, wenn er so neben Herrn Green stand,
den deutlichen Eindruck, dass es bei Herrn Pollunder keine gesunde
Dicke war, der Rücken war in seiner ganzen Masse etwas gekrümmt,
der Bauch sah weich und unhaltbar aus, eine wahre Last, und das
Gesicht erschien bleich und geplagt. Dagegen stand hier Herr Green,
vielleicht noch etwas dicker als Herr Pollunder, aber es war eine
zusammenhängende, einander gegenseitig tragende Dicke, die Füße
waren soldatisch zusammengeklappt, den Kopf trug er aufrecht und
schaukelnd, er schien ein großer Turner, ein Vorturner, zu sein.
"Gehen Sie also vorerst", fuhr Herr Green fort, "zu
Fräulein Klara. Das dürfte Ihnen sicher Vergnügen machen und passt
auch sehr gut in meine Zeiteinteilung. Ich habe Ihnen nämlich
tatsächlich, ehe Sie von hier fort gehn, etwas Interessantes zu
sagen, was wahrscheinlich auch für ihre Rückkehr entscheidend sein
kann. Nur bin ich leider durch höheren Befehl gebunden, Ihnen vor
Mitternacht nichts zu verraten. Sie können sich vorstellen, dass mir
das selbst Leid tut, denn es stört meine Nachtruhe, aber ich halte
mich an meinen Auftrag. Jetzt ist Viertel zwölf, ich kann also meine
Geschäfte noch mit Herrn Pollunder zu Ende besprechen, wobei ihre
Gegenwart nur stören würde und Sie können ein hübsches Weilchen
mit Fräulein Klara verbringen. Punkt zwölf Uhr stellen Sie sich
dann hier ein, wo Sie das Nötige erfahren werden."
Konnte
Josie diese Forderung ablehnen, die von ihm wirklich nur das
Geringste an Höflichkeit und Dankbarkeit gegenüber Herrn Pollunder
verlangte und die überdies ein sonst unbeteiligter, roher Mann
stellte, während Herr Pollunder, den es anging, sich mit Worten und
Blicken möglichst zurückhielt? Und was war jenes Interessante, das
er erst um Mitternacht erfahren durfte? Wenn es seine Heimkehr nicht
wenigstens um die dreiviertel Stunde beschleunigte, um die es sie
jetzt verschob, interessierte es ihn wenig. Aber sein größter
Zweifel war, ob er überhaupt zu Klara gehn konnte, die doch seine
Feindin war. Wenn er wenigstens das Schlageisen bei sich gehabt
hätte, das ihm sein Onkel als Briefbeschwerer geschenkt hatte. Das
Zimmer Klaras mochte ja eine recht gefährliche Höhle sein. Aber nun
war es ja ganz und gar unmöglich, hier gegen Klara das Geringste zu
sagen, da sie Pollunders Tochter und wie er jetzt gehört hatte gar
Macks Braut war. Sie hätte ja nur um eine Kleinigkeit anders sich zu
ihm verhalten müssen und er hätte sie wegen ihrer Beziehungen offen
bewundert. Noch überlegte er das alles, aber schon merkte er, dass
man keine Überlegungen von ihm verlangte, denn Green öffnete die
Tür und sagte zum Diener, der vom Postamente sprang: "Führen
Sie diesen jungen Mann zu Fräulein Klara."
"So
führt man Befehle aus", dachte Josie, als ihn der Diener fast
laufend, stöhnend vor Altersschwäche, auf einem besonders kurzen
Weg zu Klaras Zimmer zog. Als Josie an seinem Zimmer vorüber kam,
dessen Tür noch immer offen stand, wollte er, vielleicht zu seiner
Beruhigung, für einen Augenblick eintreten. Der Diener ließ das
aber nicht zu. "Nein", sagte er, "Sie müssen zu
Fräulein Klara. Sie haben es ja selbst gehört." "Ich
würde mich nur einen Augenblick drin aufhalten", sagte Josie
und er dachte daran, sich zur Abwechslung ein wenig auf das Kanapee
zu werfen, damit ihm die Zeit rascher gegen Mitternacht vorrücke.
"Erschweren Sie mir die Ausführung meines Auftrages nicht",
sagte der Diener. "Er scheint es für eine Strafe zu halten,
dass ich zu Fräulein Klara gehn muss", dachte Josie und machte
ein paar Schritte, blieb aber aus Trotz wieder stehn. "Kommen
Sie doch, junger Herr", sagte der Diener, "wenn Sie nun
schon einmal hier sind. Ich weiß, Sie wollten noch in der Nacht weg
gehn, es geht eben nicht alles nach Wunsch, ich habe es Ihnen ja
gleich gesagt, dass es kaum möglich sein wird." "Ja, ich
will weg gehn und werde auch weg gehn", sagte Josie, "und
will jetzt nur von Fräulein Klara Abschied nehmen." "So",
sagte der Diener und Josie sah ihm wohl an, dass er kein Wort davon
glaubte, "warum zögern Sie also Abschied zu nehmen, kommen Sie
doch."
"Wer
ist auf dem Gang?" ertönte Klaras Stimme und man sah sie aus
einer nahen Tür sich vorbeugen, eine große Tischlampe mit rotem
Schirm in der Hand. Der Diener eilte zu ihr hin und erstattete die
Meldung; Josie ging ihm langsam nach. "Sie kommen spät",
sagte Klara. Ohne ihr vorläufig zu antworten, sagte Josie zum Diener
leise, aber, da er seine Natur schon kannte, im Ton strengen
Befehles: "Sie warten auf mich knapp vor dieser Tür!" "Ich
wollte schon schlafen gehen", sagte Klara und stellte die Lampe
auf den Tisch. Wie unten im Speisezimmer schloss auch hier wieder der
Diener vorsichtig von außen die Tür. "Es ist ja schon halb
zwölf vorüber." "Halb zwölf vorüber", wiederholte
Josie fragend, wie erschrocken über diese Zahlen. "Dann muss
ich mich aber sofort verabschieden", sagte Josie, "denn
Punkt zwölf muss ich schon unten im Speisesaal sein." "Was
Sie für eilige Geschäfte haben", sagte Klara und ordnete
zerstreut die Falten ihres losen Nachtkleides, ihr Gesicht glühte
und immerfort lächelte sie. Josie glaubte zu erkennen, dass keine
Gefahr bestand, mit Klara wieder in Streit zu geraten. "Könnten
Sie nicht doch noch ein wenig Klavier spielen, wie es mir gestern
Papa und heute Sie selbst versprochen haben?" "Ists nicht
aber schon zu spät?" fragte Josie. Er hätte ihr gern gefällig
sein wollen, denn sie war ganz anders als vorher, so als wäre sie
irgendwie aufgestiegen, in die Kreise Pollunders und weiterhin Macks.
"Ja, spät ist es schon", sagte sie und es schien ihr die
Lust zur Musik schon vergangen zu sein. "Dann widerhallt hier
auch jeder Ton im ganzen Hause, ich bin überzeugt, wenn Sie spielen,
wacht noch oben in den Dachkammern die Dienerschaft auf." "Dann
lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmt noch wiederzukommen,
übrigens, wenn es Ihnen keine besondere Mühe macht, besuchen Sie
doch einmal meinen Onkel und schauen bei der Gelegenheit auch in mein
Zimmer. Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir
geschenkt. Dann spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine
Stückchen vor, es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar
nicht zu so einem großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich
hören lassen sollten. Aber auch dieses Vergnügen werden Sie haben
können, wenn Sie mich von ihrem Besuch vorher verständigen, denn
der Onkel will nächstens einen berühmten Lehrer für mich
engagieren — Sie können sich denken, wie ich mich darauf freue —
und dessen Spiel wird allerdings dafür stehn, mir während der
Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich
sein soll, froh, dass es für das Spiel schon zu spät ist, denn ich
kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und
nun erlauben Sie, dass ich mich verabschiede, schließlich ist ja
doch schon Schlafenszeit. Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm
wegen der Rauferei gar nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd
hinzu, während er ihr die Hand reichte: "In meiner Heimat
pflegt man zu sagen: Schlafe wohl und träume süß."
"Warten
Sie", sagte sie, ohne seine Hand anzunehmen, "vielleicht
sollten Sie doch spielen." Und sie verschwand durch eine kleine
Seitentür, neben der das Piano stand. "Was ist denn?"
dachte Josie, "lange kann ich nicht warten, so lieb sie auch
ist." Es klopfte an die Gangtüre und der Diener, der die Türe
nicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt:
"Verzeihen Sie, ich wurde soeben abberufen und kann nicht mehr
warten." "Gehen Sie nur", sagte Josie, der sich nun
getraute, den Weg ins Speisezimmer allein zu finden, "lassen Sie
mir nur die Laterne vor der Tür. Wie spät ist es übrigens?"
"Bald dreiviertel zwölf", sagte der Diener. "Wie
langsam die Zeit vergeht", sagte Josie. Der Diener wollte schon
die Türe schließen, da erinnerte sich Josie, dass er ihm noch kein
Trinkgeld gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche —
er trug jetzt immer Münzengeld nach amerikanischer Sitte lose
klingelnd in der Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westentasche —
und reichte ihn dem Diener mit den Worten: "Für ihre guten
Dienste."
Klara
war schon wieder eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als
es Josie einfiel, dass er den Diener doch nicht hätte wegschicken
sollen, denn wer würde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen?
Nun, da würde wohl schon Herr Pollunder einen Diener noch auftreiben
können, vielleicht war übrigens dieser Diener ins Speisezimmer
gerufen worden und würde dann zur Verfügung stehn. "Ich bitte
Sie also doch ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten Musik,
dass man sich keine Gelegenheit sie zu hören entgehen lassen will."
"Dann ist es aber höchste Zeit", sagte Josie, ohne weitere
Überlegung und setzte sich gleich zum Klavier. "Wollen Sie
Noten haben?" fragte Klara. "Danke, ich kann ja Noten nicht
einmal vollkommen lesen", antwortete Josie und spielte schon. Es
war ein kleines Lied, das wie Josie wohl wusste, ziemlich langsam
hätte gespielt werden müssen, um besonders für Fremde auch nur
verständlich zu sein, aber er hudelte es im ärgsten Marschtempo
hinunter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses
wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz. Man saß wie benommen
da und rührte sich nicht. "Ganz schön", sagte Klara, aber
es gab keine Höflichkeitsformel, die Josie nach diesem Spiel hätte
schmeicheln können. "Wie spät ist es?" fragte er.
"Dreiviertel zwölf." "Dann habe ich noch ein Weilchen
Zeit", sagte er und dachte bei sich: "Entweder oder. Ich
muss ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eines kann
ich nach Möglichkeit gut spielen." Und er fing sein geliebtes
Soldatenlied an. So langsam, dass das aufgestörte Verlangen des
Zuhörers sich nach der nächsten Note streckte, die Josie
zurückhielt und nur schwer hergab. Er musste ja tatsächlich wie bei
jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen,
aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehn, das über das
Ende des Liedes hinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden
konnte. "Ich kann ja nichts", sagte Josie nach Schluss des
Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen an.
Da
ertönte aus dem Nebenzimmer lautes Hände klatschen. "Es hört
noch jemand zu!" rief Josie aufgerüttelt. "Mack",
sagte Klara leise. Und schon hörte man Mack rufen: "Josie
Rossmann, Josie Rossmann!"
Josie
schwang sich mit beiden Füßen zugleich über die Klavierbank und
öffnete die Tür. Er sah dort Mack in einem großen Himmelbett halb
liegend sitzen, die Bettdecke war lose über die Beine geworfen. Der
Baldachin aus blauer Seide war die einzige ein wenig mädchenhafte
Pracht des sonst einfachen, aus schwerem Holz eckig gezimmerten
Bettes. Auf dem Nachttischchen brannte nur eine Kerze, aber die
Bettwäsche und Macks Hemd waren so weiß, dass das auf sie fallende
Kerzenlicht in fast blendendem Widerschein von ihnen strahlte; auch
der Baldachin leuchtete wenigstens am Rande mit seiner leicht
gewellten, nicht ganz fest gespannten Seide. Gleich hinter Mack
versank aber das Bett und alles in vollständigem Dunkel. Klara
lehnte sich an den Bettpfosten und hatte nur noch Augen für Mack.
"Servus", sagte Mack und reichte Josie die Hand. "Sie
spielen ja recht gut, bisher habe ich bloß ihre Reitkunst gekannt."
"Ich kann das eine so schlecht wie das andere", sagte
Josie. "Wenn ich gewusst hätte, dass Sie zuhören, hätte ich
bestimmt nicht gespielt. Aber ihr Fräulein" — er unterbrach
sich, er zögerte "Braut" zu sagen, da Mack und Klara
offenbar schon miteinander schliefen. "Ich ahnte es ja",
sagte Mack, "darum musste Sie Klara aus New York hierher locken,
sonst hätte ich ihr Spiel gar nicht zu hören bekommen. Es ist ja
reichlich anfängerhaft und selbst in diesen Liedern, die Sie doch
eingeübt hatten und die sehr primitiv gesetzt sind, haben Sie einige
Fehler gemacht, aber immerhin hat es mich sehr gefreut, ganz
abgesehen davon, dass ich das Spiel keines Menschen verachte. Wollen
Sie sich aber nicht setzen und noch ein Weilchen bei uns bleiben.
Klara gib ihm doch einen Sessel." "Ich danke", sagte
Josie stockend. "Ich kann nicht bleiben, so gern ich hier
bliebe. Zu spät erfahre ich, dass es so wohnliche Zimmer in diesem
Hause gibt." "Ich baue alles in dieser Art um", sagte
Mack.
In
diesem Augenblick erklangen zwölf Glockenschläge, rasch
hintereinander, einer in den Lärm des andern drein schlagend, Josie
fühlte das Wehen der großen Bewegung dieser Glocken an den Wangen.
Was war das für ein Dorf, das solche Glocken hatte!
"Höchste
Zeit", sagte Josie, streckte Mack und Klara nur die Hände hin,
ohne sie zu fassen, und lief auf den Gang hinaus. Dort fand er die
Laterne nicht und bedauerte dem Diener zu bald das Trinkgeld gegeben
zu haben. Er wollte sich an der Wand zu der offenen Türe seines
Zimmers hin tasten, war aber kaum in der Hälfte des Weges, als er
Herrn Green mit erhobener Kerze eilig heran schwanken sah. In der
Hand, in der er die Kerze hielt, trug er auch einen Brief. "Rossmann,
warum kommen Sie denn nicht? Warum lassen Sie mich warten? Was haben
Sie denn bei Fräulein Klara getrieben?" "Viele Fragen!"
dachte Josie, "und jetzt drückt er mich noch an die Wand",
denn tatsächlich stand er dicht vor Josie, der mit dem Rücken an
der Wand lehnte. Green nahm in diesem Gang eine schon lächerliche
Größe an und Josie stellte sich zum Spaß die Frage, ob er nicht
etwa den guten Herrn Pollunder aufgefressen habe. "Sie sind
tatsächlich kein Mann von Wort. Versprechen um zwölf Uhr
hinunterzukommen und umschleichen statt dessen die Tür Fräulein
Klaras. Ich dagegen habe Ihnen für Mitternacht etwas Interessantes
versprochen und bin damit schon da." Und damit reichte er Josie
den Brief. Auf dem Umschlag stand "An Josie Rossmann. Um
Mitternacht persönlich abzugeben, wo immer er angetroffen wird."
"Schließlich", sagte Herr Green, während Josie den Brief
öffnete, "ist es, glaube ich, schon anerkennenswert, dass ich
ihretwegen aus New York hierher gefahren bin, so dass Sie mich
durchaus nicht noch auf den Gängen Ihnen nachlaufen lassen müssten."
"Vom Onkel!" sagte Josie kaum, dass er in den Brief hinein
geschaut hatte. "Ich habe es erwartet", sagte er zu Herrn
Green gewendet. "Ob Sie es erwartet haben oder nicht, ist mir
kolossal gleichgültig. Lesen Sie nur schon", sagte dieser und
hielt Josie die Kerze hin.
Josie
las bei ihrem Licht: "Geliebter Neffe! Wie du während unseres
leider viel zu kurzen Zusammenlebens schon erkannt haben wirst, bin
ich durchaus ein Mann von Prinzipien. Das ist nicht nur für meine
Umgebung, sondern auch für mich sehr unangenehm und traurig, aber
ich verdanke meinen Prinzipien alles, was ich bin, und niemand darf
verlangen, dass ich mich vom Erdboden weg leugne, niemand, auch du
nicht, mein geliebter Neffe, wenn auch du gerade der erste in der
Reihe wärest, wenn es mir einmal einfallen sollte, jenen allgemeinen
Angriff gegen mich zuzulassen. Dann würde ich am liebsten gerade
dich mit diesen beiden Händen, mit denen ich das Papier halte und
beschreibe, auffangen und hoch heben. Da aber vorläufig gar nichts
darauf hindeutet, dass dies einmal geschehen könnte, muss ich dich
nach dem heutigen Vorfall unbedingt von mir fort schicken und ich
bitte dich dringend, mich weder selbst aufzusuchen, noch brieflich
oder durch Zwischenträger Verkehr mit mir zu suchen. Du hast dich
gegen meinen Willen dafür entschieden, heute Abend von mir fort zu
gehn, dann bleibe aber auch bei diesem Entschluss dein Leben lang,
nur dann war es ein männlicher Entschluss. Ich erwählte zum
Überbringer dieser Nachricht Herrn Green, meinen besten Freund, der
sicherlich für dich genug schonende Worte finden wird, die mir im
Augenblick tatsächlich nicht zur Verfügung stehn. Er ist ein
einflussreicher Mann und wird dich schon mir zu Liebe in deinen
ersten selbstständigen Schritten mit Rat und Tat unterstützen. Um
unsere Trennung zu begreifen, die mir jetzt am Schlusse dieses
Briefes wieder unfasslich scheint, muss ich mir immer wieder
neuerlich sagen: Von deiner Familie, Josie, kommt nichts Gutes.
Sollte Herr Green vergessen, dir deinen Koffer und deinen Regenschirm
auszuhändigen, so erinnere ihn daran. Mit besten Wünschen für dein
weiteres Wohlergehn,
dein
treuer Onkel Jakob."
"Sind
Sie fertig?" fragte Green. "Ja", sagte Josie, "haben
Sie mir den Koffer und den Regenschirm mitgebracht?" fragte
Josie. "Hier ist er", sagte Green und stellte Josies alten
Reisekoffer, den er bisher mit der linken Hand hinter dem Rücken
versteckt hatte, neben Josie auf den Boden. "Und den
Regenschirm?" fragte Josie weiter. "Alles hier", sagte
Green und zog auch den Regenschirm hervor, den er in einer
Hosentasche hängen hatte. "Die Sachen hat ein gewisser Schubal,
ein Obermaschinist der Hamburg-Amerikalinie gebracht, er hat
behauptet, sie auf dem Schiff gefunden zu haben. Sie können ihm bei
Gelegenheit danken." "Nun habe ich wenigstens meine alten
Sachen wieder", sagte Josie und legte den Schirm auf den Koffer.
"Sie sollen aber besser in Zukunft auf sie Acht geben, lässt
Ihnen der Herr Senator sagen", bemerkte Herr Green und fragte
dann offenbar aus privater Neugierde: "Was ist das eigentlich
für ein merkwürdiger Koffer?" "Es ist ein Koffer, mit dem
die Soldaten in meiner Heimat zum Militär einrücken",
antwortete Josie, "es ist der alte Militärkoffer meines Vaters.
Er ist sonst ganz praktisch." Lächelnd fügte er hinzu:
"Vorausgesetzt dass man ihn nicht irgendwo stehn lässt."
"Schließlich sind Sie ja belehrt genug", sagte Herr Green,
"und einen zweiten Onkel haben Sie in Amerika wohl nicht. Hier
gebe ich ihnen noch eine Karte Dritter nach San Francisco. Ich habe
diese Reise für Sie beschlossen, weil erstens die
Erwerbsmöglichkeiten im Westen für Sie viel bessere sind und weil
zweitens hier in allen Dingen, die für Sie in Betracht kommen
könnten, ihr Onkel seine Hände im Spiele hat und ein
Zusammentreffen unbedingt vermieden werden muss. In Frisco können
Sie ganz ungestört arbeiten, fangen Sie nur ruhig ganz unten an und
versuchen Sie, sich allmählich herauf zu arbeiten."
Josie
konnte keine Bosheit aus diesen Worten heraushören, die schlimme
Nachricht, welche den ganzen Abend in Green gesteckt hatte, war
überbracht und von nun an schien Green ein ungefährlicher Mann, mit
dem man vielleicht offener reden konnte, als mit jedem andern. Der
beste Mensch, der ohne eigene Schuld zum Boten einer so geheimen und
quälenden Entschließung auserwählt wird, muss, solange er sie bei
sich hält, verdächtig scheinen. "Ich werde", sagte Josie,
die Bestätigung eines erfahrenen Mannes erwartend, "dieses Haus
sofort verlassen, denn ich bin nur als Neffe meines Onkels
aufgenommen, während ich als Fremder hier nichts zu suchen habe.
Würden Sie so liebenswürdig sein, mir den Ausgang zu zeigen und
mich dann auf den Weg zu führen, auf dem ich zur nächsten
Gastwirtschaft komme." "Aber rasch", sagte Green. "Sie
machen mir nicht wenig Scherereien." Beim Anblick des großen
Schrittes, den Green gleich gemacht hatte, stockte Josie, das war
doch eine verdächtige Eile, und er fasste Green unten beim Rock und
sagte in einem plötzlichen Erkennen des wahren Sachverhaltes: "Eines
müssen Sie mir noch erklären. Auf dem Umschlag des Briefes, den Sie
mir zu übergeben hatten, steht bloß, dass ich ihn um Mitternacht
erhalten soll, wo immer ich angetroffen werde. Warum haben Sie mich
also mit Berufung auf diesen Brief hier zurückgehalten, als ich um
Viertel zwölf von hier fort wollte? Sie gingen dabei über ihren
Auftrag hinaus." Green leitete seine Antwort mit einer
Handbewegung ein, welche das Unnütze von Josies Bemerkung
übertrieben darstellte, und sagte dann: "Steht vielleicht auf
dem Umschlag, dass ich mich ihretwegen zu Tode hetzen soll und lässt
vielleicht der Inhalt des Briefes darauf schließen, dass die
Aufschrift so aufzufassen ist? Hätte ich Sie nicht zurückgehalten,
hätte ich Ihnen den Brief eben um Mitternacht auf der Landstraße
übergeben müssen." "Nein", sagte Josie unbeirrt, "es
ist nicht ganz so. Auf dem Umschlag steht, 'zu übergeben nach
Mitternacht'. Wenn Sie zu müde waren, hätten Sie mir vielleicht gar
nicht folgen können, oder ich wäre, was allerdings selbst Herr
Pollunder geleugnet hat, schon um Mitternacht bei meinem Onkel
angekommen oder es wäre schließlich ihre Pflicht gewesen, mich in
ihrem Automobil, von dem plötzlich nicht mehr die Rede war, zu
meinem Onkel zurückzubringen, da ich so danach verlangte
zurückzukehren. Besagt nicht die Überschrift ganz deutlich, dass
die Mitternacht für mich noch der letzte Termin sein soll? Und Sie
sind es, der die Schuld trägt, dass ich ihn versäumt habe."
Josie sah Green mit scharfen Augen an und erkannte wohl wie in Green
die Beschämung über diese Entlarvung mit der Freude über das
Gelingen seiner Absicht kämpfte. Endlich nahm er sich zusammen,
sagte in einem Tone, als wäre er Josie, der doch schon lange
schwieg, mitten in die Rede gefallen: "Kein Wort weiter!"
und schob ihn, der den Koffer und Schirm wieder aufgenommen hatte,
durch eine kleine Tür, die er vor ihm aufstieß, hinaus.
Josie
stand erstaunt im Freien. Eine an das Haus angebaute Treppe ohne
Geländer führte vor ihm hinab. Er musste nur hinunter gehn und dann
sich ein wenig rechts zur Allee wenden, die auf die Landstraße
führte. In dem hellen Mondschein konnte man sich gar nicht verirren.
Unten im Garten hörte er das vielfache Bellen von Hunden, die
losgelassen rings herum im Dunkel der Bäume liefen. Man hörte in
der sonstigen Stille ganz genau, wie sie nach ihren großen Sprüngen
ins Gras schlugen.
Ohne
von diesen Hunden belästigt zu werden, kam Josie glücklich aus dem
Garten. Er konnte nicht mit Bestimmtheit feststellen, in welcher
Richtung New York lag, er hatte bei der Herfahrt zu wenig auf die
Einzelheiten geachtet, die ihm jetzt hätten nützlich sein können.
Schließlich sagte er sich, dass er ja nicht unbedingt nach New York
müsse, wo ihn niemand erwarte und einer sogar mit Bestimmtheit nicht
erwarte. Er wählte also eine beliebige Richtung und machte sich auf
den Weg.
Kapitel
IV: "Der Marsch nach Ramses"
In
dem kleinen Wirtshaus, in das Josie nach kurzem Marsche kam, und das
eigentlich nur eine kleine letzte Station des New Yorker
Fuhrwerkverkehrs bildete und deshalb kaum für Nachtlager benützt zu
werden pflegte, verlangte Josie die billigste Bettstelle, die zu
haben war, denn er glaubte mit dem Sparen sofort anfangen zu müssen.
Er wurde seiner Forderung entsprechend vom Wirt mit einem Wink, als
sei er ein Angestellter, die Treppe hinauf gewiesen, wo ihn ein
zerrauftes altes Frauenzimmer, ärgerlich über den gestörten
Schlaf, empfing und fast ohne ihn anzuhören, mit ununterbrochenen
Ermahnungen leise aufzutreten, in ein Zimmer führte, dessen Tür
sie, nicht ohne ihn vorher mit einem Pst! angehaucht zu haben,
schloss.
Josie
wusste zuerst nicht recht, ob die Fenstervorhänge bloß
herabgelassen waren oder ob vielleicht das Zimmer überhaupt keine
Fenster habe, so finster war es; schließlich bemerkte er eine kleine
verhängte Luke, deren Tuch er weg zog, wodurch einiges Licht
hereinkam. Das Zimmer hatte zwei Betten, die aber beide schon besetzt
waren. Josie sah dort zwei junge Leute, die in schwerem Schlafe
dalagen und vor allem deshalb wenig vertrauenswürdig erschienen,
weil sie ohne verständlichen Grund angezogen schliefen; der eine
hatte sogar seine Stiefel an.
In
dem Augenblick, als Josie die Luke freigelegt hatte, hob einer der
Schläfer die Arme und Beine ein wenig in die Höhe, was einen
derartigen Anblick bot, dass Josie trotz seiner Sorgen in sich hinein
lachte.
Er
sah bald ein, dass er, abgesehen davon, dass auch keine andere
Schlafgelegenheit, weder Kanapee noch Sofa, vorhanden war, zu keinem
Schlafe werde kommen können, denn er durfte seinen erst
wiedergewonnenen Koffer und das Geld, das er bei sich trug, keiner
Gefahr aussetzen. Weg gehn aber wollte er auch nicht, denn er
getraute sich nicht, an der Zimmerfrau und dem Wirt vorüber das Haus
wieder gleich zu verlassen. Schließlich war es ja hier doch
vielleicht nicht unsicherer als auf der Landstraße. Auffallend war
freilich, dass im ganzen Zimmer, so weit sich das bei dem halben
Licht feststellen ließ, kein einziges Gepäckstück zu entdecken
war. Aber vielleicht und höchstwahrscheinlich waren die zwei jungen
Leute die Hausdiener, die der Gäste wegen bald aufstehen mussten und
deshalb angezogen schliefen. Dann war es allerdings nicht besonders
ehrenvoll, mit ihnen zu schlafen, aber desto ungefährlicher. Nur
durfte er sich aber, solange das wenigstens nicht außer jedem
Zweifel war, auf keinen Fall zum Schlafe niederlegen.
Unten
vor dem einen Bett stand eine Kerze mit Zündhölzchen, die sich
Josie mit schleichenden Schritten holte. Er hatte keine Bedenken,
Licht zu machen, denn das Zimmer gehörte nach Auftrag des Wirtes ihm
ebenso gut wie den zwei andern, die überdies den Schlaf der halben
Nacht schon genossen hatten und durch den Besitz der Betten ihm
gegenüber in unvergleichlichem Vorteil waren. Im Übrigen gab er
sich natürlich durch Vorsicht beim Herumgehn und Hantieren alle
Mühe, sie nicht zu wecken.
Zunächst
wollte er seinen Koffer untersuchen, um einmal einen Überblick über
seine Sachen zu bekommen, an die er sich schon nur undeutlich
erinnerte und von denen sicher das Wertvollste schon verloren
gegangen sein dürfte. Denn wenn der Schubal seine Hand auf etwas
legt, dann ist wenig Hoffnung, dass man es unbeschädigt
zurückbekommt. Allerdings hatte er vom Onkel ein großes Trinkgeld
erwarten können, während er aber anderseits wieder beim Fehlen
einzelner Objekte sich auf den eigentlichen Kofferwächter, den Herrn
Butterbaum, hätte ausreden können.
Über
den ersten Anblick beim Öffnen des Koffers war Josie entsetzt. Wie
viele Stunden hatte er während der Überfahrt darauf verwendet, den
Koffer zu ordnen und wieder neu zu ordnen und jetzt war alles so wild
durcheinander hinein gestopft, dass der Deckel beim Öffnen des
Schlosses von selbst in die Höhe sprang. Bald aber erkannte Josie zu
seiner Freude, dass diese Unordnung nur darin ihren Grund hatte, dass
man seinen Anzug, den er während der Fahrt getragen hatte, und für
den der Koffer natürlich nicht mehr berechnet gewesen war,
nachträglich mit eingepackt hatte. Nicht das geringste fehlte. In
der Geheimtasche des Rockes befand sich nicht nur der Pass, sondern
auch das von zu Hause mitgenommene Geld, so dass Josie, wenn er
jenes, das er bei sich hatte, dazu legte, mit Geld für den
Augenblick reichlich versehen war. Auch die Wäsche, die er bei
seiner Ankunft auf dem Leib getragen hatte, fand sich vor, rein
gewaschen und gebügelt. Er legte auch sofort Uhr und Geld in die
bewährte Geheimtasche. Das einzig Bedauerliche war, dass die
Veroneser Salami, die auch nicht fehlte, allen Sachen ihren Geruch
mitgeteilt hatte. Wenn sich das nicht durch irgendein Mittel
beseitigen ließ, hatte Josie die Aussicht, monatelang in diesen
Geruch eingehüllt herum zu gehn.
Beim
Hervorsuchen einiger Gegenstände, die zu unterst lagen, es waren
dies eine Taschenbibel, Briefpapier und die Fotografien der Eltern,
fiel ihm die Mütze vom Kopf und in den Koffer. In ihrer alten
Umgebung erkannte er sie sofort, es war seine Mütze, die Mütze, die
ihm die Mutter als Reisemütze mitgegeben hatte. Er hatte jedoch aus
Vorsicht diese Mütze auf dem Schiff nicht getragen, da er wusste,
dass man in Amerika allgemein Mützen statt Hüten trägt, weshalb er
seine nicht schon vor der Ankunft hatte abnützen wollen. Nun hatte
sie allerdings Herr Green dazu benützt, um sich auf Josies Kosten zu
belustigen. Ob ihm dazu vielleicht der Onkel auch den Auftrag gegeben
hatte? Und in einer unabsichtlichen, wütenden Bewegung fasste er den
Kofferdeckel, der laut zuklappte.
Nun
war keine Hilfe mehr, die beiden Schläfer waren geweckt. Zuerst
streckte sich und gähnte der eine, ihm folgte gleich der andere.
Dabei war fast der ganze Kofferinhalt auf dem Tisch ausgeschüttet,
wenn es Diebe waren, brauchten sie nur heranzutreten und auszuwählen.
Nicht nur um dieser Möglichkeit zuvorzukommen, sondern um auch sonst
gleich Klarheit zu schaffen, ging Josie mit der Kerze in der Hand zu
den Betten und erklärte, mit welchem Rechte er hier sei. Sie
schienen diese Erklärung gar nicht erwartet zu haben, denn noch viel
zu verschlafen, um reden zu können, sahen sie ihn bloß ohne jedes
Erstaunen an. Sie waren beide sehr junge Leute, aber schwere Arbeit
oder Not hatten ihnen vorzeitig die Knochen aus den Gesichtern vor
getrieben, unordentliche Bärte hingen ihnen ums Kinn, ihr schon
lange nicht geschnittenes Haar lag ihnen zerfahren auf dem Kopf und
ihre tief liegenden Augen rieben und drückten sie nun noch vor
Verschlafenheit mit den Fingerknöcheln.
Josie
wollte ihren augenblicklichen Schwächezustand ausnützen und sagte
deshalb: "Ich heiße Josie Rossmann und bin ein Deutscher. Bitte
sagen Sie mir, da wir doch ein gemeinsames Zimmer haben, auch ihren
Namen und ihre Nationalität. Ich erkläre nur noch gleich, dass ich
keinen Anspruch auf ein Bett erhebe, da ich so spät gekommen bin und
überhaupt nicht die Absicht habe zu schlafen. Außerdem müssen Sie
sich nicht an meinem schönen Kleid stoßen, ich bin vollständig arm
und ohne Aussichten."
Der
Kleinere von beiden — es war jener, der die Stiefel an hatte —
deutete mit Armen, Beinen und Mienen an, dass ihn das alles gar nicht
interessiere und dass jetzt überhaupt keine Zeit für derartige
Redensarten sei, legte sich nieder und schlief sofort; der andere,
ein dunkelhäutiger Mann, legte sich auch wieder nieder, sagte aber
noch vor dem Einschlafen, mit lässig ausgestreckter Hand: "Der
da heißt Robinson und ist Irländer, ich heiße Delamarche, bin
Franzose und bitte jetzt um Ruhe." Kaum hatte er das gesagt,
blies er mit großem Atemaufwand Josies Kerze aus und fiel auf das
Kissen zurück.
"Diese
Gefahr ist also vorläufig abgewehrt", sagte sich Josie und
kehrte zum Tisch zurück. Wenn ihre Schläfrigkeit nicht Vorwand war,
war ja alles gut. Unangenehm war bloß, dass der eine ein Irländer
war. Josie wusste nicht mehr genau, in was für einem Buch er einmal
zuhause gelesen hatte, dass man sich in Amerika vor den Irländern
hüten solle. Während seines Aufenthaltes beim Onkel hätte er
freilich die beste Gelegenheit gehabt, der Frage nach der
Gefährlichkeit der Irländer auf den Grund zu gehn, hatte dies aber,
weil er sich für immer gut aufgehoben geglaubt hatte, völlig
versäumt. Nun wollte er wenigstens mit der Kerze, die er wieder
angezündet hatte, diesen Irländer genauer ansehn, wobei er fand,
dass gerade dieser erträglicher aussah, als der Franzose. Er hatte
sogar noch eine Spur von runden Wangen und lächelte im Schlaf ganz
freundlich, so weit das Josie aus einiger Entfernung, auf den
Fußspitzen stehend, feststellen konnte. Trotz allem fest
entschlossen, nicht zu schlafen, setzte sich Josie auf den einzigen
Sessel des Zimmers, verschob vorläufig das Packen des Koffers, da er
ja dafür die ganze Nacht noch verwenden konnte und blätterte ein
wenig in der Bibel, ohne etwas zu lesen. Dann nahm er die Fotografie
der Eltern zur Hand, auf der der kleine Vater hoch aufgerichtet
stand, während die Mutter in dem Fauteuil vor ihm ein wenig
eingesunken dasaß. Die eine Hand hielt der Vater auf der Rückenlehne
des Fauteuils, die andere zur Faust geballt, auf einem illustrierten
Buch, das aufgeschlagen auf einem schwachen Schmucktischchen ihm zur
Seite lag. Es gab auch eine Fotografie, auf welcher Josie mit seinen
Eltern abgebildet war, Vater und Mutter sahen ihn dort scharf an,
während er nach dem Auftrag des Fotografen den Apparat hatte
anschauen müssen. Diese Fotografie hatte er aber auf die Reise nicht
mitbekommen.
Desto
genauer sah er die vor ihm liegende an und suchte von verschiedenen
Seiten den Blick des Vaters aufzufangen. Aber der Vater wollte, wie
er auch den Anblick durch verschiedene Kerzenstellungen änderte,
nicht lebendiger werden, sein waagerechter, starker Schnurrbart sah
der Wirklichkeit auch gar nicht ähnlich, es war keine gute Aufnahme.
Die Mutter dagegen war schon besser abgebildet, ihr Mund war so
verzogen, als sei ihr ein Leid angetan worden und als zwinge sie sich
zu lächeln. Josie schien es, als müsse dies jedem, der das Bild
ansah, so sehr auffallen, dass es ihm im nächsten Augenblick wieder
schien, die Deutlichkeit dieses Eindrucks sei zu stark und fast
widersinnig. Wie könne man von einem Bild so sehr die unumstößliche
Überzeugung eines verborgenen Gefühls des Abgebildeten erhalten.
Und er sah vom Bild ein Weilchen lang weg. Als er mit den Blicken
wieder zurückkehrte, fiel ihm die Hand der Mutter auf, die ganz vorn
an der Lehne des Fauteuils herab hing, zum Küssen nahe. Er dachte,
ob es nicht vielleicht doch gut wäre, den Eltern zu schreiben, wie
sie es ja tatsächlich beide und der Vater zuletzt sehr streng in
Hamburg von ihm verlangt hatten. Er hatte sich freilich, damals, als
ihm die Mutter am Fenster an einem schrecklichen Abend die
Amerika-Reise angekündigt hatte, unabänderlich zugeschworen,
niemals zu schreiben, aber was galt ein solcher Schwur eines
unerfahrenen Jungen hier in den neuen Verhältnissen. Ebenso gut
hätte er damals schwören können, dass er nach zwei Monaten
amerikanischen Aufenthaltes General der amerikanischen Miliz sein
werde, während er tatsächlich in einer Dachkammer mit zwei Lumpen
beisammen war, in einem Wirtshaus vor New York und außerdem zugeben
musste, dass er hier wirklich an seinem Platze war. Und lächelnd
prüfte er die Gesichter der Eltern, als könne man aus ihnen
erkennen, ob sie noch immer das Verlangen hatten, eine Nachricht von
ihrem Sohn zu bekommen.
In
diesem Anschauen merkte er bald, dass er doch sehr müde war und kaum
die Nacht werde durchwachen können. Das Bild entfiel seinen Händen,
dann legte er das Gesicht auf das Bild, dessen Kühle seiner Wange
wohl tat und mit einem angenehmen Gefühle schlief er ein.
Geweckt
wurde er früh durch ein Kitzeln unter der Achsel. Es war der
Franzose, der sich diese Zudringlichkeit erlaubte. Aber auch der
Irländer stand schon vor Josies Tisch und beide sahen ihn mit keinem
geringem Interesse an, als es Josie in der Nacht ihnen gegenüber
getan hatte. Josie wunderte sich nicht darüber, dass ihn ihr
Aufstehen nicht schon geweckt hatte; sie mussten durchaus nicht aus
böser Absicht besonders leise aufgetreten sein, denn er hatte tief
geschlafen und außerdem hatte ihnen das Anziehen und offenbar auch
das Waschen nicht viel Arbeit gemacht.
Nun
begrüßten sie einander ordentlich und mit einer gewissen
Förmlichkeit und Josie erfuhr, dass die zwei Maschinenschlosser
waren, die in New York schon lange Zeit keine Arbeit hatten bekommen
können und infolgedessen ziemlich heruntergekommen waren. Robinson
öffnete zum Beweise dessen seinen Rock und man konnte sehen, dass
kein Hemd da war, was man allerdings auch schon an dem lose sitzenden
Kragen hätte erkennen können, der hinten am Rock befestigt war. Sie
hatten die Absicht, in das zwei Tagereisen von New York entfernte
Städtchen Butterford zu marschieren, wo angeblich Arbeitsstellen
frei waren. Sie hatten nichts dagegen, dass Josie mitkomme und
versprachen ihm erstens zeitweilig seinen Koffer zu tragen und
zweitens, falls sie selbst Arbeit bekommen sollten, ihm eine
Lehrlingsstelle zu verschaffen, was, wenn nur überhaupt Arbeit
vorhanden sei, eine Leichtigkeit wäre. Josie hatte noch kaum
zugestimmt, als sie ihm schon freundschaftlich den Rat gaben, das
schöne Kleid auszuziehen, da es ihm bei jeder Bewerbung um eine
Stelle hinderlich sein werde. Gerade in diesem Hause sei eine gute
Gelegenheit, das Kleid los zu werden, denn die Zimmerfrau betreibe
einen Kleiderhandel. Sie halfen Josie, der auch rücksichtlich des
Kleides noch nicht ganz entschlossen war, aus dem Kleid heraus und
trugen es davon. Als Josie, allein gelassen und noch ein wenig
schlaftrunken, sein altes Reisekleid langsam anzog, machte er sich
Vorwürfe, das Kleid verkauft zu haben, das ihm vielleicht bei der
Bewerbung um eine Lehrlingsstelle schaden, um einen bessern Posten
aber nur nützen konnte und er öffnete die Tür, um die zwei zurück
zu rufen, stieß aber schon mit ihnen zusammen, die einen halben
Dollar als Erlös auf den Tisch legten, dabei aber so fröhliche
Gesichter machten, dass man sich unmöglich dazu überreden konnte,
sie hätten bei dem Verkauf nicht auch ihren Verdienst gehabt und
zwar einen ärgerlich großen.
Es
war übrigens keine Zeit sich darüber auszusprechen, denn die
Zimmerfrau kam herein, genau so verschlafen, wie in der Nacht, und
trieb alle drei auf den Gang hinaus mit der Erklärung, dass das
Zimmer für neue Gäste hergerichtet werden müsse. Davon war aber
natürlich keine Rede, sie handelte nur aus Bosheit. Josie, der
seinen Koffer gerade hatte ordnen wollen, musste zusehen, wie die
Frau seine Sachen mit beiden Händen packte und mit einer Kraft in
den Koffer warf, als seien es irgendwelche Tiere, die man zum Kuschen
bringen musste. Die beiden Schlosser machten sich zwar um sie zu
schaffen, zupften sie an ihrem Rock, beklopften ihren Rücken, aber
wenn sie die Absicht hatten, Josie damit zu helfen, so war das ganz
verfehlt. Als die Frau den Koffer zugeklappt hatte, drückte sie
Josie den Halter in die Hand, schüttelte die Schlosser ab, und jagte
alle drei mit der Drohung aus dem Zimmer, dass sie, wenn sie nicht
folgten, keinen Kaffee bekommen würden. Die Frau musste offenbar
gänzlich daran vergessen haben, dass Josie nicht von allem Anfang an
zu den Schlossern gehört hatte, denn sie behandelte sie als eine
einzige Bande. Allerdings hatten die Schlosser Josies Kleid ihr
verkauft und damit eine gewisse Gemeinsamkeit erwiesen.
Auf
dem Gange mussten sie lange hin und her gehen und besonders der
Franzose, der sich in Josie eingehängt hatte, schimpfte
ununterbrochen, drohte den Wirt, wenn er sich vorwagen sollte, nieder
zu boxen und es schien eine Vorbereitung dazu zu sein, dass er die
geballten Fäuste rasend aneinander rieb. Endlich kam ein
unschuldiger kleiner Junge, der sich strecken musste, als er dem
Franzosen die Kaffeekanne reichte. Leider war nur eine Kanne
vorhanden und man konnte dem Jungen nicht begreiflich machen, dass
noch Gläser erwünscht wären. So konnte immer nur einer trinken und
die zwei andern standen vor ihm und warteten. Josie hatte keine Lust
zu trinken, wollte aber die anderen nicht kränken und stand also,
wenn er an der Reihe war, untätig da, die Kanne an den Lippen.
Zum
Abschied warf der Irländer die Kanne auf die steinernen Fliesen hin,
sie verließen von niemandem gesehen das Haus und traten in den
dichten, gelblichen Morgennebel. Sie marschierten im Allgemeinen
still nebeneinander am Rande der Straße, Josie musste seinen Koffer
tragen, die andern würden ihn wahrscheinlich erst auf seine Bitte
ablösen, hier und da schoss ein Automobil aus dem Nebel und die drei
drehten ihre Köpfe nach den meist riesenhaften Wagen, die so
auffällig in ihrem Bau und so kurz in ihrer Erscheinung waren, dass
man nicht Zeit hatte, auch nur das Vorhandensein von Insassen zu
bemerken. Später begannen die Kolonnen der Fuhrwerke, welche
Lebensmittel nach New York brachten, und die in fünf die ganze
Breite der Straße einnehmenden Reihen so ununterbrochen dahin zogen,
dass niemand die Straße hätte überqueren können. Von Zeit zu Zeit
verbreiterte sich die Straße zu einem Platz, in dessen Mitte auf
einer turmartigen Erhöhung ein Polizist auf und ab schritt, um alles
übersehen und mit einem Stöckchen den Verkehr auf der Hauptstraße
sowie den von den Seitenstraßen hier einmündenden Verkehr ordnen zu
können, der dann bis zum nächsten Platze und zum nächsten
Polizisten unbeaufsichtigt blieb, aber von den schweigenden und
aufmerksamen Kutschern und Chauffeuren freiwillig in genügender
Ordnung gehalten wurde. Über die allgemeine Ruhe staunte Josie am
meisten. Wäre nicht das Geschrei der sorglosen Schlachttiere
gewesen, man hätte vielleicht nichts gehört, als das Klappern der
Hufe und das Sausen der Antiderapants. Dabei war die
Fahrtschnelligkeit natürlich nicht immer die gleiche. Wenn auf
einzelnen Plätzen infolge allzu großen Andranges von den Seiten
große Umstellungen vorgenommen werden mussten, stockten die ganzen
Reihen und fuhren nur Schritt für Schritt, dann aber kam es auch
wieder vor, dass für ein Weilchen alles blitzschnell vorbei jagte,
bis es wie von einer einzigen Bremse regiert sich wieder besänftigte.
Dabei stieg von der Straße nicht der geringste Staub auf; alles
bewegte sich in der klarsten Luft. Fußgänger gab es keine, hier
wanderten keine einzelnen Marktweiber zur Stadt, wie in Josies
Heimat, aber doch erschienen hier und da große flache Automobile,
auf denen an zwanzig Frauen mit Rückenkörben, also doch vielleicht
Marktweiber, standen und die Hälse streckten, um den Verkehr zu
überblicken und sich Hoffnung auf raschere Fahrt zu holen. Dann sah
man ähnliche Automobile, auf denen einzelne Männer die Hände in
den Hosentaschen herum spazierten. Auf einem dieser Automobile, die
verschiedene Aufschriften trugen, las Josie unter einem kleinen
Aufschrei "Hafenarbeiter für die Spedition Jakob aufgenommen".
Der Wagen fuhr gerade ganz langsam und ein auf der Wagentreppe
stehender, kleiner, gebückter, lebhafter Mann lud die drei Wanderer
zum Einsteigen ein. Josie flüchtete sich hinter die Schlosser, als
könne sich auf dem Wagen der Onkel befinden und ihn sehen. Er war
froh, dass auch die zwei die Einladung ablehnten, wenn ihn auch der
hochmütige Gesichtsausdruck gewissermaßen kränkte, mit dem sie das
taten. Sie mussten durchaus nicht glauben, dass sie zu gut waren, um
in die Dienste des Onkels zu treten. Er gab es ihnen, wenn auch
natürlich nicht ausdrücklich, sofort zu verstehen. Darauf bat ihn
Delamarche, sich gefälligst nicht in Sachen einzumischen, die er
nicht verstehe, diese Art Leute aufzunehmen sei ein schändlicher
Betrug und die Firma Jakob sei berüchtigt in den ganzen Vereinigten
Staaten. Josie antwortete nicht, hielt sich aber von nun an mehr an
den Irländer, er bat ihn auch, ihm jetzt ein wenig den Koffer zu
tragen, was dieser, nachdem Josie seine Bitte mehrmals wiederholt
hatte, auch tat. Nur klagte er ununterbrochen über die Schwere des
Koffers, bis sich zeigte, dass er nur die Absicht hatte, den Koffer
um die Veroneser Salami zu erleichtern, die ihm wohl schon im Hotel
angenehm aufgefallen war. Josie musste sie auspacken, der Franzose
nahm sie zu sich, um sie mit seinem dolchartigen Messer zu behandeln
und fast ganz allein auf zu essen. Robinson bekam nur hier und da
eine Schnitte, Josie dagegen, der wieder den Koffer tragen musste,
wenn er ihn nicht auf der Landstraße stehen lassen wollte, bekam
nichts, als hätte er seinen Anteil schon im Voraus sich genommen. Es
schien ihm zu kleinlich, um ein Stückchen zu betteln, aber die Galle
regte sich ihm.
Aller
Nebel war schon verschwunden, in der Ferne erglänzte ein hohes
Gebirge, das mit welligem Kamm in noch ferneren Sonnendunst führte.
An der Seite der Straße lagen schlecht bebaute Felder, die sich um
große Fabriken hinzogen, die dunkel angeraucht im freien Lande
standen. In den wahllos hingestellten, einzelnen Mietskasernen
zitterten die vielen Fenster in der mannigfaltigsten Bewegung und
Beleuchtung und auf allen den kleinen, schwachen Balkonen hatten
Frauen und Kinder vielerlei zu tun, während um sie herum, sie
verdeckend und enthüllend, aufgehängte und hingelegte Tücher und
Wäschestücke im Morgenwind flatterten und mächtig sich bauschten.
Glitten die Blicke von den Häusern ab, dann sah man Lerchen hoch am
Himmel fliegen und unten wieder die Schwalben nicht allzu weit über
den Köpfen der Fahrenden.
Vieles
erinnerte Josie an seine Heimat und er wusste nicht, ob er gut daran
tue, New York zu verlassen und in das Innere des Landes zu gehen. In
New York war das Meer und zu jeder Zeit die Möglichkeit der Rückkehr
in die Heimat. Und so blieb er stehn und sagte zu seinen beiden
Begleitern, er habe doch wieder Lust in New York zu bleiben. Und als
Delamarche ihn einfach weiter treiben wollte, ließ er sich nicht
treiben und sagte, dass er doch wohl noch das Recht habe, über sich
zu entscheiden. Der Irländer musste erst vermitteln und erklären,
dass Butterford viel schöner als New York sei und beide mussten ihn
noch sehr bitten, ehe er wieder weiter ging. Und selbst dann wäre er
noch nicht gegangen, wenn er sich nicht gesagt hätte, dass es für
ihn vielleicht besser sei, an einen Ort zu kommen, wo die Möglichkeit
der Rückkehr in die Heimat keine so leichte sei. Gewiss werde er
dort besser arbeiten und vorwärts kommen, da ihn keine unnützen
Gedanken hindern werden.
Und
nun war er es, der die beiden andern zog und sie freuten sich so sehr
über seinen Eifer, dass sie ohne sich erst bitten zu lassen, den
Koffer abwechselnd trugen und Josie gar nicht recht verstand, womit
er ihnen eigentlich diese große Freude verursache. Sie kamen in eine
ansteigende Gegend und wenn sie hier und da stehen blieben, konnten
sie beim Rückblick das Panorama New Yorks und seines Hafens immer
ausgedehnter sich entwickeln sehen. Die Brücke, die New York mit
Boston verbindet, hing zart über den Hudson und sie erzitterte, wenn
man die Augen klein machte. Sie schien ganz ohne Verkehr zu sein und
unter ihr spannte sich das unbelebte, glatte Wasserband. Alles in
beiden Riesenstädten schien leer und nutzlos aufgestellt. Unter den
Häusern gab es kaum einen Unterschied zwischen den großen und den
kleinen. In der unsichtbaren Tiefe der Straßen ging wahrscheinlich
das Leben fort nach seiner Art, aber über ihnen war nichts zu sehen,
als leichter Dunst, der sich zwar nicht bewegte, aber ohne Mühe zu
verjagen schien. Selbst in dem Hafen, dem größten der Welt, war
Ruhe eingekehrt und nur hier und da glaubte man, wohl beeinflusst von
der Erinnerung an einen früheren Anblick aus der Nähe, ein Schiff
zu sehen, das eine kurze Strecke sich fort schob. Aber man konnte ihm
auch nicht lange folgen, es entging den Augen und war nicht mehr zu
finden.
Aber
Delamarche und Robinson sahen offenbar viel mehr, sie zeigten rechts
und links und überwölbten mit den ausgestreckten Händen Plätze
und Gärten, die sie mit Namen benannten. Sie konnten es nicht
begreifen, dass Josie über zwei Monate in New York gewesen war und
kaum etwas anderes von der Stadt gesehen hatte, als eine Straße. Und
sie versprachen ihm, wenn sie in Butterford genug verdient hätten,
mit ihm nach New York zu gehen und ihm alles Sehenswerte zu zeigen
und ganz besonders natürlich jene Örtlichkeiten, wo man sich bis
zum Seligwerden unterhielt. Und Robinson begann im Anschluss daran
mit vollem Mund ein Lied zu singen, das Delamarche mit Händeklatschen
begleitete, das Josie als eine Operettenmelodie aus seiner Heimat
erkannte, die ihm hier mit dem englischen Text viel besser gefiel,
als sie ihm je zuhause gefallen hatte. So gab es eine kleine
Vorstellung im Freien, an der alle Anteil nahmen, nur die Stadt
unten, die sich angeblich bei dieser Melodie unterhielt, schien gar
nichts davon zu wissen.
Einmal
fragte Josie, wo denn die Spedition Jakob liege, und sofort sah er
Delamarches und Robinsons ausgestreckte Zeigefinger, vielleicht auf
den gleichen, vielleicht auf meilenweit entfernte Punkte gerichtet.
Als sie dann weitergingen, fragte Josie, wann sie frühestens mit
genügendem Verdienst nach New York zurückkehren könnten.
Delamarche sagte, das könne schon ganz gut in einem Monat sein, denn
in Butterford sei Arbeitermangel und die Löhne seien hoch. Natürlich
würden sie ihr Geld in eine gemeinsame Kasse legen, damit zufällige
Unterschiede im Verdienst unter ihnen als Kameraden ausgeglichen
würden. Die gemeinsame Kasse gefiel Josie nicht, trotzdem er als
Lehrling natürlich weniger verdienen würde, als ausgelernte
Arbeiter. Überdies erwähnte Robinson, dass sie natürlich, wenn in
Butterford keine Arbeit wäre, weiter wandern müssten, entweder um
als Landarbeiter irgendwo unterzukommen oder vielleicht nach
Kalifornien in die Goldwäschereien zu gehen, was nach Robinsons
ausführlichen Erzählungen zu schließen sein liebster Plan war.
"Warum sind Sie denn Schlosser geworden, wenn Sie jetzt in die
Goldwäschereien wollen?" fragte Josie, der ungern von der
Notwendigkeit solcher weiter, unsicherer Reisen hörte. "Warum
ich Schlosser geworden bin?" sagte Robinson. "Doch gewiss
nicht deshalb, damit meiner Mutter Sohn dabei verhungert. In den
Goldwäschereien ist ein feiner Verdienst." "War einmal",
sagte Delamarche. "Ist noch immer", sagte Robinson und
erzählte von vielen dabei reich gewordenen Bekannten, die noch immer
dort waren, natürlich keinen Finger mehr rührten, ihm aber aus
alter Freundschaft und selbstverständlich auch seinen Kameraden zu
Reichtum verhelfen würden. "Wir werden schon in Butterford
Stellen erzwingen", sagte Delamarche und sprach damit Josie aus
der Seele, aber eine zuversichtliche Ausdrucksweise war es nicht.
Während
des Tages machten sie nur einmal in einem Wirtshaus Halt und aßen
davor im Freien an einem, wie es Josie schien, eisernen Tisch fast
rohes Fleisch, das man mit Messer und Gabel nicht zerschneiden,
sondern nur zerreißen konnte. Das Brot hatte eine walzenartige Form
und in jedem Brotlaib steckte ein langes Messer. Zu diesem Essen
wurde eine schwarze Flüssigkeit gereicht, die im Halse brannte.
Delamarche und Robinson schmeckte sie aber, sie erhoben oft auf die
Erfüllung verschiedener Wünsche ihre Gläser und stießen
miteinander an, wobei sie ein Weilchen lang in der Höhe Glas an Glas
hielten. An Nebentischen saßen Arbeiter in kalkbespritzten Blusen
und alle tranken die gleiche Flüssigkeit. Automobile, die in Mengen
vorüber fuhren, warfen Schwaden von Staub über die Tische hin.
Große Zeitungsblätter wurden herumgereicht, man sprach erregt vom
Streik der Bauarbeiter, der Name Mack wurde öfters genannt, Josie
erkundigte sich über ihn und erfuhr, dass dies der Vater des ihm
bekannten Mack und der größte Bauunternehmer von New York war. Der
Streik kostete ihn Millionen und bedrohte vielleicht seine
geschäftliche Stellung. Josie glaubte kein Wort von diesem Gerede
schlecht unterrichteter, Übel wollender Leute.
Verbittert
wurde das Essen für Josie außerdem dadurch, dass es sehr fraglich
war, wie das Essen gezahlt werden sollte. Das Natürliche wäre
gewesen, dass jeder seinen Teil gezahlt hätte, aber Delamarche wie
auch Robinson hatten gelegentlich bemerkt, dass für das letzte
Nachtlager ihr letztes Geld aufgegangen war. Uhr, Ring oder sonst
etwas Veräußerbares war an keinem zu sehen. Und Josie konnte ihnen
doch nicht vorhalten, dass sie an dem Verkauf seiner Kleider etwas
verdient hätten, das wäre doch Beleidigung und Abschied für immer
gewesen. Das Erstaunliche aber war, dass weder Delamarche noch
Robinson irgendwelche Sorgen wegen der Bezahlung hatten, vielmehr
hatten sie gute Laune genug, möglichst oft Anknüpfungen mit der
Kellnerin zu versuchen, die stolz und mit schwerem Gang zwischen den
Tischen hin- und herging. Ihr Haar ging ihr von den Seiten ein wenig
lose in Stirn und Wangen und sie strich es immer wieder zurück,
indem sie mit den Händen darunter hinfuhr. Schließlich, als man
vielleicht das erste freundliche Wort von ihr erwartete, trat sie zum
Tisch, legte beide Hände auf ihn und fragte: "Wer zahlt?"
Nie waren Hände rascher aufgeflogen, als jetzt jene von Delamarche
und Robinson, die auf Josie zeigten. Josie erschrak darüber nicht,
denn er hatte es ja vorausgesehen und sah nichts Schlimmes darin,
dass die Kameraden, von denen er ja auch Vorteile erwartete, einige
Kleinigkeiten von ihm bezahlen ließen, wenn es auch anständiger
gewesen wäre, diese Sache vor dem entscheidenden Augenblick
ausdrücklich zu besprechen. Peinlich war bloß, dass er das Geld
erst aus der Geheimtasche herauf befördern musste. Seine
ursprüngliche Absicht war es gewesen, das Geld für die letzte Not
aufzuheben und sich also vorläufig mit seinen Kameraden
gewissermaßen in eine Reihe zu stellen. Der Vorteil, den er durch
dieses Geld und vor allem durch das Verschweigen des Besitzes
gegenüber den Kameraden erlangte, wurde für diese mehr als
reichlich dadurch aufgewogen, dass sie schon seit ihrer Kindheit in
Amerika waren, dass sie genügende Kenntnisse und Erfahrungen für
Gelderwerb hatten und dass sie schließlich an bessere
Lebensverhältnisse, als ihre gegenwärtigen, nicht gewöhnt waren.
Diese bisherigen Absichten, die Josie rücksichtlich seines Geldes
hatte, mussten an und für sich durch diese Bezahlung nicht gestört
werden, denn ein Viertelpfund konnte er schließlich entbehren und
deshalb also ein Viertelpfundstück auf den Tisch legen und erklären,
dies sei sein einziges Eigentum und er sei bereit, es für die
gemeinsame Reise nach Butterford zu opfern. Für die Fußreise
genügte auch ein solcher Betrag vollkommen. Nun aber wusste er
nicht, ob er genügendes Kleingeld hatte und überdies lag dieses
Geld sowie die zusammengelegten Banknoten irgendwo in der Tiefe der
Geheimtasche, in der man eben am besten etwas fand, wenn man den
ganzen Inhalt auf den Tisch schüttete. Außerdem war es höchst
unnötig, dass die Kameraden von dieser Geheimtasche überhaupt etwas
erfuhren. Nun schien es zum Glück, dass die Kameraden sich noch
immer mehr für die Kellnerin interessierten, als dafür, wie Josie
das Geld für die Bezahlung zusammen brächte. Delamarche lockte die
Kellnerin durch die Aufforderung, die Rechnung aufzustellen, zwischen
sich und Robinson und sie konnte die Zudringlichkeiten der beiden nur
dadurch abwehren, dass sie einem oder dem andern die ganze Hand auf
das Gesicht legte und ihn weg schob. Inzwischen sammelte Josie, heiß
vor Anstrengung, unter der Tischplatte in der einen Hand das Geld,
das er mit der andern Stück für Stück in der Geheimtasche herum
jagte und herausholte. Endlich glaubte er, trotzdem er das
amerikanische Geld noch nicht genau kannte, er hätte wenigstens der
Menge der Stücke nach eine genügende Summe und legte sie auf den
Tisch. Der Klang des Geldes unterbrach sofort die Scherze. Zu Josies
Ärger und zu allgemeinem Erstaunen zeigte sich, dass da fast ein
ganzes Pfund da lag. Keiner fragte zwar, warum Josie von dem Gelde,
das für eine bequeme Eisenbahnfahrt nach Butterford gereicht hätte,
früher nichts gesagt hatte, aber Josie war doch in großer
Verlegenheit. Langsam strich er, nachdem das Essen bezahlt worden
war, das Geld wieder ein, noch aus seiner Hand nahm Delamarche ein
Geldstück, das er für die Kellnerin als Trinkgeld brauchte, die er
umarmte und an sich drückte, um ihr dann von der andern Seite her
das Geld zu überreichen.
Josie
war ihnen auch dankbar, dass sie auf dem Weitermarsch über das Geld
keine Bemerkungen machten und er dachte sogar eine Zeit lang daran,
ihnen sein ganzes Vermögen einzugestehen, unterließ das aber doch,
da sich keine rechte Gelegenheit fand. Gegen Abend kamen sie in eine
mehr ländliche, fruchtbare Gegend. Rings herum sah man ungeteilte
Felder, die sich in ihrem ersten Grün über sanfte Hügel legten;
reiche Landsitze umgrenzten die Straße und stundenlang ging man
zwischen den vergoldeten Gittern der Gärten, mehrmals kreuzten sie
den gleichen langsam fließenden Strom und viele mal hörten sie über
sich die Eisenbahnzüge auf den hoch sich schwingenden Viadukten
donnern.
Eben
ging die Sonne an dem geraden Rande ferner Wälder nieder, als sie
sich auf einer Anhöhe inmitten einer kleinen Baumgruppe ins Gras hin
warfen, um sich von den Strapazen auszuruhen. Delamarche und Robinson
lagen da und streckten sich nach Kräften, Josie saß aufrecht und
sah auf die paar Meter tiefer führende Straße, auf der immer wieder
Automobile, wie schon während des ganzen Tages, leicht aneinander
vorüber eilten, als würden sie in genauer Anzahl immer wieder von
der Ferne abgeschickt und in der gleichen Anzahl in der andern Ferne
erwartet. Während des ganzen Tages, seit dem frühesten Morgen,
hatte Josie kein Automobil halten, keinen Passagier aussteigen
gesehn.
Robinson
machte den Vorschlag, die Nacht hier zu verbringen, da sie alle genug
müde wären, da sie dann desto eher ausmarschieren könnten und da
sie schließlich kaum ein billigeres und besser gelegenes Nachtlager
vor Einbruch völliger Dunkelheit finden könnten. Delamarche war
einverstanden und nur Josie glaubte zu der Bemerkung verpflichtet zu
sein, dass er genug Geld habe, um das Nachtlager für alle auch in
einem Hotel zu bezahlen. Delamarche sagte, sie würden das Geld noch
brauchen, er solle es nur gut aufheben. Delamarche verbarg nicht im
Geringsten, dass man mit Josies Gelde schon rechnete. Da sein erster
Vorschlag angenommen war, erklärte nun Robinson weiter, nun müssten
sie aber vor dem Schlafen, um sich für morgen zu kräftigen, etwas
Tüchtiges essen und einer solle das Essen für alle aus dem Hotel
holen, das in nächster Nähe an der Landstraße mit der Aufschrift
"Hotel Occidental" leuchtete. Als der Jüngste und da sich
auch sonst niemand meldete, zögerte Josie nicht, sich für diese
Besorgung anzubieten und ging, nachdem er eine Bestellung auf Speck,
Brot und Bier erhalten hatte, ins Hotel hinüber.
Es
musste eine große Stadt in der Nähe sein, denn gleich der erste
Saal des Hotels, den Josie betrat, war von einer lauten Menge erfüllt
und an dem Buffet, das sich an einer Längswand und an den zwei
Seitenwänden hinzog, liefen unaufhörlich viele Kellner mit weißen
Schürzen vor der Brust und konnten doch die ungeduldigen Gäste
nicht zufrieden stellen, denn immer wieder hörte man an den
verschiedensten Stellen Flüche und Fäuste, die auf den Tisch
schlugen. Josie wurde von niemandem beachtet; es gab auch im Saale
selbst keine Bedienung, die Gäste, die an winzigen, bereits zwischen
drei Tischnachbarn verschwindenden Tischen saßen, holten alles, was
sie wünschten, beim Buffet. Auf allen Tischchen stand eine große
Flasche mit Öl, Essig oder dergleichen und alle Speisen, die vom
Büffet geholt wurden, wurden vor dem Essen aus dieser Flasche
übergossen. Wollte Josie überhaupt erst zum Buffet kommen, wo ja
dann wahrscheinlich, besonders bei seiner großen Bestellung, die
Schwierigkeiten erst beginnen würden, musste er sich zwischen vielen
Tischen durchdrängen, was natürlich bei aller Vorsicht nicht ohne
grobe Belästigung der Gäste durchzuführen war, die jedoch alles
wie gefühllos hinnahmen, selbst als Josie einmal allerdings
gleichfalls von einem Gast gegen ein Tischchen gestoßen worden war,
das er fast umgeworfen hätte. Er entschuldigte sich zwar, wurde aber
offenbar nicht verstanden, verstand übrigens auch nicht das
Geringste von dem, was man ihm zurief.
Beim
Buffet fand er mit Mühe ein kleines, freies Plätzchen, auf dem ihm
eine lange Weile die Aussicht durch die aufgestützten Ellbogen
seiner Nachbarn genommen war. Es schien hier überhaupt eine Sitte,
die Ellbogen aufzustützen und die Faust an die Schläfe zu drücken;
Josie musste daran denken, wie der Lateinprofessor Dr. Krumpal gerade
diese Haltung gehasst hatte und wie er immer heimlich und unversehens
herangekommen war und mittels eines plötzlich erscheinenden Lineals
mit schmerzhaftem Ruck die Ellbogen von den Tischen gestreift hatte.
Josie
stand eng ans Büffet gedrängt, denn kaum hatte er sich angestellt,
war hinter ihm ein Tisch aufgestellt worden, und der eine der dort
sich niederlassenden Gäste streifte schon, wenn er sich nur ein
wenig beim Reden zurück bog, mit seinem großen Hut Josies Rücken.
Und dabei war so wenig Hoffnung, vom Kellner etwas zu bekommen,
selbst als die beiden plumpen Nachbarn befriedigt weggegangen waren.
Einige Mal hatte Josie einen Kellner über den Tisch hin bei der
Schürze gefasst, aber immer hatte sich der mit verzerrtem Gesicht
losgerissen. Keiner war zu halten, sie liefen nur und liefen nur.
Wenn wenigstens in der Nähe Josies etwas Passendes zum Essen und
Trinken gewesen wäre, er hätte es genommen, sich nach dem Preis
erkundigt, das Geld hingelegt und wäre mit Freude weg gegangen. Aber
gerade vor ihm lagen nur Schüsseln mit heringsartigen Fischen, deren
schwarze Schuppen am Rande goldig glänzten. Die konnten sehr teuer
sein und würden wahrscheinlich niemanden sättigen. Außerdem waren
kleine Fässchen mit Rum erreichbar, aber Rum wollte er seinen
Kameraden nicht bringen, sie schienen schon sowieso bei jeder
Gelegenheit nur auf den konzentriertesten Alkohol auszugehn und darin
wollte er sie nicht noch unterstützen.
Es
blieb also Josie nichts übrig, als einen andern Platz zu suchen und
mit seinen Bemühungen von vorne anzufangen. Nun war aber auch schon
die Zeit sehr vorgerückt. Die Uhr am andern Ende des Saales, deren
Zeiger man beim scharfen Hinsehen durch den Rauch gerade noch
erkennen konnte, zeigte schon neun vorüber. Anderswo am Buffet war
aber das Gedränge noch größer, als an dem früheren, ein wenig
abgelegenen Platz. Außerdem füllte sich der Saal desto mehr, je
später es wurde. Immer wieder zogen durch die Haupttüre mit großem
Hallo neue Gäste ein. An manchen Stellen räumten Gäste
selbstherrlich das Buffet ab, setzten sich aufs Pult und tranken
einander zu; es waren die besten Plätze, man übersah den ganzen
Saal.
Josie
drängte sich zwar noch weiter durch, aber eine eigentliche Hoffnung,
etwas zu erreichen, hatte er nicht mehr. Er machte sich Vorwürfe
darüber, dass er, der die hiesigen Verhältnisse nicht kannte, sich
zu dieser Besorgung angeboten hatte. Seine Kameraden würden ihn mit
vollem Recht auszanken und gar noch denken, dass er, nur um Geld zu
sparen, nichts mitgebracht hatte. Nun stand er gar in einer Gegend,
wo ringsherum an den Tischen warme Fleischspeisen mit schönen,
gelben Kartoffeln gegessen wurden, es war ihm unbegreiflich, wie sich
das die Leute verschafft hatten.
Da
sah er paar Schritte vor sich eine ältere, offenbar zum
Hotelpersonal gehörige Frau, die lachend mit einem Gast redete.
Dabei arbeitete sie fortwährend mit einer Haarnadel in ihrer Frisur
herum. Sofort war Josie entschlossen, seine Bestellung bei dieser
Frau vorzubringen, schon weil sie ihm als die einzige Frau im Saal
eine Ausnahme vom allgemeinen Lärm und Jagen bedeutete und dann auch
aus dem einfachen Grunde, weil sie die einzige Hotelangestellte war,
die man erreichen konnte, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht
beim ersten Wort, das er an sie richten würde, in Geschäften
fortlief. Aber ganz das Gegenteil trat ein. Josie hatte sie noch gar
nicht angeredet, sondern nur ein wenig belauert, als sie, wie man
eben manchmal mitten im Gespräch beiseite schaut, zu Josie hinsah
und ihn, ihre Rede unterbrechend, freundlich und in einem Englisch
klar wie die Grammatik fragte, ob er etwas suche. "Allerdings",
sagte Josie, "ich kann hier gar nichts bekommen." "Dann
kommen Sie mit mir, Kleiner", sagte sie, verabschiedete sich von
ihrem Bekannten, der seinen Hut abnahm, was hier wie unglaubliche
Höflichkeit erschien, fasste Josie bei der Hand, ging zum Buffet,
schob einen Gast beiseite, öffnete eine Klapptür im Pult,
durchquerte mit Josie den Gang hinter dem Pult, wo man sich vor den
unermüdlich laufenden Kellnern in Acht nehmen musste, öffnete eine
zweifache Tapetentüre, und schon befanden sie sich in großen,
kühlen Vorratskammern. "Man muss eben den Mechanismus kennen",
sagte sich Josie. "Also was wollen Sie denn?" fragte sie
und beugte sich dienstbereit zu ihm herab. Sie war sehr dick, ihr
Leib schaukelte sich, aber ihr Gesicht hatte eine, natürlich im
Verhältnis, fast zarte Bildung. Josie war versucht, im Anblick der
vielen Esswaren, die hier sorgfältig in Regalen und auf Tischen
aufgeschichtet lagen, für seine Bestellung rasch ein feineres
Nachtessen auszudenken, besonders da er erwarten konnte, von dieser
einflussreichen Frau billig bedient zu werden, schließlich aber
nannte er doch wieder, da ihm nichts Passendes einfiel, nur Speck,
Brot und Bier. "Nichts weiter?" fragte die Frau. "Nein
danke", sagte Josie, "aber für drei Personen." Auf
die Frage der Frau nach den zwei andern, erzählte Josie in paar
kurzen Worten von seinen Kameraden, es machte ihm Freude, ein wenig
ausgefragt zu werden.
"Aber
das ist ja ein Essen für Sträflinge", sagte die Frau und
erwartete nun offenbar weitere Wünsche Josies. Dieser aber fürchtete
nun, sie werde ihn beschenken und kein Geld annehmen wollen und
schwieg deshalb. "Das werden wir gleich zusammengestellt haben",
sagte die Frau, ging mit einer bei ihrer Dicke bewunderungswerten
Beweglichkeit zu einem Tisch hin, schnitt mit einem langen dünnen,
sägeblattartigen Messer ein großes Stück mit viel Fleisch
durchwachsenen Specks ab, nahm aus einem Regal ein Laib Brot, hob vom
Boden drei Flaschen Bier auf und legte alles in einen leichten
Strohkorb, den sie Josie reichte. Zwischendurch erklärte sie Josie,
sie habe ihn deshalb hierher geführt, weil die Esswaren draußen im
Buffet im Rauch und in den vielen Ausdünstungen trotz des schnellen
Verbrauches immer die Frische verlieren. Für die Leute draußen sei
aber alles gut genug. Josie sagte nun gar nichts mehr, denn er wusste
nicht, wodurch er diese auszeichnende Behandlung verdiene. Er dachte
an seine Kameraden, die vielleicht, so gute Kenner Amerikas sie auch
waren, doch nicht bis in diese Vorratskammern gedrungen wären und
sich mit den verdorbenen Esswaren auf dem Büffet hätten begnügen
müssen. Man hörte hier keinen Laut aus dem Saal, die Mauern mussten
sehr dick sein, um diese Gewölbe genügend kühl zu erhalten. Josie
hatte schon den Strohkorb ein Weilchen lang in der Hand, dachte aber
nicht an Zahlen und rührte sich auch nicht. Nur als die Frau noch
nachträglich eine Flasche, ähnlich denen, die draußen auf den
Tischen standen, in den Korb legen wollte, dankte er schaudernd.
"Haben
Sie noch einen weiten Marsch?" fragte die Frau. "Bis nach
Butterford", antwortete Josie. "Das ist noch sehr weit",
sagte die Frau. "Noch eine Tagereise", sagte Josie. "Nicht
weiter?" fragte die Frau. "Oh nein", sagte Josie.
Die
Frau rückte einige Sachen auf den Tischen zurecht, ein Kellner kam
herein, schaute suchend herum, wurde dann von der Frau auf eine große
Schüssel hingewiesen, in der ein breiter, mit ein wenig Petersilie
bestreuter Haufen von Sardinen lag, und trug dann diese Schüssel in
den erhobenen Händen in den Saal hinaus.
"Warum
wollen Sie denn eigentlich im Freien übernachten?" fragte die
Frau. "Wir haben hier genug Platz. Schlafen Sie bei uns im
Hotel." Das war für Josie sehr verlockend, besonders da er die
vorige Nacht so schlecht verbracht hatte. "Ich habe mein Gepäck
draußen", sagte er zögernd und nicht ganz ohne Eitelkeit. "Das
bringen Sie nur her", sagte die Frau, "das ist kein
Hindernis." "Aber meine Kameraden!" sagte Josie und
merkte sofort, dass die allerdings ein Hindernis waren. "Die
dürfen natürlich auch hier übernachten", sagte die Frau.
"Kommen Sie nur! Lassen Sie sich nicht so bitten." "Meine
Kameraden sind im Übrigen brave Leute", sagte Josie, "aber
sie sind nicht rein." "Haben Sie denn den Schmutz im Saal
nicht gesehen?" fragte die Frau und verzog das Gesicht. "Zu
uns kann wirklich der Ärgste kommen. Ich werde also gleich drei
Betten vorbereiten lassen. Allerdings nur auf dem Dachboden, denn das
Hotel ist vollbesetzt, ich bin auch auf den Dachboden übersiedelt,
aber besser als im Freien ist es jedenfalls." "Ich kann
meine Kameraden nicht mitbringen", sagte Josie. Er stellte sich
vor, was für einen Lärm die zwei auf den Gängen dieses feinen
Hotels machen wurden, und Robinson würde alles verunreinigen und
Delamarche unfehlbar selbst diese Frau belästigen. "Ich weiß
nicht, warum das unmöglich sein soll", sagte die Frau, "aber
wenn Sie es so wollen, dann lassen Sie eben Ihre Kameraden draußen
und kommen allein zu uns." "Das geht nicht, das geht
nicht", sagte Josie, "es sind meine Kameraden und ich muss
bei ihnen bleiben." "Sie sind starrköpfig", sagte die
Frau und sah von ihm weg, "man meint es gut mit ihnen, möchte
ihnen gern behilflich sein und Sie wehren sich mit allen Kräften."
Josie sah das alles ein, aber er wusste keinen Ausweg, so sagte er
nur noch: "Meinen besten Dank für Ihre Freundlichkeit",
dann erinnerte er sich daran, dass er noch nicht gezahlt hatte, und
fragte nach dem schuldigen Betrag. "Zahlen Sie das erst, bis Sie
mir den Strohkorb zurückbringen", sagte die Frau. "Spätestens
morgen früh muss ich ihn haben." "Bitte", sagte
Josie. Sie öffnete eine Türe, die geradewegs ins Freie führte und
sagte noch, während er mit einer Verbeugung hinaustrat: "Gute
Nacht. Sie handeln aber nicht recht." Er war schon ein paar
Schritte weit, da rief sie ihm noch nach: "Auf Wiedersehn,
morgen!" Kaum war er draußen, hörte er auch schon wieder aus
dem Saal den ungeschwächten Lärm, in den sich jetzt auch Klänge
eines Blasorchesters mischten. Er war froh, dass er nicht durch den
Saal hatte herausgehen müssen. Das Hotel war jetzt in allen seinen
fünf Stockwerken beleuchtet und machte die Straße davor in ihrer
ganzen Breite hell. Noch immer fuhren draußen, wenn auch schon in
unterbrochener Folge, Automobile, rascher aus der Ferne her
anwachsend als bei Tag, tasteten mit den weißen Strahlen ihrer
Laternen den Boden der Straße ab, kreuzten mit erblassenden Lichtern
die Lichtzone des Hotels und eilten aufleuchtend in das weitere
Dunkel.
Die
Kameraden fand Josie schon in tiefem Schlaf, er war aber auch zu
lange ausgeblieben. Gerade wollte er das Mitgebrachte appetitlich auf
Papieren ausbreiten, die er im Korbe vorfand, um erst wenn alles
fertig wäre, die Kameraden zu wecken, als er zu seinem Schrecken
seinen Koffer, den er abgesperrt zurückgelassen hatte und dessen
Schlüssel er in der Tasche trug, vollständig geöffnet sah, während
der halbe Inhalt ringsherum im Gras verstreut war. "Steht auf!"
rief er. "Ihr schlaft und inzwischen waren Diebe da."
"Fehlt denn etwas?" fragte Delamarche. Robinson war noch
nicht ganz wach und griff schon nach dem Bier. "Ich weiß
nicht", rief Josie, "aber der Koffer ist offen. Das ist
doch eine Unvorsichtigkeit, sich schlafen zu legen und den Koffer
hier frei stehen zu lassen." Delamarche und Robinson lachten und
der erstere sagte: "Sie dürfen eben nächstens nicht so lange
fortbleiben. Das Hotel ist zehn Schritte entfernt und Sie brauchen
zum Hin- und Herweg drei Stunden. Wir haben Hunger gehabt, haben
gedacht, dass Sie in ihrem Koffer etwas zum Essen haben könnten und
haben das Schloss solange gekitzelt, bis es sich aufgemacht hat. Im
Übrigen war ja gar nichts drin und Sie können alles wieder ruhig
einpacken." "So", sagte Josie, starrte in den rasch
sich leerenden Korb und horchte auf das eigentümliche Geräusch, das
Robinson beim Trinken hervorbrachte, da ihm die Flüssigkeit zuerst
weit in die Gurgel eindrang, dann aber mit einer Art Pfeifen wieder
zurück schnellte, um erst dann in großem Erguss in die Tiefe zu
rollen. "Haben Sie schon zu Ende gegessen?" fragte er, als
sich die beiden einen Augenblick verschnauften. "Haben Sie denn
nicht schon im Hotel gegessen?" fragte Delamarche, der glaubte,
Josie beanspruche seinen Anteil. "Wenn Sie noch essen wollen,
dann beeilen Sie sich", sagte Josie und ging zu seinem Koffer.
"Der scheint Launen zu haben", sagte Delamarche zu
Robinson. "Ich habe keine Launen", sagte Josie, "aber
ist es vielleicht recht, in meiner Abwesenheit meinen Koffer
aufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen. Ich weiß, man muss
unter Kameraden manches dulden, und ich habe mich auch darauf
vorbereitet, aber das ist zu viel. Ich werde im Hotel übernachten
und gehe nicht nach Butterford. Essen Sie rasch auf, ich muss den
Korb zurückgeben." "Siehst du, Robinson, so spricht man",
sagte Delamarche, "das ist die feine Redeweise. Er ist eben ein
Deutscher. Du hast mich früh vor ihm gewarnt, aber ich bin ein guter
Narr gewesen und habe ihn doch mitgenommen. Wir haben ihm unser
Vertrauen geschenkt, haben ihn einen ganzen Tag mit uns geschleppt,
haben dadurch zumindest einen halben Tag verloren und jetzt — weil
ihn dort im Hotel irgendjemand gelockt hat — verabschiedet er sich,
verabschiedet sich einfach. Aber weil er ein falscher Deutscher ist,
tut er dies nicht offen, sondern sucht sich den Vorwand mit dem
Koffer und weil er ein grober Deutscher ist, kann er nicht weggehen,
ohne uns in unserer Ehre zu beleidigen und uns Diebe zu nennen, weil
wir mit seinem Koffer einen kleinen Scherz gemacht haben."
Josie, der seine Sachen packte, sagte ohne sich umzuwenden: "Reden
Sie nur so weiter und erleichtern Sie mir das Weggehn. Ich weiß ganz
gut, was Kameradschaft ist. Ich habe in Europa auch Freunde gehabt
und keiner kann mir vorwerfen, dass ich mich falsch oder gemein gegen
ihn benommen hätte. Wir sind jetzt natürlich außer Verbindung,
aber wenn ich noch einmal nach Europa zurückkommen sollte, werden
mich alle gut aufnehmen und mich sofort als ihren Freund anerkennen.
Und Sie, Delamarche, und Sie, Robinson, Sie hätte ich verraten
sollen, da Sie doch, was ich niemals vertuschen werde, so freundlich
waren, sich meiner anzunehmen und mir eine Lehrlingsstelle in
Butterford in Aussicht zu stellen. Aber es ist etwas anderes. Sie
haben nichts und das erniedrigt Sie in meinen Augen nicht im
Geringsten, aber Sie missgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchen
mich deshalb zu demütigen, das kann ich nicht aushalten. Und nun,
nachdem Sie meinen Koffer aufgebrochen haben, entschuldigen Sie sich
mit keinem Wort, sondern beschimpfen mich noch und beschimpfen weiter
mein Volk — damit nehmen Sie mir aber auch jede Möglichkeit, bei
Ihnen zu bleiben. Übrigens gilt das alles nicht eigentlich Ihnen,
Robinson. Gegen ihren Charakter habe ich nur einzuwenden, dass Sie
von Delamarche zu sehr abhängig sind." "Da sehen wir ja",
sagte Delamarche, indem er zu Josie trat und ihm einen leichten Stoß
gab, wie um ihn aufmerksam zu machen, "da sehen wir ja, wie Sie
sich entpuppen. Den ganzen Tag sind Sie hinter mir gegangen, haben
sich an meinem Rock gehalten, haben mir jede Bewegung nachgemacht und
waren sonst still wie ein Mäuschen. Jetzt aber, da Sie im Hotel
irgendeinen Rückhalt spüren, fangen Sie große Reden zu halten an.
Sie sind ein kleiner Schlaumeier und ich weiß noch gar nicht, ob wir
das so ruhig hinnehmen werden. Ob wir nicht das Lehrgeld für das
verlangen werden, was Sie uns während des Tages abgeschaut haben. Du
Robinson, wir beneiden ihn — meint er — um seinen Besitz. Ein Tag
Arbeit in Butterford — von Kalifornien gar nicht zu reden — und
wir haben zehnmal mehr, als Sie uns gezeigt haben und als Sie in
ihrem Rockfutter noch versteckt haben mögen. Also nur immer Achtung
aufs Maul!" Josie hatte sich vom Koffer erhoben und sah nun auch
den verschlafenen, aber vom Bier ein wenig belebten Robinson
herankommen. "Wenn ich noch lange hier bliebe", sagte er,
"könnte ich vielleicht noch weitere Überraschungen erleben.
Sie scheinen Lust zu haben, mich durch zu prügeln." "Alle
Geduld hat ein Ende", sagte Robinson. "Sie schweigen
besser, Robinson", sagte Josie, ohne Delamarche aus den Augen zu
lassen, "im Innern geben Sie mir ja doch recht, aber nach außen
müssen Sie es mit Delamarche halten." "Wollen Sie ihn
vielleicht bestechen?" fragte Delamarche. "Fällt mir nicht
ein", sagte Josie. "Ich bin froh, dass ich fortgehe und ich
will mit keinem von Ihnen mehr etwas zu tun haben. Nur eines will ich
noch sagen, Sie haben mir den Vorwurf gemacht, dass ich Geld besitze
und es vor ihnen versteckt habe. Angenommen, dass es wahr ist, war es
nicht sehr richtig, Leuten gegenüber gehandelt, die ich erst paar
Stunden kannte und bestätigen Sie nicht noch durch ihr jetziges
Benehmen die Richtigkeit einer derartigen Handlungsweise?"
"Bleib ruhig", sagte Delamarche zu Robinson, trotzdem sich
dieser nicht rührte. Dann fragte er Josie: "Da Sie so
unverschämt aufrichtig sind, so treiben Sie doch, da wir ja so
gemütlich beisammen stehen, diese Aufrichtigkeit noch weiter und
gestehen Sie ein, warum Sie eigentlich ins Hotel wollen." Josie
musste einen Schritt über den Koffer hinweg machen, so nahe war
Delamarche an ihn herangetreten. Aber Delamarche ließ sich dadurch
nicht beirren, schob den Koffer beiseite, machte einen Schritt
vorwärts, wobei er den Fuß auf ein weißes Vorhemd setzte, das im
Gras liegen geblieben war und wiederholte seine Frage.
Wie
zur Antwort stieg von der Straße her ein Mann mit einer stark
leuchtenden Taschenlampe zu der Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus
dem Hotel. Kaum hatte er Josie erblickt, sagte er: "Ich suche
Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen auf beiden
Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau Oberköchin lässt
Ihnen nämlich sagen, dass sie den Strohkorb, den sie Ihnen geborgt
hat, dringend braucht." "Hier ist er", sagte Josie,
mit einer vor Aufregung unsichern Stimme. Delamarche und Robinson
waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseite getreten, wie sie es vor
fremden, gut gestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahm den
Korb an sich und sagte: "Dann lässt Sie die Frau Oberköchin
fragen, ob Sie es sich nicht überlegt haben und doch vielleicht im
Hotel übernachten wollten. Auch die beiden andern Herren wären
willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen. Die Betten sind schon
vorbereitet. Die Nacht ist ja heute warm, aber hier auf der Lehne ist
es durchaus nicht ungefährlich zu schlafen, man findet öfters
Schlangen." "Da die Frau Oberköchin so freundlich ist,
werde ich ihre Einladung doch annehmen", sagte Josie und wartete
auf eine Äußerung seiner Kameraden. Aber Robinson stand stumpf da
und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute zu
den Sternen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, dass Josie sie ohne
weiteres mitnehmen werde. "Für diesen Fall", sagte der
Kellner, "habe ich den Auftrag, Sie ins Hotel zu führen und ihr
Gepäck zu tragen." "Dann warten Sie bitte noch einen
Augenblick", sagte Josie und bückte sich, um die paar Sachen,
die noch herum lagen, in den Koffer zu legen.
Plötzlich
richtete er sich auf. Die Fotografie fehlte, sie hatte ganz oben im
Koffer gelegen und war nirgends zu finden. Alles war vollständig,
nur die Fotografie fehlte. "Ich kann die Fotografie nicht
finden", sagte er bittend zu Delamarche. "Was für eine
Fotografie?" fragte dieser. "Die Fotografie meiner Eltern",
sagte Josie. "Wir haben keine Fotografie gesehen", sagte
Delamarche. "Es war keine Fotografie drin, Herr Rossmann",
bestätigte auch Robinson von seiner Seite. "Aber das ist doch
unmöglich", sagte Josie und seine Hilfe suchenden Blicke zogen
den Kellner näher. "Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn
Sie doch lieber den Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hätten."
"Jeder Irrtum ist ausgeschlossen", sagte Delamarche, "in
dem Koffer war keine Fotografie." "Sie war mir wichtiger,
als alles, was ich sonst im Koffer habe", sagte Josie zum
Kellner, der herum ging und im Grase suchte. "Sie ist nämlich
unersetzlich, ich bekomme keine zweite." Und als der Kellner von
dem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er noch: "Es war das
einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß." Daraufhin sagte
der Kellner laut, ohne jede Beschönigung: "Vielleicht könnten
wir noch die Taschen der Herren untersuchen." "Ja",
sagte Josie sofort, "ich muss die Fotografie finden. Aber ehe
ich die Taschen durchsuche, sage ich noch, dass, wer mir die
Fotografie freiwillig gibt, den ganzen gefüllten Koffer bekommt."
Nach einem Augenblick allgemeiner Stille sagte Josie zum Kellner:
"Meine Kameraden wollen also offenbar die Taschendurchsuchung.
Aber selbst jetzt verspreche ich sogar demjenigen, in dessen Tasche
die Fotografie gefunden wird, den ganzen Koffer. Mehr kann ich nicht
tun." Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarche zu
untersuchen, der ihm schwieriger zu behandeln schien, als Robinson,
den er Josie überließ. Er machte Josie darauf aufmerksam, dass
beide gleichzeitig untersucht werden müssten, da sonst einer
unbeobachtet die Fotografie beiseite schaffen könnte. Gleich beim
ersten Griff fand Josie in Robinsons Tasche eine ihm gehörige
Krawatte, aber er nahm sie nicht an sich und rief dem Kellner zu:
"Was Sie bei Delamarche auch finden mögen, lassen Sie ihm bitte
alles. Ich will nichts als die Fotografie, nur die Fotografie."
Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Josie mit der Hand an die
heiße, fettige Brust Robinsons und da kam es ihm zu Bewusstsein,
dass er an seinen Kameraden vielleicht ein großes Unrecht begehe. Er
beeilte sich nun nach Möglichkeit. Im Übrigen war alles umsonst,
weder bei Robinson noch bei Delamarche fand sich die Fotografie vor.
"Es
hilft nichts", sagte der Kellner. "Sie haben wahrscheinlich
die Fotografie zerrissen und die Stücke weggeworfen", sagte
Josie, "ich dachte, sie wären meine Freunde, aber im Geheimen
wollten sie mir nur schaden. Nicht eigentlich Robinson, der wäre gar
nicht auf den Einfall gekommen, dass die Fotografie solchen Wert für
mich hat, aber desto mehr Delamarche." Josie sah nur den Kellner
vor sich, dessen Laterne einen kleinen Kreis beleuchtete, während
alles sonst, auch Delamarche und Robinson, in tiefem Dunkel war.
Es
war natürlich gar nicht mehr die Rede davon, dass die beiden in das
Hotel mitgenommen werden könnten. Der Kellner schwang den Koffer auf
die Achsel, Josie nahm den Strohkorb und sie gingen. Josie war schon
auf der Straße, als er im Nachdenken sich unterbrechend stehen blieb
und in das Dunkel hinauf rief: "Hören Sie einmal! Sollte doch
einer von Ihnen die Fotografie noch haben und mir ins Hotel bringen
wollen — er bekommt den Koffer noch immer und wird — ich schwöre
es — nicht angezeigt." Es kam keine eigentliche Antwort
herunter, nur ein abgerissenes Wort war zu hören, der Beginn eines
Zurufes Robinsons, dem aber offenbar Delamarche sofort den Mund
stopfte. Noch eine lange Weile wartete Josie, ob man sich oben nicht
doch noch anders entscheiden würde. Zweimal rief er in Abständen:
"Ich bin noch immer da." Aber kein Laut antwortete, nur
einmal rollte ein Stein den Abhang herab, vielleicht durch Zufall,
vielleicht in einem verfehlten Wurf.
Kapitel
V: Im Hotel Occidental
Im
Hotel wurde Josie gleich in eine Art Büro geführt, in welchem die
Oberköchin, ein Vormerkbuch in der Hand, einer jungen
Schreibmaschinistin einen Brief in die Schreibmaschine diktierte. Das
äußerst präzise Diktieren, der beherrschte und elastische
Tastenschlag jagten an dem nur hier und da merklichen Ticken der
Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf Uhr zeigte. "So!"
sagte die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu, die
Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte den Holzdeckel über die
Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Josie zu
lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war
sehr sorgfältig gebügelt, auf den Achseln z.B. gewellt, die Frisur
recht hoch und man staunte ein wenig, wenn man nach diesen
Einzelheiten ihr ernstes Gesicht sah. Nach Verbeugungen zuerst gegen
die Oberköchin, dann gegen Josie entfernte sie sich und Josie sah
unwillkürlich die Oberköchin mit einem fragenden Blicke an.
"Das
ist aber schön, dass Sie nun doch gekommen sind", sagte die
Oberköchin. "Und ihre Kameraden?" "Ich habe sie nicht
mitgenommen", sagte Josie. "Die marschieren wohl sehr früh
aus", sagte die Oberköchin, wie um sich die Sache zu erklären.
"Muss sie denn nicht denken, dass ich auch mit marschiere?"
fragte sich Josie und sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen:
"Wir sind in Unfrieden auseinander gegangen." Die
Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen.
"Dann sind Sie also frei?" fragte sie. "Ja, frei bin
ich", sagte Josie und nichts schien ihm wertloser.
"Hören
Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?"
fragte die Oberköchin. "Sehr gern", sagte Josie, "ich
habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann z.B. nicht einmal
auf der Schreibmaschine schreiben." "Das ist nicht das
wichtigste", sagte die Oberköchin. "Sie bekämen eben
vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müssten dann zusehen,
durch Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinauf zu bringen. Jedenfalls
aber glaube ich, dass es für Sie besser und passender wäre, sich
irgendwo festzusetzen, statt so durch die Welt zu bummeln. Dazu
scheinen Sie mir nicht gemacht."
"Das
würde alles auch der Onkel unterschreiben", sagte sich Josie
und nickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, dass er, um
den man so besorgt war, sich noch gar nicht vorgestellt hatte.
"Entschuldigen Sie bitte", sagte er, "dass ich mich
noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Josie Rossmann."
"Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?" "Ja", sagte
Josie, "ich bin noch nicht lange in Amerika. "Von wo sind
Sie denn?" "Aus Prag, in Böhmen", sagte Josie. "Sehn
Sie einmal an", rief die Oberköchin, in einem stark englisch
betonten Deutsch und hob fast die Arme, "dann sind wir ja
Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag
kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der
Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur
einmal!" "Wann ist das gewesen?" fragte Josie. "Das
ist schon viele, viele Jahre her." "Die alte Goldene Gans",
sagte Josie, "ist vor zwei Jahren niedergerissen worden."
"Ja, freilich", sagte die Oberköchin, ganz in Gedanken an
vergangene Zeiten.
Mit
einem Male aber wieder lebhaft werdend, rief sie und fasste dabei
Josies Hände: "Jetzt, da es sich herausgestellt hat, dass Sie
mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das
dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie z.B. Lust Liftjunge zu
werden? Sagen Sie nur Ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bisschen herum
gekommen sind, werden Sie wissen, dass es nicht besonders leicht ist,
solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man
sich denken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen, man sieht
Sie immer, man gibt ihnen kleine Aufträge, kurz, Sie haben jeden Tag
die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Für alles Übrige
lassen Sie mich sorgen!" "Liftjunge möchte ich ganz gerne
sein", sagte Josie nach einer kleinen Pause. Es wäre ein großer
Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf
seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in
Amerika Grund gewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen.
Übrigens hatten die Liftjungen Josie immer gefallen, sie waren ihm
wie der Schmuck der Hotels vorgekommen. "Sind nicht
Sprachkenntnisse erforderlich?" fragte er noch. "Sie
sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen."
"Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten
erlernt", sagte Josie, er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht
verschweigen zu dürfen. "Das spricht schon genügend für Sie",
sagte die Oberköchin. "Wenn ich daran denke, welche
Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings
schon seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon
gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag."
Und sie suchte lächelnd den Eindruck von Josies Mienen abzulesen,
den die Würde dieses Alters auf ihn machte. "Dann wünsche ich
Ihnen viel Glück", sagte Josie. "Das kann man immer
brauchen", sagte sie, schüttelte Josie die Hand und wurde
wieder halb traurig, über diese alte Redensart aus der Heimat, die
ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.
"Aber
ich halte Sie hier auf", rief sie dann. "Und Sie sind
gewiss sehr müde und wir können auch alles viel besser bei Tag
besprechen. Die Freude einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz
gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in ihr Zimmer führen."
"Ich habe noch eine Bitte, Frau Oberköchin", sagte Josie
im Anblick des Telefonkastens, der auf einem Tische stand. "Es
ist möglich, dass mir morgen, vielleicht sehr früh, meine früheren
Kameraden eine Fotographie bringen, die ich dringend brauche. Wären
Sie so freundlich und würden Sie dem Portier telefonieren, er möchte
die Leute zu mir schicken oder mich holen lassen." "Gewiss",
sagte die Oberköchin, "aber würde es nicht genügen, wenn er
ihnen die Fotografie abnimmt? Was ist es denn für eine Fotografie,
wenn man fragen darf?" "Es ist die Fotographie meiner
Eltern", sagte Josie, "nein, ich muss mit den Leuten selbst
sprechen." Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab
telefonisch in die Portiersloge den entsprechenden Befehl, wobei sie
536 als Zimmernummer Josies nannte.
Sie
gingen dann durch eine der Eingangstüre entgegengesetzte Tür auf
einen kleinen Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein
kleiner Liftjunge schlafend lehnte. "Wir können uns selbst
bedienen", sagte die Oberköchin leise und ließ Josie in den
Aufzug eintreten. "Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden
ist eben ein wenig zu viel für einen solchen Jungen", sagte sie
dann, während sie aufwärts fuhren. "Aber es ist eigentümlich
in Amerika. Da ist dieser kleine Junge z.B., er ist auch erst vor
einem halben Jahr mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein
Italiener. Jetzt sieht es aus, als könne er die Arbeit unmöglich
aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein,
trotzdem er von Natur sehr bereitwillig ist — aber er muss nur noch
ein halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält
alles mit Leichtigkeit aus und in fünf Jahren wird er ein starker
Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang
erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein
kräftiger Junge. Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?" "Ich
werde nächsten Monat siebzehn", antwortete Josie. "Sogar
erst sechzehn!" sagte die Oberköchin. "Also nur Mut!"
Oben
führte sie Josie in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine
schiefe Wand hatte, im Übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei
Glühlampen sich sehr wohnlich zeigte. "Erschrecken Sie nicht
über die Einrichtung", sagte die Oberköchin, "es ist
nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die
aber aus drei Zimmern besteht, so dass Sie mich nicht im Geringsten
stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so dass Sie ganz
ungeniert bleiben. Morgen als neuer Hotelangestellter werden Sie
natürlich ihr eigenes Zimmerchen bekommen. Wären Sie mit ihren
Kameraden gekommen, dann hätte ich Ihnen in der gemeinsamen
Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sie allein
sind, denke ich, dass es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch
nur auf einem Sofa schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl, damit
Sie sich für den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu
streng sein." "Ich danke Ihnen vielmals für ihre
Freundlichkeit." "Warten Sie", sagte sie beim Ausgang
stehen bleibend, "da wären Sie aber bald geweckt worden."
Und sie ging zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte und rief:
"Therese!" "Bitte, Frau Oberköchin", meldete
sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin. "Wenn du mich
früh wecken gehst, so musst du über den Gang gehen, hier im Zimmer
schläft ein Gast. Er ist todmüde." Sie lächelte Josie zu,
während sie das sagte. "Hast du verstanden?" "Ja,
Frau Oberköchin." "Also dann gute Nacht!" "Gute
Nacht wünsch ich."
"Ich
schlafe nämlich", sagte die Oberköchin zur Erklärung, "seit
einigen Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner
Stellung zufrieden sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben.
Aber es müssen die Folgen meiner früheren Sorgen sein, die mir
diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh
einschlafe, kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf,
spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein muss, muss ich
mich wecken lassen und zwar besonders vorsichtig, damit ich nicht
noch nervöser werde, als ich schon bin. Und da weckt mich eben die
Therese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles und ich komme gar
nicht weg. Gute Nacht!" Und trotz ihrer Schwere huschte sie fast
aus dem Zimmer.
Josie
freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen.
Und behaglichere Umgebung konnte er für einen langen, ungestörten
Schlaf gar nicht wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum
Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein Wohnzimmer oder richtiger ein
Repräsentationszimmer der Oberköchin und ein Waschtisch war ihm
zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht, aber dennoch fühlte
sich Josie nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt.
Sein Koffer war richtig hergestellt und wohl schon lange nicht in
größerer Sicherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit
Schiebefächern, über den eine großmaschige wollene Decke gezogen
war, standen verschiedene Fotografien in Rahmen und unter Glas, bei
der Besichtigung des Zimmers blieb Josie dort stehn und sah sie an.
Es waren meist alte Fotografien und stellten in der Mehrzahl Mädchen
dar, die in unmodernen, unbehaglichen Kleidern, mit locker
aufgesetzten, kleinen aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf
einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit
den Blicken auswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Josie
besonders das Bild eines jungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein
Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar
dastand und voll von einem stolzen, aber unterdrückten Lachen war.
Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Fotografie nachträglich
vergoldet worden. Alle diese Fotografien stammten wohl noch aus
Europa, man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau
ablesen können, aber Josie wollte sie nicht in die Hand nehmen. So
wie diese Fotografien hier standen, so hatte er auch die Fotografie
seiner Eltern in seinem künftigen Zimmer aufstellen mögen.
Gerade
streckte er sich nach einer gründlichen Waschung des ganzen Körpers,
die er seiner Nachbarin wegen möglichst leise durchzuführen sich
bemüht hatte, im Vorgenuss des Schlafes auf seinem Kanapee, da
glaubte er ein schwaches Klopfen an einer Türe zu hören. Man konnte
nicht gleich feststellen, an welcher Tür es war, es konnte auch bloß
ein zufälliges Geräusch sein. Es wiederholte sich auch nicht gleich
und Josie schlief schon fast, als es wieder erfolgte. Aber nun war
kein Zweifel mehr, dass es ein Klopfen war und von der Tür der
Schreibmaschinistin herkam. Josie lief auf den Fußspitzen zur Tür
hin und fragte so leise, dass es, wenn man trotz allem nebenan doch
schlief, niemanden hätte wecken können: "Wünschen Sie etwas?"
Sofort und ebenso leise kam die Antwort: "Möchten Sie nicht die
Tür öffnen? Der Schlüssel steckt auf ihrer Seite." "Bitte",
sagte Josie, "ich muss mich nur zuerst anziehen." Es gab
eine kleine Pause, dann hieß es: "Das ist nicht nötig. Machen
Sie auf und legen Sie sich ins Bett, ich werde ein wenig warten."
"Gut", sagte Josie und führte es auch so aus, nur drehte
er außerdem noch das elektrische Licht auf. "Ich liege schon",
sagte er dann etwas lauter. Da trat auch schon aus ihrem dunklen
Zimmer die kleine Schreibmaschinistin, genau so angezogen wie unten
im Büro; sie hatte wohl die ganze Zeit über nicht daran gedacht,
schlafen zu gehen.
"Entschuldigen
Sie vielmals", sagte sie und stand ein wenig gebückt vor Josies
Lager, "und verraten Sie mich bitte nicht. Ich will Sie auch
nicht lange stören, ich weiß, dass Sie todmüde sind." "Es
ist nicht so arg", sagte Josie, "aber es wäre vielleicht
doch besser gewesen, ich hätte mich angezogen." Er musste
ausgestreckt daliegen, um bis an den Hals zugedeckt sein zu können,
denn er besaß kein Nachthemd. "Ich bleibe ja nur einen
Augenblick", sagte sie und griff nach einem Sessel, "kann
ich mich zum Kanapee setzen?" Josie nickte. Da setzte sie sich
so eng zum Kanapee, dass Josie an die Mauer rücken musste, um zu ihr
aufschauen zu können. Sie hatte ein rundes, gleichmäßiges Gesicht,
nur die Stirn war ungewöhnlich hoch, aber das konnte auch vielleicht
nur an der Frisur liegen, die ihr nicht recht passte. Ihr Anzug war
sehr rein und sorgfältig. In der linken Hand quetschte sie ein
Taschentuch.
"Werden
Sie lange hier bleiben?" fragte sie. "Es ist noch nicht
ganz bestimmt", antwortete Josie, "aber ich denke, ich
werde bleiben." "Das wäre nämlich sehr gut", sagte
sie und fuhr mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, "ich bin
hier nämlich so allein." "Das wundert mich", sagte
Josie, "die Frau Oberköchin ist doch sehr freundlich zu Ihnen.
Sie behandelt Sie gar nicht wie eine Angestellte. Ich dachte schon,
Sie wären verwandt." "Oh nein", sagte sie, "ich
heiße Therese Berchtold, ich bin aus Pommern." Auch Josie
stellte sich vor. Daraufhin sah sie ihn zum ersten Mal voll an, als
sei er ihr durch die Namensnennung ein wenig fremder geworden. Sie
schwiegen ein Weilchen. Dann sagte sie: "Sie dürfen nicht
glauben, dass ich undankbar bin. Ohne die Frau Oberköchin stünde es
ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchen hier im
Hotel und schon in großer Gefahr entlassen zu werden, denn ich
konnte die schwere Arbeit nicht leisten. Man stellt hier sehr große
Ansprüche. Vor einem Monat ist ein Küchenmädchen nur vor
Überanstrengung ohnmächtig geworden und vierzehn Tage im
Krankenhaus gelegen. Und ich bin nicht sehr stark, ich habe früher
viel zu leiden gehabt und bin dadurch in der Entwicklung ein wenig
zurückgeblieben, Sie würden wohl gar nicht sagen, dass ich schon
achtzehn Jahre alt bin. Aber jetzt werde ich schon stärker."
"Der Dienst hier muss wirklich sehr anstrengend sein",
sagte Josie. "Unten habe ich jetzt einen Liftjungen stehend
schlafen gesehen." "Dabei haben es die Liftjungen noch am
besten", sagte sie, "die verdienen ihr schönes Geld an
Trinkgeldern und müssen sich schließlich doch bei weitem nicht so
plagen, wie die Leute in der Küche. Aber da habe ich wirklich einmal
Glück gehabt, die Frau Oberköchin hat einmal ein Mädchen
gebraucht, um die Servietten für ein Bankett herzurichten, hat sie
uns Küchenmädchen herunter geschickt, es gibt hier an fünfzig
solcher Mädchen, ich war gerade bei der Hand und habe sie sehr
zufrieden gestellt, denn im Aufbauen der Servietten habe ich mich
immer ausgekannt. Und so hat sie mich von da an in ihrer Nähe
behalten und allmählich zu ihrer Sekretärin ausgebildet. Dabei habe
ich sehr viel gelernt." "Gibt es denn da so viel zu
schreiben?" fragte Josie. "Ach, sehr viel", antwortete
sie, "das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen.
Sie haben doch gesehen, dass ich heute bis halb zwölf gearbeitet
habe und heute ist kein besonderer Tag. Allerdings schreibe ich nicht
immerfort, sondern habe auch viele Besorgungen in der Stadt zu
machen." "Wie heißt denn die Stadt?" fragte Josie.
"Das wissen Sie nicht?" sagte sie: "Ramses." "Ist
es eine große Stadt?" fragte Josie. "Sehr groß",
antwortete sie, "ich gehe nicht gern hin. Aber wollen Sie nicht
wirklich schon schlafen?" "Nein, nein", sagte Josie,
"ich weiß ja noch gar nicht, warum Sie hereingekommen sind."
"Weil ich mit niemandem reden kann. Ich bin nicht wehleidig,
aber wenn wirklich niemand für einen da ist, so ist man schon
glücklich, schließlich von jemandem angehört zu werden. Ich habe
Sie schon unten im Saal gesehen, ich kam gerade um die Frau
Oberköchin zu holen, als sie Sie in die Speisekammern wegführte."
"Das ist ein schrecklicher Saal", sagte Josie. "Ich
merke es schon gar nicht mehr", antwortete sie. "Aber ich
wollte nur sagen, dass ja die Frau Oberköchin so freundlich zu mir
ist, wie es nur meine selige Mutter war. Aber es ist doch ein zu
großer Unterschied in unserer Stellung, als dass ich frei mit ihr
reden könnte. Unter den Küchenmädchen habe ich früher gute
Freundinnen gehabt, aber die sind schon längst nicht mehr hier und
die neuen Mädchen kenne ich kaum. Schließlich kommt es mir manchmal
vor, dass mich meine jetzige Arbeit mehr anstrengt, als die frühere,
dass ich sie aber nicht einmal so gut verrichte, wie die und dass
mich die Frau Oberköchin nur aus Mitleid in meiner Stellung hält.
Schließlich muss man ja wirklich eine bessere Schulbildung gehabt
haben, um Sekretärin zu werden. Es ist eine Sünde, das zu sagen,
aber oft und oft fürchte ich, wahnsinnig zu werden. Um
Gotteswillen", sagte sie plötzlich viel schneller und griff
flüchtig nach Josies Schulter, da er die Hände unter der Decke
hielt, "Sie dürfen aber der Frau Oberköchin kein Wort davon
sagen, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich ihr jetzt außer den
Umständen, die ich ihr durch meine Arbeit mache, auch noch Leid
bereiten sollte, das wäre wirklich das Höchste." "Es ist
selbstverständlich, dass ich ihr nichts sagen werde",
antwortete Josie. "Dann ist es gut", sagte sie, "und
bleiben Sie hier. Ich wäre froh, wenn Sie hier blieben und wir
könnten, wenn es ihnen recht ist, zusammenhalten. Gleich wie ich Sie
zum ersten Mal gesehn habe, habe ich Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und
trotzdem — denken Sie, so schlecht bin ich — habe ich auch Angst
gehabt, die Frau Oberköchin könnte Sie an meiner Stelle zum
Sekretär machen und mich entlassen. Erst wie ich da lange allein
gesessen bin, während Sie unten im Büro waren, habe ich mir die
Sache so zurechtgelegt, dass es sogar sehr gut wäre, wenn Sie meine
Arbeiten übernehmen würden, denn die würden Sie sicher besser
verstehn. Wenn Sie die Besorgungen in der Stadt nicht machen wollten,
könnte ich ja diese Arbeit behalten. Sonst aber wäre ich in der
Küche gewiss viel nützlicher, besonders da ich auch schon etwas
stärker geworden bin." "Die Sache ist schon geordnet",
sagte Josie, "ich werde Liftjunge und Sie bleiben Sekretärin.
Wenn Sie aber der Frau Oberköchin nur die geringste Andeutung von
ihren Plänen machen, verrate ich auch das Übrige, was Sie mir heute
gesagt haben, so leid es mir tun würde." Diese Tonart erregte
Therese so sehr, dass sie sich beim Bett niederwarf und wimmernd das
Gesicht ins Bettzeug drückte. "Ich verrate ja nichts",
sagte Josie, "aber Sie dürfen auch nichts sagen." Nun
konnte er nicht mehr ganz unter seiner Decke versteckt bleiben,
streichelte ein wenig ihren Arm, fand nichts Rechtes, was er ihr
sagen könne und dachte nur, dass hier ein bitteres Leben sei.
Endlich beruhigte sie sich wenigstens so weit, dass sie sich ihres
Weinens schämte, sah Josie dankbar an, redete ihm zu, morgen lange
zu schlafen und versprach, wenn sie Zeit fände, gegen acht Uhr
herauf zu kommen und ihn zu wecken. "Sie wecken ja so
geschickt", sagte Josie. "Ja, einiges kann ich", sagte
sie, fuhr mit der Hand zum Abschied sanft über seine Decke hin und
lief in ihr Zimmer.
Am
nächsten Tage bestand Josie darauf, gleich seinen Dienst anzutreten,
trotzdem ihm die Oberköchin diesen Tag für die Besichtigung von
Ramses freigeben wollte. Aber Josie erklärte offen, dafür werde
sich noch Gelegenheit finden, jetzt sei es für ihn das Wichtigste,
mit der Arbeit anzufangen, denn eine auf ein anderes Ziel gerichtete
Arbeit habe er schon in Europa nutzlos abgebrochen und fange als
Liftjunge in einem Alter an, in dem wenigstens die tüchtigen Jungen
nahe daran seien, in natürlicher Folge eine höhere Arbeit zu
übernehmen. Es sei ganz richtig, dass er als Liftjunge anfange, aber
ebenso richtig sei, dass er sich besonders beeilen müsse. Bei diesen
Umständen würde ihm die Besichtigung der Stadt gar kein Vergnügen
machen. Nicht einmal zu einem kurzen Weg, zu dem ihn Therese
aufforderte, konnte er sich entschließen. Immer schwebte ihm der
Gedanke daran vor Augen, es könne schließlich mit ihm, wenn er
nicht fleißig sei, so weit kommen wie mit Delamarche und Robinson.
Beim
Hotelschneider wurde ihm die Liftjungenuniform anprobiert, die
äußerlich sehr prächtig mit Goldknöpfen und Goldschnüren
ausgestattet war, bei deren Anziehen es Josie aber doch ein wenig
schauderte, denn besonders unter den Achseln war das Röckchen kalt,
hart und dabei unaustrockbar nass von dem Schweiß der Liftjungen,
die es vor ihm getragen hatten. Die Uniform musste auch vor allem
über der Brust eigens für Josie erweitert werden, denn keine der
zehn vorliegenden wollte auch nur beiläufig passen. Trotz dieser
Näharbeit, die hier notwendig war und trotzdem der Meister sehr
peinlich schien — zweimal flog die bereits abgelieferte Uniform aus
seiner Hand in die Werkstatt zurück — war alles in kaum fünf
Minuten erledigt und Josie verließ das Atelier schon als Liftjunge
mit anliegenden Hosen und einem trotz der bestimmten, gegenteiligen
Zusicherung des Meisters sehr beengenden Jäckchen, das immer wieder
zu Atemübungen verlockte, da man sehen wollte, ob das Atmen noch
immer möglich war.
Dann
meldete er sich bei jenem Oberkellner, unter dessen Befehl er stehen
sollte, einem schlanken, schönen Mann mit großer Nase, der wohl
schon in den vierziger Jahren stehen konnte. Er hatte keine Zeit,
sich auch nur auf das geringste Gespräch einzulassen und läutete
bloß einen Liftjungen herbei, zufällig gerade jenen, den Josie
gestern gesehen hatte. Der Oberkellner nannte ihn nur bei seinem
Taufnamen Giacomo, was Josie erst später erfuhr, denn in der
englischen Aussprache war der Name nicht zu erkennen. Dieser Junge
bekam nun den Auftrag, Josie das für den Liftdienst Notwendige zu
zeigen, aber er war so scheu und eilig, dass Josie von ihm, so wenig
auch im Grunde zu zeigen war, kaum dieses Wenige erfahren konnte.
Sicher war Giacomo auch deshalb verärgert, weil er den Liftdienst
offenbar Josies halber verlassen musste und den Zimmermädchen zur
Hilfeleistung zugeteilt war, was ihm nach bestimmten Erfahrungen, die
er aber verschwieg, entehrend vorkam. Enttäuscht war Josie vor allem
dadurch, dass ein Liftjunge mit der Maschinerie des Aufzugs nur
insoferne etwas zu tun hatte, als er ihn durch einen einfachen Druck
auf den Knopf in Bewegung setzte, während für Reparaturen am
Triebwerk derartig ausschließlich die Maschinisten des Hotels
verwendet wurden, dass z.B. Giacomo trotz halbjährigen Dienstes beim
Lift weder das Triebwerk im Keller, noch die Maschinerie im Innern
des Aufzugs mit eigenen Augen gesehen hatte, trotzdem ihn dies, wie
er ausdrücklich sagte, sehr gefreut hätte. Überhaupt war es ein
einförmiger Dienst und wegen der zwölfstündigen Arbeitszeit,
abwechselnd bei Tag und Nacht, so anstrengend, dass er nach Giacomos
Angaben überhaupt nicht auszuhalten war, wenn man nicht minutenweise
im Stehen schlafen konnte. Josie sagte hierzu nichts, aber er begriff
wohl, dass gerade diese Kunst Giacomo die Stelle gekostet hatte.
Sehr
willkommen war es Josie, dass der Aufzug, den er zu besorgen hatte,
nur für die obersten Stockwerke bestimmt war, weshalb er es nicht
mit den anspruchsvollsten reichen Leuten zu tun haben würde.
Allerdings konnte man hier auch nicht so viel lernen wie anderswo und
es war nur für den Anfang gut.
Schon
nach der ersten Woche sah Josie ein, dass er dem Dienst vollständig
gewachsen war. Das Messing seines Aufzugs war am besten geputzt,
keiner der dreißig anderen Aufzüge konnte sich darin vergleichen
und es wäre vielleicht noch leuchtender gewesen, wenn der Junge, der
bei dem gleichen Aufzug diente, auch nur annähernd so fleißig
gewesen wäre und sich nicht in seiner Lässigkeit durch Josies Fleiß
unterstützt gefühlt hätte. Es war ein geborener Amerikaner, namens
Renell, ein eitler Junge mit dunklen Augen und glatten, etwas
gehöhlten Wangen. Er hatte einen eleganten Privatanzug, in dem er an
dienstfreien Abenden leicht parfümiert in die Stadt eilte; hier und
da bat er auch Josie, ihn abends zu vertreten, da er in
Familienangelegenheiten weggehen müsse und es kümmerte ihn wenig,
dass sein Aussehen allen solchen Ausreden widersprach. Trotzdem
konnte ihn Josie gut leiden und hatte es gern, wenn Renell an solchen
Abenden vor dem Ausgehen in seinem Privatanzug unten beim Lift vor
ihm stehen blieb, sich noch ein wenig entschuldigte, während er die
Handschuhe über die Finger zog und dann durch den Korridor abging.
Im Übrigen wollte ihm Josie mit diesen Vertretungen nur eine
Gefälligkeit machen, wie sie ihm gegenüber einem älteren Kollegen
am Anfang selbstverständlich schien, eine dauernde Einrichtung
sollte es nicht werden. Denn ermüdend genug war dieses ewige Fahren
im Lift allerdings und gar in den Abendstunden hatte es fast keine
Unterbrechung.
Bald
lernte Josie auch, die kurzen, tiefen Verbeugungen machen, die man
von den Liftjungen verlangte und das Trinkgeld fing er im Fluge ab.
Es verschwand in seiner Westentasche und niemand hätte nach seinen
Mienen sagen können, ob es groß oder klein war. Vor Damen öffnete
er die Tür mit einer kleinen Beigabe von Galanterie und schwang sich
in den Aufzug langsam hinter ihnen, die in Sorge um ihre Röcke, Hüte
und Behänge zögernder als Männer einzutreten pflegten. Während
der Fahrt stand er, weil dies das unauffälligste war, knapp bei der
Tür mit dem Rücken zu seinen Fahrgästen und hielt den Griff der
Aufzugtüre, um sie im Augenblick der Ankunft plötzlich und doch
nicht etwa erschreckend seitwärts weg zu stoßen. Selten nur klopfte
ihm einer während der Fahrt auf die Schulter, um irgendeine kleine
Auskunft zu bekommen, dann drehte er sich eilig um, als habe er es
erwartet und gab mit lauter Stimme Antwort. Oft gab es trotz der
vielen Aufzüge, besonders nach Schluss der Theater oder nach Ankunft
bestimmter Expresszüge, ein solches Gedränge, dass er, kaum dass
die Gäste oben entlassen waren, wieder hinunterrasen musste, um die
dort Wartenden aufzunehmen. Er hatte auch die Möglichkeit, durch
Ziehen an einem durch den Aufzugskasten hindurchgehenden Drahtseil,
die gewöhnliche Schnelligkeit zu steigern, allerdings war dies durch
die Aufzugsordnung verboten und sollte auch gefährlich sein. Josie
tat es auch niemals, wenn er mit Passagieren fuhr, aber wenn er sie
oben abgesetzt hatte und unten andere warteten, dann kannte er keine
Rücksicht, und arbeitete an dem Seil mit starken, taktmäßigen
Griffen, wie ein Matrose. Er wusste übrigens, dass dies die andern
Liftjungen auch taten und er wollte seine Passagiere nicht an andere
Jungen verlieren. Einzelne Gäste, die längere Zeit im Hotel
wohnten, was hier übrigens ziemlich gebräuchlich war, zeigten hier
und da durch ein Lächeln, dass sie Josie als ihren Liftjungen
erkannten. Josie nahm diese Freundlichkeit mit ernstem Gesichte aber
gerne an. Manchmal, wenn der Verkehr etwas schwächer war, konnte er
auch besondere kleine Aufträge annehmen, z.B. einem Hotelgast, der
sich nicht erst in sein Zimmer bemühen wollte, eine im Zimmer
vergessene Kleinigkeit zu holen, dann flog er in seinem in solchen
Augenblicken ihm besonders vertrauten Aufzug allein hinauf, trat in
das fremde Zimmer, wo meistens sonderbare Dinge, die er nie gesehen
hatte, herum lagen oder auf den Kleiderrechen hingen, fühlte den
charakteristischen Geruch einer fremden Seife, eines Parfüms, eines
Mundwassers und eilte, ohne sich im geringsten aufzuhalten, mit dem
meist trotz undeutlicher Angaben gefundenen Gegenstand wieder zurück.
Oft bedauerte er, größere Aufträge nicht übernehmen zu können,
da hierfür eigene Diener und Botenjungen bestimmt waren, die ihre
Wege auf Fahrrädern, ja sogar Motorrädern besorgten, nur zu
Botengängen aus den Zimmern in die Speise- oder Spielsäle konnte
sich Josie bei günstiger Gelegenheit verwenden lassen.
Wenn
er nach der zwölfstündigen Arbeitszeit drei Tage um sechs Uhr
abends, die nächsten drei Tage um sechs Uhr früh aus der Arbeit
kam, war er so müde, dass er geradewegs, ohne sich um jemanden zu
kümmern, in sein Bett ging. Es lag im gemeinsamen Schlafsaal der
Liftjungen, die Frau Oberköchin, deren Einfluss vielleicht doch
nicht so groß war, wie er am ersten Abend geglaubt hatte, hatte sich
zwar bemüht, ihm ein eigenes Zimmerchen zu verschaffen, und es wäre
ihr wohl auch gelungen, aber da Josie sah, welche Schwierigkeiten es
machte und wie die Oberköchin öfters mit seinem Vorgesetzten, jenem
so beschäftigten Oberkellner, wegen dieser Sache telefonierte,
verzichtete er darauf und überzeugte die Oberköchin von dem Ernst
seines Verzichtes, mit dem Hinweis darauf, dass er von den andern
Jungen wegen eines nicht eigentlich selbst erarbeiteten Vorzugs nicht
beneidet werden wolle.
Ein
ruhiges Schlafzimmer war dieser Schlafsaal allerdings nicht. Denn da
jeder Einzelne die freie Zeit von zwölf Stunden verschiedenartig auf
Essen, Schlaf, Vergnügen und Nebenverdienst verteilte, war im
Schlafsaal immerfort die größte Bewegung. Da schliefen einige und
zogen die Decken über die Ohren, um nichts zu hören; wurde doch
einer geweckt, dann schrie er so wütend über das Geschrei der
andern, dass auch die übrigen noch so guten Schläfer nicht
standhalten konnten. Fast jeder Junge hatte seine Pfeife, es wurde
damit eine Art Luxus getrieben, auch Josie hatte sich eine
angeschafft und fand bald Geschmack an ihr. Nun durfte aber im Dienst
nicht geraucht werden, die Folge dessen war, dass im Schlafsaal
jeder, solange er nicht unbedingt schlief, auch rauchte. Infolge
dessen stand jedes Bett in einer eigenen Rauchwolke und alles in
einem allgemeinen Dunst. Es war unmöglich durchzusetzen, trotzdem
eigentlich die Mehrzahl grundsätzlich zustimmte, dass in der Nacht
nur an einem Ende des Saales das Licht brennen sollte. Wäre dieser
Vorschlag durchgedrungen, dann hätten diejenigen, welche schlafen
wollten, dies im Dunkel der einen Saalhälfte — es war ein großer
Saal mit vierzig Betten — ruhig tun können, während die andern im
beleuchteten Teil Würfel oder Karten hätten spielen und alles
Übrige besorgen können, wozu Licht nötig war. Hätte einer, dessen
Bett in der beleuchteten Saalhälfte stand, schlafen gehen wollen, so
hätte er sich in eines der freien Betten im Dunkel legen können,
denn es standen immer genug Betten frei, und niemand wendete gegen
eine derartige vorübergehende Benützung seines Bettes durch einen
Andern etwas ein. Aber es gab keine Nacht, in der diese Einteilung
befolgt worden wäre. Immer wieder fanden sich z.B. zwei, welche,
nachdem sie das Dunkel zu etwas Schlaf ausgenützt hatten, Lust
bekamen, in ihren Betten auf einem zwischen sie gelegten Brett Karten
zu spielen und natürlich drehten sie eine passende elektrische Lampe
auf, deren stechendes Licht die Schlafenden, wenn sie ihm zugewendet
waren, auffahren ließ. Man wälzte sich zwar noch ein wenig herum,
fand aber schließlich auch nichts Besseres zu tun, als mit dem
gleichfalls geweckten Nachbar auch ein Spiel bei neuer Beleuchtung
vorzunehmen. Und wieder dampften natürlich auch alle Pfeifen. Es gab
allerdings auch einige, die um jeden Preis schlafen wollten — Josie
gehörte meist zu ihnen — und die statt den Kopf aufs Kissen zu
legen, ihn mit dem Kissen bedeckten oder hinein einwickelten, aber
wie wollte man im Schlaf bleiben, wenn der nächste Nachbar in tiefer
Nacht aufstand, um vor dem Dienst noch ein wenig in der Stadt dem
Vergnügen nachzugehn, wenn er, in dem am Kopfende des eigenen Bettes
angebrachten Waschbecken, laut und Wasser sprühend sich wusch, wenn
er die Stiefel nicht nur polternd anzog, sondern stampfend sich
besser in sie hineintreten wollte — fast alle hatten trotz
amerikanischer Stiefelform zu enge Stiefel — um dann schließlich,
da ihm eine Kleinigkeit in seiner Ausstattung fehlte, das Kissen des
Schlafenden zu heben, unter dem man allerdings schon längst geweckt,
nur darauf wartete, auf ihn los zu fahren. Nun waren aber auch alle
Sportsleute und junge, meist kräftige Burschen, die keine
Gelegenheit zu sportlichen Übungen versäumen wollten. Und man
konnte sicher sein, wenn man in der Nacht, mitten aus dem Schlaf
durch großen Lärm geweckt, aufsprang, auf dem Boden neben seinem
Bett zwei Ringkämpfer zu finden, und bei greller Beleuchtung auf
allen Betten in der Runde aufrecht stehende Sachverständige in Hemd
und Unterhosen. Einmal fiel anlässlich eines solchen nächtlichen
Boxkampfes einer der Kämpfer über den schlafenden Josie und das
erste, was Josie beim Öffnen der Augen erblickte, war das Blut, das
dem Jungen aus der Nase rann, und ehe man noch etwas dagegen
unternehmen konnte, das ganze Bettzeug überfloss. Oft verbrachte
Josie fast die ganzen zwölf Stunden mit Versuchen, einige Stunden
Schlaf zu gewinnen, trotzdem es ihn auch sehr lockte, an den
Unterhaltungen der anderen teilzunehmen; aber immer wieder schien es
ihm, dass alle andern in ihrem Leben einen Vorsprung vor ihm hätten,
den er durch fleißigere Arbeit und ein wenig Verzichtsleistung
ausgleichen müsse. Trotzdem ihm also, hauptsächlich seiner Arbeit
wegen am Schlaf sehr gelegen war, beklagte er sich doch weder
gegenüber der Oberköchin noch gegenüber Therese über die
Verhältnisse im Schlafsaal, denn erstens trugen im Ganzen und Großen
alle Jungen schwer daran, ohne sich ernstlich zu beklagen, und
zweitens war die Plage im Schlafsaal ein notwendiger Teil seiner
Aufgabe als Liftjunge, die er ja aus den Händen der Oberköchin
dankbar übernommen hatte.
Einmal
in der Woche hatte er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden
frei, die er zum Teil dazu verwendete, bei der Oberköchin ein, zwei
Besuche zu machen und mit Therese, deren kärgliche, freie Zeit er
abpasste, irgendwo in einem Winkel, auf einem Korridor und selten nur
in ihrem Zimmer einige flüchtige Reden auszutauschen. Manchmal
begleitete er sie auch auf ihren Besorgungen in der Stadt, die alle
höchst eilig ausgeführt werden mussten. Dann liefen sie fast, Josie
mit ihrer Tasche in der Hand, zur nächsten Station der
Untergrundbahn, die Fahrt verging im Nu; als werde der Zug ohne jeden
Widerstand nur hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen,
klapperten statt auf den Aufzug zu warten, der ihnen zu langsam war,
die Stufen hinauf; die großen Plätze, von denen sternförmig die
Straßen auseinander flogen, erschienen und brachten ein Getümmel in
den von allen Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Josie und
Therese eilten, eng beisammen, in die verschiedenen Büros,
Waschanstalten, Lagerhäuser und Geschäfte, in denen telefonisch
nicht leicht zu besorgende, im Übrigen nicht besonders
verantwortliche Bestellungen oder Beschwerden auszurichten waren.
Therese merkte bald, dass Josies Hilfe hierbei nicht zu verachten
war, dass sie vielmehr in vieles eine große Beschleunigung brachte.
Niemals musste sie in seiner Begleitung, wie sonst oft, darauf
warten, dass die überbeschäftigten Geschäftsleute sie anhörten.
Er trat an das Pult und klopfte auf es solange mit den Knöcheln, bis
es half, er rief über Menschenmauern sein noch immer etwas
überspitztes, aus hundert Stimmen leicht heraus zu hörendes
Englisch hin, er ging auf die Leute ohne Zögern zu und mochten sie
sich hochmütig in die Tiefe der längsten Geschäftssäle
zurückgezogen haben. Er tat es nicht aus Übermut und würdigte
jeden Widerstand, aber er fühlte sich in einer sichern Stellung, die
ihm Rechte gab, das Hotel Occidental war eine Kundschaft, deren man
nicht spotten durfte und schließlich war Therese, trotz ihrer
geschäftlichen Erfahrung, hilfsbedürftig genug. "Sie sollten
immer mitkommen", sagte sie manchmal glücklich lachend, wenn
sie von einer besonders gut ausgeführten Unternehmung kamen.
Nur
dreimal während der anderthalb Monate, die Josie in Ramses blieb,
war er längere Zeit über ein paar Stunden in Thereses Zimmerchen.
Es war natürlich kleiner als irgendein Zimmer der Oberköchin, die
paar Dinge, welche darin standen, waren gewissermaßen nur um das
Fenster gelagert, aber Josie verstand schon nach seinen Erfahrungen
aus dem Schlafsaal den Wert eines eigenen, verhältnismäßig ruhigen
Zimmers, und wenn er es auch nicht ausdrücklich sagte, so merkte
Therese doch, wie ihm ihr Zimmer gefiel. Sie hatte keine Geheimnisse
vor ihm und es wäre auch nicht gut möglich gewesen, nach ihrem
Besuch damals am ersten Abend noch Geheimnisse vor ihm zu haben. Sie
war ein uneheliches Kind, ihr Vater war Baupolier und hatte die
Mutter und das Kind aus Pommern sich nachkommen lassen, aber als
hätte er damit seine Pflicht erfüllt oder als hätte er andere
Menschen erwartet, als die abgearbeitete Frau und das schwache Kind,
die er an der Landungsstelle in Empfang nahm, war er bald nach ihrer
Ankunft ohne viel Erklärungen nach Kanada ausgewandert und die
Zurückgebliebenen hatten weder einen Brief noch eine sonstige
Nachricht von ihm erhalten, was zum Teil auch nicht zu verwundern
war, denn sie waren in den Massenquartieren des New Yorker Ostens
unauffindbar verloren.
Einmal
erzählte Therese — Josie stand neben ihr beim Fenster und sah auf
die Straße — vom Tode ihrer Mutter. Wie die Mutter und sie an
einem Winterabend — sie konnte damals etwa fünf Jahre alt gewesen
sein — jede mit ihrem Bündel durch die Straßen eilten, um
Schlafstellen zu suchen. Wie die Mutter sie zuerst bei der Hand
führte, es war ein Schneesturm und nicht leicht vorwärts zu kommen,
bis die Hand erlahmte und sie Therese, ohne sich nach ihr umzusehen,
losließ, die sich nun Mühe geben musste, sich selbst an den Röcken
der Mutter festzuhalten. Oft stolperte Therese und fiel sogar, aber
die Mutter war wie in einem Wahn und hielt nicht an. Und diese
Schneestürme in den langen, geraden New Yorker Straßen! Josie hatte
noch keinen Winter in New York mitgemacht. Geht man gegen den Wind
und der dreht sich im Kreise, kann man keinen Augenblick die Augen
öffnen, immerfort zerreibt einem der Wind den Schnee auf dem
Gesicht, man läuft, aber kommt nicht weiter, es ist etwas
Verzweifeltes. Ein Kind ist dabei natürlich gegen Erwachsene im
Vorteil, es läuft unter dem Wind durch und hat noch ein wenig Freude
an allem. So hatte auch damals Therese ihre Mutter nicht ganz
begreifen können und sie war fest davon überzeugt, dass, wenn sie
sich an jenem Abend klüger — sie war eben noch ein so kleines Kind
— zu ihrer Mutter verhalten hätte, diese nicht einen so
jammervollen Tod hätte erleiden müssen. Die Mutter war damals schon
zwei Tage ohne Arbeit gewesen, nicht das kleinste Geldstück war mehr
vorhanden, der Tag war ohne einen Bissen im Freien verbracht worden
und in ihren Bündeln schleppten sie nur unbrauchbare Fetzen mit sich
herum, die sie vielleicht aus Aberglauben sich nicht weg zu werfen
getrauten. Nun war der Mutter für den nächsten Morgen Arbeit bei
einem Bau in Aussicht gestellt worden, aber sie fürchtete, wie sie
Therese den ganzen Tag über zu erklären suchte, die günstige
Gelegenheit nicht ausnützen zu können, denn sie fühlte sich
todmüde, hatte schon am Morgen zum Schrecken der Passanten auf der
Gasse viel Blut gehustet und ihre einzige Sehnsucht war, irgendwo in
die Wärme zu kommen und sich auszuruhen. Und gerade an diesem Abend
war es unmöglich, ein Plätzchen zu bekommen. Dort, wo sie nicht
schon vom Hausbesorger aus dem Torgang gewiesen wurden, in dem man
sich immerhin vom Wetter ein wenig hätte erholen können,
durcheilten sie die engen, eisigen Korridore, durchstiegen die hohen
Stockwerke, umkreisten die schmalen Terrassen der Höfe, klopften
wahllos an Türen, wagten einmal niemanden anzusprechen, baten dann
jeden, der ihnen entgegenkam, und einmal oder zweimal hockte die
Mutter atemlos auf der Stufe einer stillen Treppe nieder, riss
Therese, die sich fast wehrte, an sich und küsste sie mit
schmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn man nachher weiß, dass das
die letzten Küsse waren, begreift man nicht, dass man und mag man
ein kleiner Wurm gewesen sein, so blind sein konnte, das nicht
einzusehn. In manchen Zimmern, an denen sie vorüber kamen, waren die
Türen geöffnet, um eine erstickende Luft heraus zu lassen, und aus
dem rauchigen Dunst, der wie durch einen Brand verursacht die Zimmer
erfüllte, trat nur die Gestalt irgendjemandes hervor, der im
Türrahmen stand und entweder durch seine stumme Gegenwart oder durch
ein kurzes Wort die Unmöglichkeit eines Unterkommens in dem
betreffenden Zimmer bewies. Therese schien es jetzt im Rückblick,
dass die Mutter nur in den ersten Stunden ernstlich einen Platz
suchte, denn nachdem etwa Mitternacht vorüber war, hat sie wohl
niemanden mehr angesprochen, trotzdem sie mit kleinen Pausen bis zur
Morgendämmerung nicht aufhörte weiter zu jagen und trotzdem in
diesen Häusern, in denen weder Haustore noch Wohnungstüren je
verschlossen werden, immerfort Leben ist und einem Menschen auf
Schritt und Tritt begegnen. Natürlich war es kein Laufen, das sie
rasch weiter brachte, sondern es war nur die äußerste Anstrengung,
deren sie fähig waren, und es konnte in Wirklichkeit ganz gut auch
bloß ein Schleichen sein. Therese wusste auch nicht, ob sie von
Mitternacht bis fünf Uhr früh in zwanzig Häusern oder zwei oder
gar nur in einem Haus gewesen waren. Die Korridore dieser Häuser
sind nach schlauen Plänen der besten Raumausnützung, aber ohne
Rücksicht auf leichte Orientierung angelegt, wie oft waren sie wohl
durch die gleichen Korridore gekommen! Therese hatte wohl in dunkler
Erinnerung, dass sie das Tor eines Hauses, das sie ewig durchsucht
hatten, wieder verließen, aber ebenso schien es ihr, dass sie auf
der Gasse gleich gewendet und wieder in dieses Haus sich gestürzt
hätten. Für das Kind war es natürlich ein unbegreifliches Leid,
einmal von der Mutter gehalten, einmal sich an ihr festhaltend, ohne
ein kleines Wort des Trostes mitgeschleift zu werden, und das Ganze
schien damals für seinen Unverstand nur die Erklärung zu haben,
dass die Mutter von ihm weglaufen wolle. Darum hielt sich Therese
desto fester, selbst wenn die Mutter sie an einer Hand hielt, der
Sicherheit halber auch noch mit der andern Hand an den Röcken der
Mutter, und heulte in Abständen. Sie wollte nicht hier
zurückgelassen werden, zwischen den Leuten, die vor ihnen die
Treppen stampfend emporstiegen, die hinter ihnen, noch nicht zu
sehen, hinter einer Wendung der Treppe herankamen, die in den Gängen
vor einer Tür Streit miteinander hatten und einander gegenseitig in
das Zimmer hinein stießen. Betrunkene wanderten mit dumpfem Gesang
im Haus umher und glücklich schlüpfte noch die Mutter mit Therese
durch solche, sich gerade schließende Gruppen. Gewiss hätten sie
spät in der Nacht, wo man nicht mehr so Acht gab und niemand mehr
unbedingt auf seinem Recht bestand, wenigstens in einen der
allgemeinen, von Unternehmern vermieteten Schlafsäle sich drängen
können, an deren einigen sie vorüber kamen, aber Therese verstand
es nicht, und die Mutter wollte keine Ruhe mehr. Am Morgen, dem
Beginn eines schönen Wintertages, lehnten sie beide an einer
Hausmauer und hatten dort vielleicht ein wenig geschlafen, vielleicht
nur mit offenen Augen herum gestarrt. Es zeigte sich, dass Therese
ihr Bündel verloren hatte und die Mutter machte sich daran, Therese
zur Strafe für die Unachtsamkeit zu schlagen, aber Therese hörte
keinen Schlag und spürte keinen. Sie gingen dann weiter, durch die
sich belebenden Gassen, die Mutter an der Mauer, kamen über eine
Brücke, wo die Mutter mit der Hand den Reif vom Geländer streifte
und gelangten schließlich, damals hatte es Therese hingenommen,
heute verstand sie es nicht, gerade zu jenem Bau, zu dem die Mutter
für jenen Morgen bestellt war. Sie sagte Therese nicht, ob sie
warten oder weggehen solle und Therese nahm dies als Befehl zum
Warten, da dies ihren Wünschen am besten entsprach. Sie setzte sich
also auf einen Ziegelhaufen und sah zu, wie die Mutter ihr Bündel
aufschnürte, einen bunten Fetzen heraus nahm und damit ihr Kopftuch
umband, das sie während der ganzen Nacht getragen hatte. Therese war
zu müde, als dass ihr auch nur der Gedanke gekommen wäre, der
Mutter zu helfen. Ohne sich in der Bauhütte zu melden, wie dies
üblich war, und ohne jemanden zu fragen, stieg die Mutter eine
Leiter hinauf, als wisse sie schon selbst, welche Arbeit ihr
zugeteilt war. Therese wunderte sich darüber, da die Handlangerinnen
gewöhnlich nur unten mit Kalk löschen, mit dem Hinreichen der
Ziegel und mit sonstigen einfachen Arbeiten beschäftigt werden. Sie
dachte daher, die Mutter wolle heute eine besser bezahlte Arbeit
ausführen und lächelte verschlafen zu ihr hinauf. Der Bau war noch
nicht hoch, kaum bis zum Erdgeschoss gediehn, wenn auch schon die
hohen Gerüststangen für den weitern Bau, allerdings noch ohne
Verbindungshölzer, zum blauen Himmel ragten. Oben umging die Mutter
geschickt die Maurer, die Ziegel auf Ziegel legten, und sie
unbegreiflicher Weise nicht zur Rede stellten, sie hielt sich
vorsichtig mit zarter Hand an einem Holzverschlag, der als Geländer
diente, und Therese staunte unten in ihrem Dusel diese
Geschicklichkeit an und glaubte noch einen freundlichen Blick der
Mutter erhalten zu haben. Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zu
einem kleinen Ziegelhaufen, vor dem das Geländer und wahrscheinlich
auch der Weg aufhörte, aber sie hielt sich nicht daran, ging auf den
Ziegelhaufen los, ihre Geschicklichkeit schien sie verlassen zu
haben, sie stieß den Ziegelhaufen um und fiel über ihn hinweg in
die Tiefe. Viele Ziegel rollten ihr nach und schließlich, eine ganze
Weile später, löste sich irgendwo ein schweres Brett los und
krachte auf sie nieder. Die letzte Erinnerung Thereses an ihre Mutter
war, wie sie mit auseinander gestreckten Beinen da lag, in dem
karierten Rock, der noch aus Pommern stammte, wie jenes auf ihr
liegende, rohe Brett sie fast bedeckte, wie nun die Leute von allen
Seiten zusammen liefen und wie oben vom Bau irgendein Mann zornig
etwas hinunter rief.
Es
war spät geworden, als Therese ihre Erzählung beendet hatte. Sie
hatte ausführlich erzählt, wie es sonst nicht ihre Gewohnheit war,
und gerade bei gleichgültigen Stellen, wie bei der Beschreibung der
Gerüststangen, die jede allein für sich in den Himmel ragten, hatte
sie mit Tränen in den Augen inne halten müssen. Sie wusste jede
Kleinigkeit, die damals vorgefallen war, jetzt nach zehn Jahren ganz
genau, und weil der Anblick ihrer Mutter, oben im halbfertigen
Erdgeschoss, das letzte Andenken an das Leben der Mutter war und sie
es ihrem Freunde gar nicht genug deutlich überantworten konnte,
wollte sie nach dem Schlusse ihrer Erzählung noch einmal darauf
zurückkommen, stockte aber, legte das Gesicht in die Hände und
sagte kein Wort mehr.
Es
gab aber auch lustigere Zeiten in Theresens Zimmer. Gleich bei seinem
ersten Besuch hatte Josie dort ein Lehrbuch der kaufmännischen
Korrespondenz liegen gesehn und auf seine Bitte geborgt erhalten. Es
wurde gleichzeitig besprochen, dass Josie die im Buch enthaltenen
Aufgaben machen und Theresen, die das Buch, so weit es für ihre
kleinen Arbeiten nötig war, schon durchstudiert hatte, zur
Durchsicht vorlegen solle. Nun lag Josie ganze Nächte lang, Watte in
den Ohren, unten auf seinem Bett im Schlafsaal, der Abwechslung
halber in allen möglichen Lagen, las im Buch und kritzelte die
Aufgaben in ein Heftchen mit einer Füllfeder, die ihm die Oberköchin
zur Belohnung dafür geschenkt hatte, dass er für sie ein großes
Inventurverzeichnis sehr praktisch angelegt und rein ausgeführt
hatte. Es gelang ihm, die meisten Störungen der andern Jungen
dadurch zum Guten zu wenden, dass er sich von ihnen immer kleine
Ratschläge in der englischen Sprache geben ließ, bis sie dessen
müde wurden und ihn in Ruhe ließen. Oft staunte er, wie die andern
mit ihrer gegenwärtigen Lage ganz ausgesöhnt waren, ihren
provisorischen Charakter — ältere als zwanzigjährige Liftjungen
wurden nicht geduldet — gar nicht fühlten, die Notwendigkeit einer
Entscheidung über ihren künftigen Beruf nicht einsahen und trotz
Josies Beispiel nichts anderes lasen, als höchstens
Detektivgeschichten, die in schmutzigen Fetzen von Bett zu Bett
gereicht wurden.
Bei
den Zusammenkünften korrigierte nun Therese mit übergroßer
Umständlichkeit, es ergaben sich strittige Ansichten, Josie führte
als Zeugen seinen großen New Yorker Professor an, aber der galt bei
Therese ebenso wenig wie die grammatikalischen Meinungen der
Liftjungen. Sie nahm ihm die Füllfeder aus der Hand und strich die
Stelle, von deren Fehlerhaftigkeit sie überzeugt war, durch, Josie
aber strich in solchen Zweifelsfällen, trotzdem im Allgemeinen keine
höhere Autorität als Therese die Sache zu Gesicht bekommen sollte,
aus Genauigkeit die Striche Theresens wieder durch.
Manchmal
allerdings kam die Oberköchin und entschied dann immer zu Theresens
Gunsten, was noch nicht beweisend war, denn Therese war ihre
Sekretärin. Gleichzeitig aber brachte sie die allgemeine Versöhnung,
denn es wurde Tee gekocht, Gebäck geholt und Josie musste von Europa
erzählen, allerdings mit vielen Unterbrechungen von Seiten der
Oberköchin, die immer wieder fragte und staunte, wodurch sie Josie
zu Bewusstsein brachte, wie vieles sich dort in verhältnismäßig
kurzer Zeit von Grund aus geändert hatte und wie vieles wohl auch
schon seit seiner Abwesenheit anders geworden war und immerfort
anders wurde.
Josie
mochte einen Monat etwa in Ramses gewesen sein, als ihm eines Abends
Renell im Vorübergehen sagte, er sei vor dem Hotel von einem Mann
mit Namen Delamarche angesprochen und nach Josie ausgefragt worden.
Renell habe nun keinen Grund gehabt, etwas zu verschweigen, und habe
der Wahrheit gemäß erzählt, dass Josie Liftjunge sei, jedoch
Aussicht habe, infolge der Protektion der Oberköchin, noch ganz
andere Stellen zu bekommen. Josie merkte, wie vorsichtig Renell von
Delamarche behandelt worden war, der ihn sogar für diesen Abend zu
einem gemeinsamen Nachtmahl eingeladen hatte. "Ich habe nichts
mehr mit Delamarche zu tun", sagte Josie. "Nimm du dich nur
auch vor ihm in Acht!" "Ich?" sagte Renell, streckte
sich und eilte weg. Er war der zierlichste Junge im Hotel und es ging
unter den andern Jungen, ohne dass man den Urheber wusste, das
Gerücht herum, dass er von einer vornehmen Dame, die schon längere
Zeit im Hotel wohnte, im Lift zumindest abgeküsst worden sei. Für
den, der das Gerücht kannte, hatte es unbedingt einen großen Reiz,
jene selbstbewusste Dame, in deren Äußern nicht das Geringste die
Möglichkeit eines solchen Benehmens ahnen ließ, mit ihren ruhigen,
leichten Schritten, zarten Schleiern, streng geschnürter Taille an
sich vorüber gehn zu sehen. Sie wohnte im ersten Stock und Renells
Lift war nicht der ihre, aber man konnte natürlich, wenn die andern
Lifts augenblicklich besetzt waren, solchen Gästen den Eintritt in
einen andern Lift nicht verwehren. So kam es, dass diese Dame hier
und da in Josies und Renells Lift fuhr und tatsächlich immer nur,
wenn Renell Dienst hatte. Es konnte Zufall sein, aber niemand glaubte
daran, und wenn der Lift mit den beiden abfuhr, gab es in der ganzen
Reihe der Liftjungen eine mühsam unterdrückte Unruhe, die schon
sogar zum Einschreiten eines Oberkellners geführt hatte. Sei es nun
dass die Dame, sei es, dass das Gerücht die Ursache war, jedenfalls
hatte sich Renell verändert, war noch bei weitem selbstbewusster
geworden, überließ das Putzen gänzlich Josie, der schon auf die
nächste Gelegenheit einer gründlichen Aussprache hierüber wartete,
und war im Schlafsaal gar nicht mehr zu sehn. Kein anderer war so
vollständig aus der Gemeinschaft der Liftjungen ausgetreten, denn im
Allgemeinen hielten alle zumindest in Dienstfragen streng zusammen
und hatten eine Organisation, die von der Hoteldirektion anerkannt
war.
Alles
dieses ließ sich Josie durch den Kopf gehen, dachte auch an
Delamarche und verrichtete im Übrigen seinen Dienst wie immer. Gegen
Mitternacht hatte er eine kleine Abwechslung, denn Therese, die ihn
öfters mit kleinen Geschenken überraschte, brachte ihm einen großen
Apfel und eine Tafel Schokolade. Sie unterhielten sich ein wenig,
durch die Unterbrechungen, welche die Fahrten mit dem Aufzug
brachten, kaum gestört. Das Gespräch kam auch auf Delamarche, und
Josie merkte, dass er sich eigentlich durch Therese hatte
beeinflussen lassen, wenn er ihn seit einiger Zeit für einen
gefährlichen Menschen hielt; denn so erschien er allerdings Therese,
nach Josies Erzählungen. Josie jedoch hielt ihn im Grunde nur für
einen Lumpen, der durch das Unglück sich hatte verderben lassen, und
mit dem man schon auskommen konnte. Therese widersprach dem aber sehr
lebhaft und forderte Josie in langen Reden das Versprechen ab, kein
Wort mit Delamarche mehr zu reden. Statt dieses Versprechen zu geben,
drängte sie Josie wiederholt schlafen zu gehen, da schon Mitternacht
längst vorüber war, und als sie sich weigerte, drohte er seinen
Posten zu verlassen und sie in ihr Zimmer zu führen. Als sie endlich
bereit war wegzugehen, sagte er: "Warum machst du dir so
unnötige Sorgen, Therese? Für den Fall, dass du dadurch besser
schlafen solltest, verspreche ich dir gerne, dass ich mit Delamarche
nur reden werde, wenn es sich nicht vermeiden lässt." Dann
kamen viele Fahrten, denn der Junge am Nebenlift wurde zu irgendeiner
andern Dienstleistung verwendet, und Josie musste beide Lifts
besorgen. Es gab Gäste, die von Unordnung sprachen und ein Herr, der
eine Dame begleitete, berührte Josie sogar leicht mit dem
Spazierstock, um ihn zur Eile anzutreiben, eine Ermahnung, die recht
unnötig war. Wenn doch wenigstens die Gäste, da sie sahen, dass bei
dem einen Lift kein Junge stand, gleich zu Josies Lift getreten
wären, aber das taten sie nicht, sondern gingen zu dem Nebenlift und
blieben dort, die Hand an der Klinke stehen, oder traten gar selbst
in den Aufzug ein, was nach dem strengsten Paragrafen der
Dienstordnung die Liftjungen um jeden Preis verhüten sollten. So gab
es für Josie ein sehr ermüdendes Hin- und Herlaufen, ohne dass er
aber dabei das Bewusstsein gehabt hätte, seine Pflicht genau zu
erfüllen. Gegen drei Uhr früh wollte überdies ein Packträger, ein
alter Mann, mit dem er ein wenig befreundet war, irgendeine
Hilfeleistung von ihm haben, aber die konnte er nun keinesfalls
leisten, denn gerade standen Gäste vor seinen beiden Lifts, und es
gehörte Geistesgegenwart dazu, sich sofort mit großen Schritten für
eine Gruppe zu entscheiden. Er war daher glücklich, als der andere
Junge wieder antrat, und rief ein paar Worte des Vorwurfs wegen
seines langen Ausbleibens zu ihm hinüber, trotzdem er wahrscheinlich
keine Schuld daran hatte. Nach vier Uhr früh trat ein wenig Ruhe
ein, aber Josie brauchte sie auch schon dringend. Er lehnte schwer am
Geländer, neben seinem Aufzug, aß langsam den Apfel, aus dem schon
nach dem ersten Biss ein starker Duft strömte und sah in einen
Lichtschacht hinunter, der von großen Fenstern der Vorratskammern
umgeben war, hinter denen hängende Massen von Bananen im Dunkel
gerade noch schimmerten.
Kapitel
VI: Der Fall Robinson
Da
klopfte ihm jemand auf die Schulter. Josie, der natürlich dachte, es
wäre ein Gast, steckte den Apfel eiligst in die Tasche und eilte,
kaum dass er den Mann ansah, zum Aufzug hin. "Guten Abend, Herr
Rossmann", sagte nun aber der Mann, "ich bin es, Robinson."
"Sie haben sich aber verändert", sagte Josie und
schüttelte den Kopf. "Ja, es geht mir gut", sagte Robinson
und sah an seiner Kleidung hinunter, die vielleicht aus genug feinen
Stücken bestand, aber so zusammengewürfelt war, dass sie geradezu
schäbig aussah. Das Auffallendste war eine offenbar zum ersten Mal
getragene, weiße Weste mit vier kleinen schwarz eingefassten
Täschchen, auf die Robinson auch durch Vorstrecken der Brust
aufmerksam zu machen suchte. "Sie haben teure Kleider",
sagte Josie und dachte flüchtig an sein schönes, einfaches Kleid,
in dem er sogar neben Renell hätte bestehen können und das die zwei
schlechten Freunde verkauft hatten. "Ja", sagte Robinson,
"ich kaufe mir fast jeden Tag irgendetwas. Wie gefällt ihnen
die Weste?" "Ganz gut", sagte Josie. "Es sind
aber keine wirklichen Taschen, das ist nur so gemacht", sagte
Robinson und fasste Josie bei der Hand, damit sich dieser selbst
davon überzeuge. Aber Josie wich zurück, denn aus Robinsons Mund
kam ein unerträglicher Branntweingeruch. "Sie trinken wieder
viel", sagte Josie und stand schon wieder am Geländer. "Nein",
sagte Robinson, "nicht viel", und fügte im Widerspruch zu
seiner früheren Zufriedenheit hinzu: "Was hat der Mensch sonst
auf der Welt." Eine Fahrt unterbrach das Gespräch und, kaum war
Josie wieder unten, erfolgte ein telefonischer Anruf, laut dessen
Josie den Hotelarzt holen sollte, da eine Dame im siebenten Stockwerk
einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Während dieses Weges hoffte
Josie im Geheimen, dass Robinson sich inzwischen entfernt haben
werde, denn er wollte nicht mit ihm gesehen werden und in Gedanken an
Theresens Warnung auch von Delamarche nichts hören. Aber Robinson
wartete noch in der steifen Haltung eines Vollgetrunkenen und gerade
ging ein höherer Hotelbeamter im schwarzen Gehrock und Zylinderhut
vorüber, ohne glücklicherweise Robinson, wie es schien, besonders
zu beachten. "Wollen Sie, Rossmann, nicht einmal zu uns kommen,
wir haben es jetzt sehr fein", sagte Robinson und sah Josie
lockend an. "Laden Sie mich ein oder Delamarche?" fragte
Josie. "Ich und Delamarche. Wir sind darin einig", sagte
Robinson. "Dann sage ich Ihnen und bitte Sie Delamarche das
Gleiche auszurichten: Unser Abschied war, wenn das nicht schon an und
für sich klar gewesen sein sollte, ein endgültiger. Sie beide haben
mir mehr Leid getan, als irgendjemand. Haben Sie sich vielleicht in
den Kopf gesetzt, mich auch weiterhin nicht in Ruhe zu lassen?"
"Wir sind doch ihre Kameraden", sagte Robinson und
widerliche Tränen der Trunkenheit stiegen ihm in die Augen.
"Delamarche lässt Ihnen sagen, dass er Sie für alles Frühere
entschädigen will. Wir wohnen jetzt mit Brunelda zusammen, einer
herrlichen Sängerin." Und im Anschluss daran wollte er gerade
ein Lied in hohen Tönen singen, wenn ihn nicht Josie noch
rechtzeitig angezischt hätte: "Schweigen Sie aber
augenblicklich, wissen Sie denn nicht, wo Sie sind." "Rossmann",
sagte Robinson, nur rücksichtlich des Singens eingeschüchtert, "ich
bin doch ihr Kamerad, sagen Sie, was Sie wollen. Und nun haben Sie
hier so eine schöne Position, könnten Sie mir einiges Geld
überlassen." "Sie vertrinken es ja bloß wieder",
sagte Josie, "da sehe ich sogar in ihrer Tasche irgendeine
Branntweinflasche, aus der Sie gewiss, während ich weg war,
getrunken haben, denn anfangs waren Sie ja noch ziemlich bei Sinnen."
"Das ist nur zur Stärkung, wenn ich auf einem Wege bin",
sagte Robinson entschuldigend. "Ich will Sie ja nicht mehr
bessern", sagte Josie. "Aber das Geld!" sagte Robinson
mit aufgerissenen Augen. "Sie haben wohl von Delamarche den
Auftrag bekommen Geld mitzubringen. Gut, ich gebe Ihnen Geld, aber
nur unter der Bedingung, dass Sie sofort von hier fortgehn und
niemals mehr mich hier besuchen. Wenn Sie nur etwas mitteilen wollen,
schreiben Sie an mich. Josie Rossmann, Liftjunge, Hotel Occidental,
genügt als Adresse. Aber hier dürfen Sie, das wiederhole ich, mich
nicht mehr aufsuchen. Hier bin ich im Dienst und habe keine Zeit für
Besuche. Wollen Sie also das Geld unter dieser Bedingung?"
fragte Josie und griff in die Westentasche, denn er war entschlossen,
das Trinkgeld der heutigen Nacht zu opfern. Robinson nickte bloß zu
der Frage und atmete schwer. Josie deutete das unrichtig und fragte
nochmals: "Ja oder nein?"
Da
winkte ihn Robinson zu sich heran und flüsterte unter
Schlingbewegungen, die schon ganz deutlich waren: "Rossmann, mir
ist sehr schlecht." "Zum Teufel", entfuhr es Josie und
mit beiden Händen schleppte er ihn zum Geländer.
Und
schon ergoss es sich aus Robinsons Mund in die Tiefe. Hilflos strich
er in den Pausen, die ihm seine Übelkeit ließ, blindlings an Josie
hin. "Sie sind wirklich ein guter Junge", sagte er dann
oder "es hört schon auf", was aber noch lange nicht
richtig war, oder "die Hunde, was haben sie mir dort für ein
Zeug eingegossen!" Josie hielt es vor Unruhe und Ekel bei ihm
nicht aus und begann auf und ab zu gehen. Hier im Winkel neben dem
Aufzug war ja Robinson ein wenig versteckt, aber wie, wenn ihn doch
jemand bemerkte, einer dieser nervösen, reichen Gäste, die nur
darauf warten, dem herbei laufenden Hotelbeamten eine Beschwerde
mitzuteilen, für welche dieser dann wütend am ganzen Hause Rache
nimmt oder wenn einer dieser immerfort wechselnden Hoteldetektive
vorüber käme, die niemand kennt, außer die Direktion, und die man
in jedem Menschen vermutet, der prüfende Blicke, vielleicht auch
bloß aus Kurzsichtigkeit, macht. Und unten brauchte nur jemand bei
dem die ganze Nacht nicht aussetzenden Restaurationsbetrieb in die
Vorratskammern zu gehn, staunend die Scheußlichkeit im Lichtschacht
zu bemerken und Josie telefonisch anzufragen, was denn um
Himmelswillen da oben los sei. Konnte Josie dann Robinson verleugnen?
Und wenn er es täte, würde sich nicht Robinson in seiner Dummheit
und Verzweiflung statt aller Entschuldigung gerade nur auf Josie
berufen? Und musste dann nicht Josie sofort entlassen werden, da dann
das Unerhörte geschehen war, dass ein Liftjunge, der niedrigste und
entbehrlichste Angestellte in der ungeheuren Stufenleiter der
Dienerschaft dieses Hotels, durch seinen Freund das Hotel hatte
beschmutzen und die Gäste erschrecken oder gar vertreiben lassen?
Konnte man einen Liftjungen weiter dulden, der solche Freunde hatte,
von denen er sich überdies während seiner Dienststunden besuchen
ließ? Sah es nicht ganz so aus, als ob ein solcher Liftjunge selbst
ein Säufer oder gar etwas Ärgeres sei, denn welche Vermutung war
einleuchtender, als dass er seine Freunde aus den Vorräten des
Hotels so lange überfütterte, bis sie an einer beliebigen Stelle
dieses gleichen, peinlich rein gehaltenen Hotels solche Dinge
ausführten, wie jetzt Robinson? Und warum sollte sich ein solcher
Junge auf die Diebstähle von Lebensmitteln beschränken, da doch die
Möglichkeiten zu stehlen, bei der bekannten Nachlässigkeit der
Gäste, den überall offen stehenden Schränken, den auf den Tischen
herum liegenden Kostbarkeiten, den aufgerissenen Kassetten, den
gedankenlos hingeworfenen Schlüsseln wirklich unzählige waren?
Gerade
sah Josie in der Ferne Gäste aus einem Kellerlokal heraufsteigen, in
dem eben eine Varietévorstellung beendet worden war. Josie stellte
sich zu seinem Aufzug und wagte sich gar nicht nach Robinson
umzudrehn, aus Furcht vor dem, was er zu sehn bekommen könnte. Es
beruhigte ihn wenig, dass er keinen Laut, nicht einmal einen Seufzer
von dort hörte. Er bediente zwar seine Gäste und fuhr mit ihnen auf
und ab, aber seine Zerstreutheit konnte er doch nicht ganz verbergen
und bei jeder Abwärtsfahrt war er darauf gefasst, unten eine
peinliche Überraschung vorzufinden.
Endlich
hatte er wieder Zeit nach Robinson zu sehn, der in seinem Winkel ganz
klein kauerte und das Gesicht gegen die Knie drückte. Seinen runden,
harten Hut hatte er weit aus der Stirne geschoben. "Also jetzt
gehn Sie schon", sagte Josie leise und bestimmt, "hier ist
das Geld. Wenn Sie sich beeilen, kann ich Ihnen noch den kürzesten
Weg zeigen." "Ich werde nicht weg gehn können", sagte
Robinson und wischte sich mit einem winzigen Taschentuch die Stirn,
"ich werde hier sterben. Sie können sich nicht vorstellen, wie
schlecht mir ist. Delamarche nimmt mich überall in die feinen Lokale
mit, aber ich vertrage dieses zimperliche Zeug nicht, ich sage es
Delamarche täglich." "Hier können Sie nun einmal nicht
bleiben", sagte Josie, "bedenken Sie doch, wo Sie sind.
Wenn man Sie hier findet, werden Sie bestraft und ich verliere meinen
Posten. Wollen Sie das?" "Ich kann nicht weggehen",
sagte Robinson, "lieber spring ich da hinunter", und er
zeigte zwischen den Geländerstangen in den Lichtschacht. "Wenn
ich hier so sitze, so kann ich es noch ertragen, aber aufstehn kann
ich nicht, ich habe es ja schon versucht, wie Sie weg waren."
"Dann hole ich also einen Wagen, und Sie fahren ins
Krankenhaus", sagte Josie und schüttelte ein wenig Robinsons
Beine, der jeden Augenblick in völlige Teilnahmslosigkeit zu
verfallen drohte. Aber kaum hatte Robinson das Wort Krankenhaus
gehört, das ihm schreckliche Vorstellungen zu erwecken schien, als
er laut zu weinen anfing und die Hände um Gnade bittend nach Josie
ausstreckte. "Still", sagte Josie, schlug ihm mit einem
Klaps die Hände nieder, lief zu dem Liftjungen, den er in der Nacht
vertreten hatte, bat ihn für ein kleines Weilchen um die gleiche
Gefälligkeit, eilte zu Robinson zurück, zog den noch immer
Schluchzenden mit aller Kraft in die Höhe und flüsterte ihm zu:
"Robinson, wenn Sie wollen, dass ich mich ihrer annehme, dann
strengen Sie sich aber an, jetzt eine ganz kleine Strecke Wegs
aufrecht zu gehen. Ich führe Sie nämlich in mein Bett, in dem Sie
solange bleiben können, bis Ihnen gut ist. Sie werden staunen, wie
bald Sie sich erholen werden. Aber jetzt benehmen Sie sich nur
vernünftig, denn auf den Gängen sind überall Leute und auch mein
Bett ist in einem allgemeinen Schlafsaal. Wenn man auf Sie auch nur
ein wenig aufmerksam wird, kann ich nichts mehr für Sie tun. Und die
Augen müssen Sie offen halten, ich kann Sie da nicht wie einen
Todkranken herumführen." "Ich will ja alles tun, was Sie
für Recht halten", sagte Robinson, "aber Sie allein werden
mich nicht führen können. Könnten Sie nicht noch Renell holen?"
"Renell ist nicht hier", sagte Josie. "Ach ja",
sagte Robinson, "Renell ist mit Delamarche beisammen. Die beiden
haben mich ja um Sie geschickt. Ich verwechsle schon alles."
Josie benützte diese und andere unverständliche Selbstgespräche
Robinsons, um ihn vorwärts zu schieben und kam mit ihm auch
glücklich bis zu einer Ecke, von der aus ein etwas schwächer
beleuchteter Gang zum Schlafsaal der Liftjungen führte. Gerade jagte
in vollem Lauf ein Liftjunge auf sie zu und an ihnen vorüber. Im
Übrigen hatten sie bis jetzt nur ungefährliche Begegnungen gehabt;
zwischen vier und fünf Uhr war nämlich die stillste Zeit und Josie
hatte wohl gewusst, dass wenn ihm das Wegschaffen Robinsons jetzt
nicht gelänge, in der Morgendämmerung und im beginnenden
Tagesverkehr überhaupt nicht mehr daran zu denken wäre.
Im
Schlafsaal war am andern Ende des Saales gerade eine große Rauferei
oder sonstige Veranstaltung im Gange, man hörte rhythmisches
Händeklatschen, aufgeregtes Füßetrappeln und sportliche Zurufe. In
der bei der Tür gelegenen Saalhälfte sah man in den Betten nur
wenige unbeirrte Schläfer, die meisten lagen auf dem Rücken und
starrten in die Luft, während hier und da einer bekleidet oder
unbekleidet wie er gerade war, aus dem Bett sprang, um nachzusehn,
wie die Dinge am andern Saalende standen. So brachte Josie Robinson,
der sich an das Gehen inzwischen ein wenig gewöhnt hatte, ziemlich
unbeachtet in Renells Bett, da es der Tür sehr nahe lag und
glücklicherweise nicht besetzt war, während in seinem eigenen Bett,
wie er aus der Ferne sah, ein fremder Junge, den er gar nicht kannte,
ruhig schlief. Kaum fühlte Robinson das Bett unter sich, als er
sofort — ein Bein baumelte noch aus dem Bett heraus — einschlief.
Josie zog ihm die Decke weit über das Gesicht und glaubte sich für
die nächste Zeit wenigstens keine Sorgen machen zu müssen, da
Robinson gewiss nicht vor sechs Uhr früh erwachen würde, und bis
dahin würde er wieder hier sein und dann schon vielleicht mit Renell
ein Mittel finden, um Robinson weg zu bringen. Eine Inspektion des
Schlafsaales durch irgendwelche höheren Organe gab es nur in
außerordentlichen Fällen, die Abschaffung der früher üblichen
allgemeinen Inspektion hatten die Liftjungen schon vor Jahren
durchgesetzt, es war also auch von dieser Seite nichts zu fürchten.
Als
Josie wieder bei seinem Aufzug angelangt war, sah er, dass sowohl
sein Aufzug, als auch jener seines Nachbarn gerade in die Höhe
fuhren. Unruhig wartete er darauf, wie sich das aufklären würde.
Sein Aufzug kam früher herunter und es entstieg ihm jener Junge, der
vor einem Weilchen durch den Gang gelaufen war. "Ja wo bist du
denn gewesen, Rossmann?" fragte dieser. "Warum bist du
weggegangen? Warum hast du es nicht gemeldet?" "Aber ich
habe ihm doch gesagt, dass er mich ein Weilchen vertreten soll",
antwortete Josie und zeigte auf den Jungen vom Nachbarlift, der
gerade herankam. "Ich habe ihn doch auch zwei Stunden während
des größten Verkehres vertreten." "Das ist alles sehr
gut", sagte der Angesprochene, "aber das genügt doch
nicht. Weißt du denn nicht, dass man auch die kürzeste Abwesenheit
während des Dienstes im Büro des Oberkellners melden muss. Dazu
hast du ja das Telefon da. Ich hätte dich schon gerne vertreten,
aber du weißt ja, dass das nicht so leicht ist. Gerade waren vor
beiden Lifts neue Gäste vom Vier-Uhr-dreißig-Expresszug. Ich konnte
doch nicht zuerst zu deinem Lift laufen und meine Gäste warten
lassen, so bin ich also zuerst mit meinem Lift hinauf gefahren."
"Nun?" fragte Josie gespannt, da beide Jungen schwiegen.
"Nun", sagte der Junge vom Nachbarlift, "da geht
gerade der Oberkellner vorüber, sieht die Leute vor deinem Lift ohne
Bedienung, bekommt Galle, fragt mich, der ich gleich her gerannt bin,
wo du steckst, ich habe keine Ahnung davon, denn du hast mir ja gar
nicht gesagt, wohin du gehst und so telefoniert er gleich in den
Schlafsaal, dass sofort ein anderer Junge herkommen soll." "Ich
habe dich ja noch im Gang getroffen", sagte Josies Ersatzmann.
Josie nickte. "Natürlich", beteuerte der andere Junge,
"habe ich gleich gesagt, dass du mich um deine Vertretung
gebeten hast, aber hört denn der auf solche Entschuldigungen. Du
kennst ihn wahrscheinlich noch nicht. Und wir sollen dir ausrichten,
dass du sofort ins Büro kommen sollst. Also halte dich lieber nicht
auf und lauf hin. Vielleicht verzeiht er es dir noch, du warst ja
wirklich nur zwei Minuten weg. Berufe dich nur ruhig auf mich, dass
du mich um Vertretung gebeten hast. Davon dass du mich vertreten
hast, rede lieber nicht, lass dir raten, mir kann ja nichts geschehn,
ich hatte Erlaubnis, aber es ist nicht gut, von einer solchen Sache
zu reden und sie noch in diese Angelegenheit zu mischen, mit der sie
nichts zu tun hat." "Es ist das erste Mal gewesen, dass ich
meinen Posten verlassen habe", sagte Josie. "Das ist immer
so, nur glaubt man es nicht", sagte der Junge und lief zu seinem
Lift, da sich Leute näherten. Josies Vertreter, ein etwa
vierzehnjähriger Junge, der offenbar mit Josie Mitleid hatte, sagte:
"Es sind schon viele Fälle vorgekommen, in denen man solche
Sachen verziehen hat. Gewöhnlich wird man zu andern Arbeiten
versetzt. Entlassen wurde, so viel ich weiß, wegen einer solchen
Sache nur einer. Du musst dir nur eine gute Entschuldigung ausdenken.
Auf keinen Fall sag, dass dir plötzlich schlecht geworden ist, da
lacht er dich aus. Da ist schon besser, du sagst, ein Gast hat dir
irgendeine eilige Bestellung an einen andern Gast aufgegeben und du
weißt nicht mehr, wer der erste Gast war, und den zweiten hast du
nicht finden können." "Na", sagte Josie, "es
wird nicht so schlimm werden", nach allem, was er gehört hatte,
glaubte er an keinen guten Ausgang mehr. Und wenn selbst dieses
Dienstversäumnis verziehen werden sollte, so lag doch drin im
Schlafsaal noch Robinson als seine lebendige Schuld und es war bei
dem galligen Charakter des Oberkellners nur zu wahrscheinlich, dass
man sich mit keiner oberflächlichen Untersuchung begnügen und
schließlich doch Robinson noch aufstöbern würde. Es bestand wohl
kein ausdrückliches Verbot, nach dem fremde Leute in den Schlafsaal
nicht mitgenommen werden durften, aber dies bestand nur deshalb
nicht, weil eben unausdenkbare Dinge nicht verboten werden.
Als
Josie in das Büro des Oberkellners eintrat, saß dieser gerade bei
seinem Morgenkaffee, machte einmal einen Schluck und sah dann wieder
in ein Verzeichnis, das ihm offenbar der gleichfalls anwesende
oberste Hotelportier zur Begutachtung überbracht hatte. Es war dies
ein großer Mann, den seine üppige, reich geschmückte Uniform —
noch auf den Achseln und die Arme hinunter schlängelten sich goldene
Ketten und Bänder — noch breitschultriger machte, als er von Natur
aus war. Ein glänzender, schwarzer Schnurrbart, weit in Spitzen
ausgezogen, so wie ihn Ungarn tragen, rührte sich auch bei der
schnellsten Kopfwendung nicht. Im Übrigen konnte sich der Mann
infolge seiner Kleiderlast überhaupt nur schwer bewegen und stellte
sich nicht anders, als mit seitwärts eingestemmten Beinen auf, um
sein Gewicht richtig zu verteilen.
Josie
war frei und eilig eingetreten, wie er es sich hier im Hotel
angewöhnt hatte, denn die Langsamkeit und Vorsicht, die bei
Privatpersonen Höflichkeit bedeutet, hält man bei Liftjungen für
Faulheit. Außerdem musste man ihm auch nicht gleich beim Eintreten
sein Schuldbewusstsein ansehn. Der Oberkellner hatte zwar flüchtig
auf die sich öffnende Türe hin geblickt, war dann aber sofort zu
seinem Kaffee und zu seiner Lektüre zurückgekehrt, ohne sich weiter
um Josie zu kümmern. Der Portier aber fühlte sich vielleicht durch
Josies Anwesenheit gestört, vielleicht hatte er irgendeine geheime
Nachricht oder Bitte vorzutragen, jedenfalls sah er alle Augenblicke
bös und mit steif geneigtem Kopf nach Josie hin, um sich dann, wenn
er offenbar seiner Absicht entsprechend mit Josies Blicken
zusammengetroffen war, wieder dem Oberkellner zuzuwenden. Josie aber
glaubte, es würde sich nicht gut ausnehmen, wenn er jetzt, da er nun
schon einmal hier war, das Büro wieder verlassen würde, ohne vom
Oberkellner den Befehl hierzu erhalten zu haben. Dieser aber
studierte weiter das Verzeichnis und aß zwischendurch von einem
Stück Kuchen, von dem er hier und da, ohne im Lesen inne zu halten,
den Zucker abschüttelte. Einmal fiel ein Blatt des Verzeichnisses zu
Boden, der Portier machte nicht einmal einen Versuch es aufzuheben,
er wusste, dass er es nicht zu Stande brächte, es war auch nicht
nötig, denn Josie war schon zur Stelle und reichte das Blatt dem
Oberkellner, der es ihm mit einer Handbewegung abnahm, als sei es von
selbst vom Boden aufgeflogen. Die ganze kleine Dienstleistung hatte
nichts genützt, denn der Portier hörte auch weiterhin mit seinen
bösen Blicken nicht auf. Trotzdem war Josie gefasster als früher.
Schon dass seine Sache für den Oberkellner so wenig Wichtigkeit zu
haben schien, konnte man für ein gutes Zeichen halten. Es war
schließlich auch nur begreiflich. Natürlich bedeutet ein Liftjunge
gar nichts und darf sich deshalb nichts erlauben, aber eben deshalb,
weil er nichts bedeutet, kann er auch nichts Außerordentliches
anstellen. Schließlich war der Oberkellner in seiner Jugend selbst
Liftjunge gewesen — was noch der Stolz dieser Generation von
Liftjungen war — er war es gewesen, der die Liftjungen zum ersten
mal organisiert hatte und gewiss hat er auch einmal ohne Erlaubnis
seinen Posten verlassen, wenn ihn auch jetzt allerdings niemand
zwingen konnte, sich daran zu erinnern und wenn man auch nicht außer
Acht lassen durfte, dass er gerade als gewesener Liftjunge darin
seine Pflicht sah, diesen Stand durch zeitweilig unnachsichtliche
Strenge in Ordnung zu halten. Nun setzte aber Josie außerdem seine
Hoffnung auf das Vorrücken der Zeit. Nach der Bürouhr war schon
Viertel sechs vorüber, jeden Augenblick konnte Renell zurückkehren,
vielleicht war er sogar schon da, denn es musste ihm doch aufgefallen
sein, dass Robinson nicht zurückgekommen war, übrigens konnten sich
Delamarche und Renell gar nicht weit vom Hotel Occidental aufgehalten
haben, wie Josie jetzt einfiel, denn sonst hätte doch Robinson in
seinem elenden Zustand den Weg hierher nicht gefunden. Wenn nun
Renell Robinson in seinem Bett antraf, was doch geschehen musste,
dann war alles gut. Denn praktisch, wie Renell war, besonders wenn es
sich um seine Interessen handelte, würde er schon Robinson irgendwie
gleich aus dem Hotel entfernen, was ja umso leichter geschehen
konnte, da Robinson sich inzwischen ein wenig gestärkt hatte und
überdies wahrscheinlich Delamarche vor dem Hotel wartete, um ihn in
Empfang zu nehmen. Wenn aber Robinson einmal entfernt war, dann
konnte Josie dem Oberkellner viel ruhiger entgegentreten und für
diesmal vielleicht noch mit einer, wenn auch schweren Rüge
davonkommen. Dann würde er sich mit Therese beraten, ob er der
Oberköchin die Wahrheit sagen dürfe — er sah für seinen Teil
kein Hindernis — und wenn das möglich war, würde die Sache ohne
besonderen Schaden aus der Welt geschafft sein.
Gerade
hatte sich Josie durch solche Überlegungen ein wenig beruhigt und
machte sich daran, das in dieser Nacht eingenommene Trinkgeld
unauffällig zu überzählen, denn es schien ihm dem Gefühl nach
besonders reichlich gewesen zu sein, als der Oberkellner das
Verzeichnis mit den Worten: "Warten Sie noch bitte einen
Augenblick, Feodor" auf den Tisch legte, elastisch aufsprang und
Josie so laut anschrie, dass dieser erschrocken vorerst nur in das
große schwarze Mundloch starrte.
"Du
hast deinen Posten ohne Erlaubnis verlassen. Weißt du, was das
bedeutet? Das bedeutet Entlassung. Ich will keine Entschuldigungen
hören, deine erlogenen Ausreden kannst du für dich behalten, mir
genügt vollständig die Tatsache, dass du nicht da warst. Wenn ich
das einmal dulde und verzeihe, werden nächstens alle vierzig
Liftjungen während des Dienstes davonlaufen und ich kann meine
fünftausend Gäste allein die Treppen hinauf tragen."
Josie
schwieg. Der Portier war nähergekommen und zog das Röckchen Josies,
das einige Falten warf, ein wenig tiefer, zweifellos um den
Oberkellner auf diese kleine Unordentlichkeit im Anzug Josies
besonders aufmerksam zu machen.
"Ist
dir vielleicht plötzlich schlecht geworden?" fragte der
Oberkellner listig. Josie sah ihn prüfend an und antwortete: "Nein."
"Also nicht einmal schlecht ist dir geworden?" schrie der
Oberkellner desto stärker. "Also dann musst du ja irgendeine
großartige Lüge erfunden haben. Heraus damit. Was für eine
Entschuldigung hast du?" "Ich habe nicht gewusst, dass man
telefonisch um Erlaubnis bitten muss", sagte Josie. "Das
ist allerdings köstlich", sagte der Oberkellner, fasste Josie
beim Rockkragen und brachte ihn fast in Schwebe vor eine
Dienstordnung der Lifts, die auf der Wand aufgenagelt war. Auch der
Portier ging hinter ihnen zur Wand hin. "Da! Lies!" sagte
der Oberkellner und zeigte auf einen Paragrafen. Josie glaubte, er
solle es für sich lesen. "Laut!" kommandierte aber der
Oberkellner. Statt laut zu lesen, sagte Josie in der Hoffnung damit
den Oberkellner besser zu beruhigen: "Ich kenne den Paragrafen,
ich habe ja die Dienstordnung auch bekommen und genau gelesen. Aber
gerade eine solche Bestimmung, die man niemals braucht, vergisst man.
Ich diene schon zwei Monate und habe niemals meinen Posten
verlassen." "Dafür wirst du ihn jetzt verlassen",
sagte der Oberkellner, ging zum Tisch hin, nahm das Verzeichnis
wieder zur Hand, als wolle er darin weiter lesen, schlug damit aber
auf den Tisch, als sei es ein nutzloser Fetzen, und ging, starke Röte
auf Stirn und Wangen, kreuz und quer im Zimmer herum. "Wegen
eines solchen Bengels hat man das nötig. Solche Aufregungen beim
Nachtdienst!" stieß er einige Mal hervor. "Wissen Sie, wer
gerade hinauffahren wollte, als dieser Kerl hier vom Lift weggelaufen
ist?" wandte er sich zum Portier. Und er nannte einen Namen, bei
dem es dem Portier, der gewiss alle Gäste kannte und bewerten
konnte, so schauderte, dass er schnell auf Josie hinsah, als sei nur
dessen Existenz eine Bestätigung dessen, dass der Träger jenes
Namens eine Zeit lang bei einem Lift, dessen Junge weggelaufen war,
nutzlos hatte warten müssen. "Das ist schrecklich!" sagte
der Portier und schüttelte langsam, in grenzenloser Beunruhigung,
den Kopf gegen Josie hin, welcher ihn traurig ansah und dachte, dass
er nun auch für die Begriffsstutzigkeit dieses Mannes werde büßen
müssen. "Ich kenne dich übrigens auch schon", sagte der
Portier und streckte seinen dicken, großen, steif gespannten
Zeigefinger aus. "Du bist der einzige Junge, welcher mich
grundsätzlich nicht grüßt. Was bildest du dir eigentlich ein!
Jeder, der an der Portiersloge vorübergeht, muss mich grüßen. Mit
den übrigen Portiers kannst du es halten, wie du willst, ich aber
verlange gegrüßt zu werden. Ich tue zwar manchmal so, als ob ich
nicht aufpasste, aber du kannst ganz ruhig sein, ich weiß sehr
genau, wer mich grüßt oder nicht, du Lümmel." Und er wandte
sich von Josie ab und schritt hoch aufgerichtet auf den Oberkellner
zu, der aber, statt sich zu des Portiers Sache zu äußern, sein
Frühstück beendete und eine Morgenzeitung überflog, die ein Diener
eben ins Zimmer herein gereicht hatte.
"Herr
Oberportier", sagte Josie, der während der Unachtsamkeit des
Oberkellners wenigstens die Sache mit dem Portier ins Reine bringen
wollte, denn er begriff, dass ihm vielleicht der Vorwurf des Portiers
nicht schaden konnte, wohl aber dessen Feindschaft, "ich grüße
Sie ganz gewiss. Ich bin doch noch nicht lange in Amerika und stamme
aus Europa, wo man bekanntlich viel mehr grüßt, als nötig ist. Das
habe ich mir natürlich noch nicht ganz abgewöhnen können und noch
vor zwei Monaten hat man mir in New York, wo ich zufällig in höheren
Kreisen verkehrte, bei jeder Gelegenheit zugeredet, mit meiner
übertriebenen Höflichkeit aufzuhören. Und da sollte ich gerade Sie
nicht gegrüßt haben. Ich habe Sie jeden Tag einige Mal gegrüßt.
Aber natürlich nicht jedes Mal, wenn ich Sie gesehen habe, da ich
doch täglich hundertmal an Ihnen vorüber komme." "Du hast
mich jedes Mal zu grüßen, jedes Mal, ohne Ausnahme, du hast die
ganze Zeit, während du mit mir sprichst, die Kappe in der Hand zu
halten, du hast mich immer mit Oberportier anzureden und nicht mit
Sie. Und alles das jedes Mal und jedes Mal." "Jedes Mal?"
wiederholte Josie leise und fragend, er erinnerte sich jetzt, wie er
vom Portier während der ganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes
immer streng und vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon von jenem
ersten Morgen, an dem er, seiner dienenden Stellung noch nicht recht
angepasst, etwas zu kühn, diesen Portier ohne weiters umständlich
und dringlich ausgefragt hatte, ob nicht zwei Männer vielleicht nach
ihm gefragt und etwa eine Fotografie für ihn zurückgelassen hätten.
"Jetzt siehst du, wohin ein solches Benehmen führt", sagte
der Portier, der wieder ganz nahe zu Josie zurückgekehrt war, und
zeigte auf den noch lesenden Oberkellner, als sei dieser der
Vertreter seiner Rache. "In deiner nächsten Stellung wirst du
es schon verstehn, den Portier zu grüßen und wenn es auch nur
vielleicht in einer elenden Spelunke sein wird."
Josie
sah ein, dass er eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn
der Oberkellner hatte es bereits ausgesprochen, der Oberportier als
fertige Tatsache wiederholt und wegen eines Liftjungen dürfte wohl
die Bestätigung der Entlassung seitens der Hoteldirektion nicht
nötig sein. Es war allerdings schneller gegangen, als er gedacht
hatte, denn schließlich hatte er doch zwei Monate gedient, so gut er
konnte, und gewiss besser, als mancher andere Junge. Aber auf solche
Dinge wird eben im entscheidenden Augenblick offenbar in keinem
Weltteil, weder in Europa noch in Amerika, Rücksicht genommen,
sondern es wird so entschieden, wie einem in der ersten Wut das
Urteil aus dem Munde fährt. Vielleicht wäre es jetzt am besten
gewesen, wenn er sich gleich verabschiedet hätte und weggegangen
wäre, die Oberköchin und Therese schliefen vielleicht noch, er
hätte sich, um ihnen die Enttäuschung und Trauer über sein
Benehmen wenigstens beim persönlichen Abschied zu ersparen,
brieflich verabschieden können, hätte rasch seinen Koffer packen
und in der Stille fort gehn können. Blieb er aber auch nur einen Tag
noch — und er hätte allerdings ein wenig Schlaf gebraucht — so
erwartete ihn nichts anderes, als Aufbauschung seiner Sache zum
Skandal, Vorwürfe von allen Seiten, der unerträgliche Anblick der
Tränen Thereses und vielleicht gar der Oberköchin und
möglicherweise zu guter Letzt auch noch eine Bestrafung.
Andererseits aber beirrte es ihn, dass er hier zwei Feinden
gegenüberstand und dass an jedem Wort, das er aussprechen würde,
wenn nicht der eine, so der andere etwas aussetzen und zum Schlechten
deuten würde. Deshalb schwieg er und genoss vorläufig die Ruhe, die
im Zimmer herrschte, denn der Oberkellner las noch immer die Zeitung
und der Oberportier ordnete sein über den Tisch hin verstreutes
Verzeichnis nach den Seitenzahlen, was ihm bei seiner offenbaren
Kurzsichtigkeit große Schwierigkeiten machte.
Endlich
legte der Oberkellner die Zeitung gähnend hin, vergewisserte sich
durch einen Blick auf Josie, dass dieser noch anwesend sei und drehte
die Glocke des Tischtelefons an. Er rief mehrere Male Hallo, aber
niemand meldete sich. "Es meldet sich niemand", sagte er
zum Oberportier. Dieser, der das Telefonieren, wie es Josie schien,
mit besonderem Interesse beobachtete, sagte: "Es ist ja schon
dreiviertel sechs. Sie ist gewiss schon wach. Läuten Sie nur
stärker." In diesem Augenblick kam, ohne weitere Aufforderung,
das telefonische Gegenzeichen. "Hier Oberkellner Isbary",
sagte der Oberkellner. "Guten Morgen, Frau Oberköchin. Ich habe
Sie doch nicht am Ende geweckt. Das tut mir sehr leid. Ja, ja,
dreiviertel sechs ist schon. Aber das tut mir aufrichtig leid, dass
ich Sie erschreckt habe. Sie sollten während des Schlafens das
Telefon abstellen. Nein, nein, tatsächlich, es gibt für mich keine
Entschuldigung, besonders bei der Geringfügigkeit der Sache, wegen
deren ich Sie sprechen will. Aber natürlich habe ich Zeit, bitte
sehr, ich bleibe beim Telefon, wenn es Ihnen recht ist." "Sie
muss im Nachthemd zum Telefon gelaufen sein", sagte der
Oberkellner lächelnd zum Oberportier, der die ganze Zeit über mit
gespanntem Gesichtsausdruck zum Telefonkasten sich gebückt gehalten
hatte. "Ich habe sie wirklich geweckt, sie wird nämlich sonst
von dem kleinen Mädel, das bei ihr auf der Schreibmaschine schreibt,
geweckt und die muss es heute ausnahmsweise versäumt haben. Es tut
mir leid, dass ich sie aufgeschreckt habe, sie ist sowieso nervös."
"Warum spricht sie nicht weiter?" "Sie ist nachschauen
gegangen, was mit dem Mädel los ist", antwortete der
Oberkellner schon mit der Muschel am Ohr, denn es läutete wieder.
"Sie wird sich schon finden", redete er weiter ins Telefon
hinein. "Sie dürfen sich nicht von allem so erschrecken lassen,
Sie brauchen wirklich eine gründliche Erholung. Ja also, meine
kleine Anfrage. Es ist da ein Liftjunge, namens" —er drehte
sich fragend nach Josie um, der, da er genau aufpasste, gleich mit
seinem Namen aushelfen konnte — "also namens Josie Rossmann,
wenn ich mich recht erinnere, so haben Sie sich für ihn ein wenig
interessiert; leider hat er ihre Freundlichkeit schlecht belohnt, er
hat ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, hat mir dadurch schwere,
jetzt noch gar nicht übersehbare, Unannehmlichkeiten verursacht und
ich habe ihn daher soeben entlassen. Ich hoffe, Sie nehmen die Sache
nicht tragisch. Wie meinen Sie? Entlassen, ja, entlassen. Aber ich
sagte Ihnen doch, dass er seinen Posten verlassen hat. Nein, da kann
ich Ihnen wirklich nicht nachgeben, liebe Frau Oberköchin. Es
handelt sich um meine Autorität, da steht viel auf dem Spiel, so ein
Junge verdirbt mir die ganze Bande. Gerade bei den Liftjungen muss
man teuflisch aufpassen. Nein, nein, in diesem Falle kann ich Ihnen
den Gefallen nicht tun, so sehr ich es mir immer angelegen sein
lasse, Ihnen gefällig zu sein. Und wenn ich ihn schon trotz allem
hier ließe, zu keinem andern Zweck, als um meine Galle in Tätigkeit
zu erhalten, ihretwegen, ja, ihretwegen Frau Oberköchin, kann er
nicht hier bleiben. Sie nehmen einen Anteil an ihm, den er durchaus
nicht verdient und da ich nicht nur ihn kenne, sondern auch Sie, weiß
ich, dass das zu den schwersten Enttäuschungen für Sie führen
müsste, die ich Ihnen um jeden Preis ersparen will. Ich sage das
ganz offen, trotzdem der verstockte Junge paar Schritte vor mir
steht. Er wird entlassen, nein, nein, Frau Oberköchin, er wird
vollständig entlassen, nein, nein, er wird zu keiner andern Arbeit
versetzt, er ist vollständig unbrauchbar. Übrigens laufen ja auch
sonst Beschwerden gegen ihn ein. Der Oberportier z.B., ja also, was
denn, Feodor, ja, beklagt sich über die Unhöflichkeit und Frechheit
dieses Jungen. Wie, das soll nicht genügen? Ja, liebe Frau
Oberköchin, Sie verleugnen wegen dieses Jungen ihren Charakter.
Nein, so dürfen Sie mir nicht zusetzen."
In
diesem Augenblick beugte sich der Portier zum Ohr des Oberkellners
und flüsterte etwas. Der Oberkellner sah ihn zuerst erstaunt an und
redete dann so rasch in das Telefon, dass Josie ihn anfangs nicht
ganz genau verstand und auf den Fußspitzen zwei Schritte näher
trat.
"Liebe
Frau Oberköchin", hieß es, "aufrichtig gesagt, ich hätte
nicht geglaubt, dass Sie eine so schlechte Menschenkennerin sind.
Eben erfahre ich etwas über ihren Engelsjungen, was ihre Meinung
über ihn gründlich ändern wird, und es tut mir fast leid, dass
gerade ich es Ihnen sagen muss. Dieser feine Junge also, den Sie ein
Muster von Anstand nennen, lässt keine dienstfreie Nacht vergehn,
ohne in die Stadt zu laufen, aus der er erst am Morgen wiederkommt.
Ja, ja, Frau Oberköchin, das ist durch Zeugen bewiesen, durch
einwandfreie Zeugen, ja. Können Sie mir nun vielleicht sagen, wo er
das Geld zu diesen Lustbarkeiten her nimmt? Wie er die Aufmerksamkeit
für seinen Dienst behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auch
noch, dass ich Ihnen beschreiben soll, was er in der Stadt treibt?
Diesen Jungen loszuwerden, will ich mich aber ganz besonders beeilen.
Und Sie, bitte, nehmen das als Mahnung, wie vorsichtig man gegen
hergelaufene Burschen sein soll."
"Aber
Herr Oberkellner", rief nun Josie, förmlich erleichtert durch
den großen Irrtum, der hier unterlaufen schien, und der vielleicht
am ehesten dazu führen konnte, dass sich alles noch unerwartet
besserte, "da liegt bestimmt eine Verwechslung vor. Ich glaube,
der Herr Oberportier hat Ihnen gesagt, dass ich jede Nacht weggehe.
Das ist aber durchaus nicht richtig, ich bin vielmehr jede Nacht im
Schlafsaal, das können alle Jungen bestätigen. Wenn ich nicht
schlafe, lerne ich kaufmännische Korrespondenz, aber aus dem
Schlafsaal rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zu
beweisen. Der Herr Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemand
anderem, und jetzt verstehe ich auch, warum er glaubt, dass ich ihn
nicht grüße."
"Wirst
du sofort schweigen", schrie der Oberportier und schüttelte die
Faust, wo andere einen Finger bewegt hätten, "ich soll dich mit
jemand andern verwechseln. Ja, dann kann ich nicht mehr Oberportier
sein, wenn ich die Leute verwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary,
dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, nun ja, wenn ich die Leute
verwechsle. In meinen dreißig Dienstjahren ist mir allerdings noch
keine Verwechslung passiert, wie mir Hunderte von Herren
Oberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten, bestätigen müssen,
aber bei dir, miserabler Junge, soll ich mit den Verwechslungen
angefangen haben. Bei dir, mit deiner auffallenden, glatten Fratze.
Was gibt es da zu verwechseln, du könntest jede Nacht hinter meinem
Rücken in die Stadt gelaufen sein, und ich bestätige bloß nach
deinem Gesicht, dass du ein ausgegorener Lump bist." "Lass,
Feodor!" sagte der Oberkellner, dessen telefonisches Gespräch
mit der Oberköchin plötzlich abgebrochen worden zu sein schien.
"Die Sache ist ja ganz einfach. Auf seine Unterhaltungen in der
Nacht kommt es ja in erster Reihe gar nicht an. Er möchte ja
vielleicht vor seinem Abschied noch irgendeine große Untersuchung
über seine Nachtbeschäftigung verursachen wollen. Ich kann mir
schon vorstellen, dass ihm das gefallen würde. Es würden womöglich
alle vierzig Liftjungen herauf zitiert und als Zeugen einvernommen,
die würden ihn natürlich auch alle verwechselt haben, es müsste
also allmählich das ganze Personal zur Zeugenschaft heran, der
Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt und wenn
er dann schließlich doch herausgeworfen würde, so hätte er doch
wenigstens seinen Spaß gehabt. Also das machen wir lieber nicht. Die
Oberköchin, diese gute Frau, hat er schon zum Narren gehalten und
damit soll es genug sein. Ich will nichts weiter hören, du bist
wegen Dienstversäumnisses auf der Stelle aus dem Dienst entlassen.
Da gebe ich dir eine Anweisung an die Kasse, dass dir dein Lohn bis
zum heutigen Tag ausgezahlt werde. Das ist übrigens bei deinem
Verhalten, unter uns gesagt, einfach ein Geschenk, das ich dir nur
aus Rücksicht auf die Frau Oberköchin mache."
Ein
telefonischer Anruf hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zu
unterschreiben. "Die Liftjungen geben mir aber heute zu
schaffen!" rief er schon nach Anhören der ersten Worte. "Das
ist ja unerhört!" rief er nach einem Weilchen. Und vom Telefon
weg wandte er sich zum Hotelportier und sagte: "Bitte, Feodor,
halt mal diesen Burschen ein wenig, wir werden noch mit ihm zu reden
haben." Und ins Telefon gab er den Befehl: "Komm sofort
herauf!" Nun konnte sich der Oberportier wenigstens austoben,
was ihm beim Reden nicht hatte gelingen wollen. Er hielt Josie oben
am Arm fest, aber nicht etwa mit ruhigem Griff, der schließlich
auszuhalten gewesen wäre, sondern er lockerte hier und da den Griff
und machte ihn dann mit Steigerung fester und fester, was bei seinen
großen Körperkräften gar nicht aufzuhören schien und ein Dunkel
vor Josies Augen verursachte. Aber er hielt Josie nicht nur, sondern,
als hätte er auch den Befehl bekommen, ihn gleichzeitig zu strecken,
zog er ihn auch hier und da in die Höhe und schüttelte ihn, wobei
er immer wieder halb fragend zum Oberkellner sagte: "Ob ich ihn
jetzt nur nicht verwechsle, ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle."
Es
war eine Erlösung für Josie, als der oberste der Liftjungen, ein
gewisser Bess, ein ewig fauchender, dicker Junge eintrat und die
Aufmerksamkeit des Oberportiers ein wenig auf sich lenkte. Josie war
so ermattet, dass er kaum grüßte, als er zu seinem Staunen hinter
dem Jungen Therese leichenblass, unordentlich angezogen, mit lose
aufgesteckten Haaren herein schlüpfen sah. Im Augenblick war sie bei
ihm und flüsterte: "Weiß es schon die Oberköchin?" "Der
Oberkellner hat es ihr telefoniert", antwortete Josie. "Dann
ist schon gut, dann ist schon gut", sagte sie rasch mit
lebhaften Augen. "Nein", sagte Josie, "du weißt ja
nicht, was sie gegen mich haben. Ich muss weg, die Oberköchin ist
davon auch schon überzeugt. Bitte, bleib nicht hier, geh hinauf, ich
werde mich dann von dir verabschieden kommen." "Aber
Rossmann, was fällt dir denn ein. Du wirst schön bei uns bleiben,
so lange es dir gefällt. Der Oberkellner macht ja alles, was die
Oberköchin will, er liebt sie ja, ich habe es letzthin zufällig
erfahren. Da sei nur ruhig." "Bitte, Therese, geh jetzt
weg. Ich kann mich nicht so gut verteidigen, wenn du hier bist. Und
ich muss mich genau verteidigen, weil Lügen gegen mich vorgebracht
werden. Je besser ich aber aufpassen und mich verteidigen kann, desto
mehr Hoffnung ist, dass ich bleibe. Also, Therese—". Leider
konnte er in einem plötzlichen Schmerz nicht unterlassen leise
hinzuzufügen: "Wenn mich nur dieser Oberportier loslassen
würde! Ich wusste gar nicht, dass er mein Feind ist. Aber wie er
mich immerfort drückt und zieht." "Warum sage ich das
nur!" dachte er gleichzeitig, "kein Frauenzimmer kann das
ruhig anhören", und tatsächlich wendete sich Therese, ohne
dass er sie noch mit der freien Hand hätte davon abhalten können,
an den Oberportier: "Herr Oberportier, bitte lassen Sie doch
sofort den Rossmann frei. Sie machen ihm ja Schmerzen. Die Frau
Oberköchin wird gleich persönlich kommen und dann wird man schon
sehen, dass ihm in allem Unrecht geschieht. Lassen Sie ihn los, was
kann es Ihnen denn für ein Vergnügen machen, ihn zu quälen."
Und sie griff sogar nach des Oberportiers Hand. "Befehl, kleines
Fräulein, Befehl", sagte der Oberportier und zog mit der freien
Hand Therese freundlich an sich, während er mit der andern Josie nun
sogar angestrengter drückte, als wolle er ihm nicht nur Schmerzen
machen, sondern als habe er mit diesem, in seinem Besitz befindlichen
Arm ein besonderes Ziel, das noch lange nicht erreicht sei.
Therese
brauchte einige Zeit, um sich der Umarmung des Oberportiers zu
entwinden und wollte sich gerade beim Oberkellner, der noch immer von
dem sehr umständlichen Bess sich erzählen ließ, für Josie
einsetzen, als die Oberköchin mit raschem Schritte eintrat. "Gott
sei Dank", rief Therese und man hörte einen Augenblick im
Zimmer nichts als diese lauten Worte. Gleich sprang der Oberkellner
auf und schob Bess zur Seite: "Sie kommen also selbst, Frau
Oberköchin. Wegen dieser Kleinigkeit? Nach unserem Telefongespräch
konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe ich es eigentlich doch
nicht. Und dabei wird die Sache ihres Schützlings immerfort ärger.
Ich fürchte, ich werde ihn tatsächlich nicht entlassen, aber dafür
einsperren lassen müssen. Hören Sie selbst!" Und er winkte
Bess herbei. "Ich möchte zuerst paar Worte mit dem Rossmann
reden", sagte die Oberköchin und setzte sich auf einen Sessel,
da sie der Oberkellner hierzu nötigte. "Josie, bitte komm
näher", sagte sie dann. Josie folgte oder wurde vielmehr vom
Oberportier näher geschleppt. "Lassen Sie ihn doch los",
sagte die Oberköchin ärgerlich, "er ist doch kein Raubmörder."
Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte Josie aber
vorher noch einmal so stark, dass ihm selbst vor Anstrengung die
Tränen in die Augen traten.
"Josie",
sagte die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß und sah
Josie mit geneigtem Kopfe an — es war gar nicht wie ein Verhör —,
"vor allem will ich dir sagen, dass ich noch vollständiges
Vertrauen zu dir habe. Auch der Herr Oberkellner ist ein gerechter
Mann, dafür bürge ich. Wir beide wollen dich im Grunde gerne hier
behalten." — Sie sah hierbei flüchtig zum Oberkellner
hinüber, als wolle sie bitten, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es
geschah auch nicht: "Vergiss also, was man dir bis jetzt
vielleicht hier gesagt hat. Vor allem, was dir vielleicht der Herr
Oberportier gesagt hat, musst du nicht besonders schwer nehmen. Er
ist zwar ein aufgeregter Mann, was bei seinem Dienst kein Wunder ist,
aber er hat auch Frau und Kinder und weiß, dass man einen Jungen,
der nur auf sich angewiesen ist, nicht unnötig plagen muss, sondern
dass das schon die übrige Welt genügend besorgt."
Es
war ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah Erklärungen fordernd
auf den Oberkellner, dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte
den Kopf. Der Liftjunge Bess grinste recht sinnlos hinter dem Rücken
des Oberkellners. Therese schluchzte vor Freude und Leid in sich
hinein und hatte alle Mühe, es niemanden hören zu lassen.
Josie
aber blickte, trotzdem das nur als schlechtes Zeichen aufgefasst
werden konnte, nicht auf die Oberköchin, die gewiss nach seinem
Blick verlangte, sondern vor sich auf den Fußboden. In seinem Arm
zuckte der Schmerz nach allen Richtungen, das Hemd klebte an dem
Striemen fest und er hätte eigentlich den Rock ausziehen und die
Sache besehen sollen. Was die Oberköchin sagte, war natürlich sehr
freundlich gemeint, aber unglücklicher Weise schien es ihm, als
müsse es gerade durch das Verhalten der Oberköchin zu Tage treten,
dass er keine Freundlichkeit verdiene, dass er die Wohltaten der
Oberköchin zwei Monate unverdient genossen habe, ja, dass er nichts
anderes verdiene, als unter die Hände des Oberportiers zu kommen.
"Ich sage das", fuhr die Oberköchin fort, "damit du
jetzt unbeirrt antwortest, was du übrigens wahrscheinlich auch sonst
getan hättest, wie ich dich zu kennen glaube."
"Darf
ich bitte inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich
inzwischen verbluten", mischte sich plötzlich der Liftjunge
Bess sehr höflich, aber sehr störend ein.
"Geh",
sagte der Oberkellner zu Bess, der gleich davon lief. Und dann zur
Oberköchin: "Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen
da nicht zum Spaß festgehalten. Unten im Schlafsaal der Liftjungen
ist nämlich in einem Bett sorgfältig zugedeckt ein wildfremder,
schwer betrunkener Mann aufgefunden worden. Man hat ihn natürlich
geweckt und wollte ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einen
großen Radau zu machen angefangen, immer wieder herum geschrien, der
Schlafsaal gehöre dem Josie Rossmann, dessen Gast er sei, der ihn
hergebracht habe und der jeden bestrafen werde, der ihn anzurühren
wagen würde. Im Übrigen müsse er auch deshalb auf den Josie
Rossmann warten, weil ihm dieser Geld versprochen habe und es nur
holen gegangen sei. Achten Sie bitte darauf, Frau Oberköchin: Geld
versprochen habe und es holen gegangen sei. Du kannst auch Acht
geben, Rossmann", sagte der Oberkellner nebenbei zu Josie, der
sich gerade nach Therese umgedreht hatte, die wie gebannt den
Oberkellner anstarrte, und die immer wieder entweder irgendwelche
Haare aus der Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrer selbst
Willen machte. "Aber vielleicht erinnere ich dich an
irgendwelche Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin
gesagt, dass ihr beide nach deiner Rückkunft einen Nachtbesuch bei
irgendeiner Sängerin machen werdet, deren Namen allerdings niemand
verstanden hat, da ihn der Mann immer nur unter Gesang aussprechen
konnte."
Hier
unterbrach sich der Oberkellner, denn die sichtlich bleich gewordene
Oberköchin erhob sich vom Sessel, den sie ein wenig zurück stieß.
"Ich verschone Sie mit dem weitern", sagte der Oberkellner.
"Nein, bitte nein", sagte die Oberköchin und ergriff seine
Hand, "erzählen Sie nur weiter, ich will alles hören, darum
bin ich ja hier." Der Oberportier, der vortrat und sich zum
Zeichen dessen, dass er von Anfang an alles durchschaut hatte, laut
auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner mit den Worten: "Ja,
Sie hatten ganz recht, Feodor!" gleichzeitig beruhigt und
zurückgewiesen.
"Es
ist nicht mehr viel zu erzählen", sagte der Oberkellner. "Wie
die Jungen eben schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht,
haben dann mit ihm Streit bekommen und er ist, da dort immer gute
Boxer zur Verfügung stehen, einfach nieder geboxt worden und ich
habe gar nicht zu fragen gewagt, an welchen und an wie viel Stellen
er blutet, denn diese Jungen sind fürchterliche Boxer, und ein
Betrunkener macht es ihnen natürlich leicht."
"So",
sagte die Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf den
Platz, den sie eben verlassen hatte. "Also, sprich doch bitte
ein Wort, Rossmann!" sagte sie dann. Therese war von ihrem
bisherigen Platz zur Oberköchin hinüber gelaufen und hatte sich,
was sie Josie sonst niemals hatte tun sehen, in die Oberköchin
eingehängt. Der Oberkellner stand knapp hinter der Oberköchin und
glättete langsam einen kleinen, bescheidenen Spitzenkragen der
Oberköchin, der sich ein wenig umgeschlagen hatte. Der Oberportier
neben Josie sagte: "Also, wirds?" wollte damit aber nur
einen Stoß maskieren, den er unterdessen Josie in den Rücken gab.
"Es
ist wahr", sagte Josie, infolge des Stoßes unsicherer als er
wollte, "dass ich den Mann in den Schlafsaal gebracht habe."
"Mehr
wollen wir nicht wissen", sagte der Portier im Namen aller. Die
Oberköchin wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.
"Ich
konnte mir nicht anders helfen", sagte Josie weiter. "Der
Mann ist mein Kamerad von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei
Monate lang nicht gesehen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu
machen, war aber so betrunken, dass er nicht wieder allein fort gehn
konnte."
Der
Oberkellner sagte neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: "Er
kam also zu Besuch und war nachher so betrunken, dass er nicht
fortgehen konnte." Die Oberköchin flüsterte über die Schulter
dem Oberkellner etwas zu, der mit einem offenbar nicht zu dieser
Sache gehörigen Lächeln Einwände zu machen schien. Therese —
Josie sah nur zu ihr hin — drückte ihr Gesicht in völliger
Hilflosigkeit an die Oberköchin und wollte nichts mehr sehen. Der
Einzige, der mit Josies Erklärung vollständig zufrieden war, war
der Oberportier, welcher einige Mal wiederholte: "Es ist ja ganz
recht, seinem Saufbruder muss man helfen", und diese Erklärung
jedem der Anwesenden durch Blicke und Handbewegungen einzuprägen
suchte.
"Schuld
also bin ich", sagte Josie und machte eine Pause, als warte er
auf ein freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weitern
Verteidigung geben könnte, aber es kam nicht, "schuld bin ich
nur daran, dass ich den Mann, er heißt Robinson, ist ein Irländer,
in den Schlafsaal gebracht habe. Alles andere, was er gesagt hat, hat
er aus Betrunkenheit gesagt und es ist nicht richtig."
"Du
hast ihm also kein Geld versprochen?" fragte der Oberkellner.
"Ja",
sagte Josie und es tat ihm Leid, dass er daran vergessen hatte, er
hatte sich aus Unüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten
Ausdrücken als schuldlos bezeichnet. "Geld habe ich ihm
versprochen, weil er mich darum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht
holen, sondern ihm das Trinkgeld geben, das ich heute Nacht verdient
hatte." Und er zog zum Beweise das Geld aus der Tasche und
zeigte auf der flachen Hand die paar kleinen Münzen.
"Du
verrennst dich immer mehr", sagte der Oberkellner. "Wenn
man dir glauben sollte, müsste man immer das, was du früher gesagt
hast, vergessen. Zuerst hast du also den Mann — nicht einmal den
Namen Robinson glaube ich dir, so hat, seitdem es ein Irland gibt,
kein Irländer geheißen — zuerst also hast du ihn nur in den
Schlafsaal gebracht, wofür allein du übrigens schon im Schwung
heraus fliegen könntest — Geld aber hast du ihm zuerst nicht
versprochen, dann wieder, wenn man dich überraschend fragt, hast du
ihm Geld versprochen. Aber wir haben hier kein Antwort- und
Fragespiel, sondern wollen deine Rechtfertigung hören. Zuerst aber
wolltest du das Geld nicht holen, sondern ihm dein heutiges Trinkgeld
geben, dann aber zeigt sich, dass du dieses Geld noch bei dir hast,
also offenbar doch noch anderes Geld holen wolltest, wofür auch dein
langes Ausbleiben spricht. Schließlich wäre es ja nichts
Besonderes, wenn du für ihn aus deinem Koffer hättest Geld holen
wollen, dass du es aber mit aller Kraft leugnest, das ist allerdings
etwas Besonderes. Ebenso wie du auch immerfort verschweigen willst,
dass du den Mann erst hier im Hotel betrunken gemacht hast, woran ja
nicht der geringste Zweifel ist, denn du selbst hast zugegeben, dass
er allein gekommen ist, aber nicht allein weggehen konnte und er
selbst hat ja im Schlafsaal herum geschrien, dass er dein Gast ist.
Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die du, wenn du die
Sache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man aber
schließlich auch ohne deine Mithilfe wird feststellen können:
Erstens, wie hast du dir den Zutritt zu den Vorratskammern
verschafft, und zweitens, wieso hast du verschenkbares Geld
angesammelt?"
"Es
ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist",
sagte sich Josie und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr
darunter wahrscheinlich Therese litt. Er wusste, dass alles, was er
sagen konnte, hinterher ganz anders aussehen würde, als es gemeint
gewesen war, und dass es nur der Art der Beurteilung überlassen
bliebe, Gutes oder Böses vorzufinden.
"Er
antwortet nicht", sagte die Oberköchin.
"Es
ist das Vernünftigste, was er tun kann", sagte der Oberkellner.
"Er
wird sich schon noch etwas ausdenken", sagte der Oberportier und
strich mit der früher grausamen Hand behutsam seinen Bart.
"Sei
still", sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu
schluchzen begann, "Du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich
denn da etwas für ihn tun. Schließlich bin ich es, die vor dem
Herrn Oberkellner Unrecht behält. Sag doch, Therese, habe ich deiner
Meinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?" Wie konnte das
Therese wissen und was nützte es, dass sich die Oberköchin durch
diese öffentlich an das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte
vor den beiden Herren vielleicht viel vergab?
"Frau
Oberköchin", sagte Josie, der sich noch einmal aufraffte, aber
nur, um Therese die Antwort zu ersparen, zu keinem andern Zweck, "ich
glaube nicht, dass ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe, und nach
genauer Untersuchung müsste das auch jeder andere finden."
"Jeder
andere", sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den
Oberkellner, "das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary."
"Nun,
Frau Oberköchin", sagte dieser, "es ist halb sieben, hohe
und höchste Zeit. Ich denke, Sie lassen mir am besten das
Schlusswort in dieser schon allzu duldsam behandelten Sache."
Der
kleine Giacomo war hereingekommen, wollte zu Josie treten, ließ
aber, durch die allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und
wartete.
Die
Oberköchin hatte seit Josies letzten Worten den Blick nicht von ihm
gewendet und es deutete auch nichts darauf hin, dass sie die
Bemerkung des Oberkellners gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf
Josie hin, sie waren groß und blau, aber ein wenig getrübt, durch
das Alter und die viele Mühe. Wie sie so dastand und den Sessel vor
sich schwach schaukelte, hätte man ganz gut erwarten können, sie
werde im nächsten Augenblicke sagen: "Nun, Josie, die Sache
ist, wenn ich es überlege, noch nicht recht klar gestellt und
braucht, wie du es richtig gesagt hast, noch eine genaue
Untersuchung. Und die wollen wir jetzt veranstalten, ob man sonst
damit einverstanden ist oder nicht, denn Gerechtigkeit muss sein."
Statt
dessen aber sagte die Oberköchin, nach einer kleinen Pause, die
niemand zu unterbrechen gewagt hatte — nur die Uhr schlug in
Bestätigung der Worte des Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie
jeder wusste, gleichzeitig alle Uhren im ganzen Hotel, es klang im
Ohr und in der Ahnung wie das zweimalige Zucken einer einzigen großen
Ungeduld: "Nein, Josie, nein, nein! Das wollen wir uns nicht
einreden. Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehen und das
hat, ich muss es gestehn, deine Sache nicht. Ich darf das sagen und
muss es auch sagen, denn ich bin es, die mit dem besten Vorurteil für
dich hergekommen ist. Du siehst, auch Therese schweigt." Aber
sie schwieg doch nicht, sie weinte.
Die
Oberköchin stockte in einem plötzlich sie überkommenden Entschluss
und sagte: "Josie, komm einmal her", und als er zu ihr
gekommen war — gleich vereinigten sich hinter seinem Rücken der
Oberkellner und der Oberportier zu lebhaftem Gespräch — umfasste
sie ihn mit der linken Hand, ging mit ihm und der willenlos folgenden
Therese in die Tiefe des Zimmers und dort mit beiden einige Male auf
und ab, wobei sie sagte: "Es ist möglich, Josie, und darauf
scheinst du zu vertrauen, sonst würde ich dich überhaupt nicht
verstehn, dass eine Untersuchung dir in einzelnen Kleinigkeiten Recht
geben wird. Warum denn nicht? Du hast vielleicht tatsächlich den
Oberportier gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch,
was ich von dem Oberportier zu halten habe, du siehst, ich rede
selbst jetzt noch offen zu dir. Aber solche kleine Rechtfertigungen
helfen dir gar nichts. Der Oberkellner, dessen Menschenkenntnis ich
im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe und welcher der
verlässlichste Mensch ist, den ich überhaupt kenne, hat deine
Schuld klar ausgesprochen und die scheint mir allerdings
unwiderleglich. Vielleicht hast du bloß unüberlegt gehandelt,
vielleicht aber bist du nicht der, für den ich dich gehalten habe.
Und doch", damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und
sah nur flüchtig nach den beiden Herren zurück, "kann ich es
mir noch nicht abgewöhnen, dich für einen im Grunde anständigen
Jungen zu halten."
"Frau
Oberköchin! Frau Oberköchin", mahnte der Oberkellner, der
ihren Blick aufgefangen hatte.
"Wir
sind gleich fertig", sagte die Oberköchin und redete nun
schneller auf Josie ein: "Höre, Josie, so wie ich die Sache
übersehe, bin ich noch froh, dass der Oberkellner keine Untersuchung
einleiten will, denn wollte er sie einleiten, ich müsste es in
deinem Interesse verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womit du
den Mann bewirtet hast, der übrigens nicht einer deiner früheren
Kameraden gewesen sein kann, wie du vorgibst, denn mit denen hast du
ja zum Abschied großen Streit gehabt, so dass du nicht jetzt einen
von ihnen traktieren wirst. Es kann also nur ein Bekannter sein, mit
dem du dich leichtsinniger Weise in der Nacht in irgendeiner
städtischen Kneipe verbrüdert hast. Wie konntest du mir, Josie,
alle diese Dinge verbergen? Wenn es dir im Schlafsaal vielleicht
unerträglich war und du zuerst aus diesem unschuldigen Grunde mit
deinem Nachtschwärmen angefangen hast, warum hast du denn kein Wort
davon gesagt, du weißt, ich wollte dir ein eigenes Zimmer
verschaffen und habe darauf geradezu erst über deine Bitten
verzichtet. Es scheint jetzt, als hättest du den allgemeinen
Schlafsaal vorgezogen, weil du dich dort ungebundener fühltest. Und
dein Geld hattest du doch in meiner Kasse aufgehoben und die
Trinkgelder brachtest du mir jede Woche, woher um Gotteswillen,
Junge, hast du das Geld für deine Vergnügungen genommen und woher
wolltest du jetzt das Geld für deinen Freund holen? Das sind
natürlich lauter Dinge, die ich wenigstens jetzt dem Oberkellner gar
nicht andeuten darf, denn dann wäre vielleicht eine Untersuchung
unausweichlich. Du musst also unbedingt aus dem Hotel, und zwar so
schnell als möglich. Geh direkt in die Pension Brenner — du warst
doch schon mehrmals mit Therese dort — sie werden dich auf diese
Empfehlung hin umsonst aufnehmen," — und die Oberköchin
schrieb mit einem goldenen Crayon, den sie aus der Bluse zog, einige
Zeilen auf eine Visitenkarte, wobei sie aber die Rede nicht
unterbrach: "Deinen Koffer werde ich dir gleich nachschicken.
Therese, lauf doch in die Garderobe der Liftjungen und pack seinen
Koffer", aber Therese rührte sich noch nicht, sondern wollte,
wie sie alles Leid ausgehalten hatte, nun auch die Wendung zum
Bessern, welche die Sache Josies dank der Güte der Oberköchin nahm,
ganz miterleben.
Jemand
öffnete, ohne sich zu zeigen, ein wenig die Tür und schloss sie
gleich wieder. Es musste offenbar Giacomo gegolten haben, denn dieser
trat vor und sagte: "Rossmann, ich habe dir etwas auszurichten."
"Gleich", sagte die Oberköchin und steckte Josie, der mit
gesenktem Kopf ihr zugehört hatte, die Visitenkarte in die Tasche,
"dein Geld behalte ich vorläufig, du weißt, du kannst es mir
anvertrauen. Heute bleib zu Hause und überlege deine Angelegenheit,
morgen — heute habe ich nicht Zeit, auch habe ich mich schon viel
zu lange hier aufgehalten — komme ich zu Brenner und wir werden
zusehen, was wir weiter für dich machen können. Verlassen werde ich
dich nicht, das sollst du jedenfalls schon heute wissen. Über deine
Zukunft musst du dir keine Sorgen machen, eher über die letzt
vergangene Zeit." Darauf klopfte sie ihm leicht auf die Schulter
und ging zum Oberkellner hinüber; Josie hob den Kopf und sah der
großen stattlichen Frau nach, die sich in ruhigem Schritt und freier
Haltung von ihm entfernte.
"Bist
du denn gar nicht froh", sagte Therese, die bei ihm
zurückgeblieben war, "dass alles so gut ausgefallen ist?"
"Oh ja", sagte Josie und lächelte ihr zu, wusste aber
nicht, warum er darüber froh sein sollte, dass man ihn als einen
Dieb wegschickte. Aus Thereses Augen strahlte die Freude, als sei es
ihr ganz gleichgültig, ob Josie etwas verbrochen hatte oder nicht,
ob er gerecht beurteilt worden war oder nicht, wenn man ihn nur
gerade entwischen ließ, in Schande oder in Ehren. Und so verhielt
sich gerade Therese, die doch in ihren eigenen Angelegenheiten so
peinlich war und ein nicht ganz eindeutiges Wort der Oberköchin
wochenlang in ihren Gedanken drehte und untersuchte. Mit Absicht
fragte er: "Wirst du meinen Koffer gleich packen und
wegschicken?" Er musste gegen seinen Willen vor Staunen den Kopf
schütteln, so schnell fand sich Therese in die Frage hinein und die
Überzeugung, dass in dem Koffer Dinge waren, die man vor allen
Leuten geheim halten musste, ließ sie gar nicht nach Josie hin sehn,
gar nicht ihm die Hand reichen, sondern nur flüstern: "Natürlich,
Josie, gleich, gleich werde ich den Koffer packen." Und schon
war sie davongelaufen.
Nun
ließ sich aber Giacomo nicht mehr halten, und aufgeregt durch das
lange Warten, rief er laut: "Rossmann, der Mann wälzt sich
unten im Gang und will sich nicht wegschaffen lassen. Sie wollten ihn
ins Krankenhaus bringen lassen, aber er wehrt sich und behauptet, du
würdest niemals dulden, dass er ins Krankenhaus kommt. Man solle ein
Automobil nehmen und ihn nach Hause schicken, du werdest das
Automobil bezahlen. Willst du?"
"Der
Mann hat Vertrauen zu dir", sagte der Oberkellner. Josie zuckte
mit den Schultern und zählte Giacomo sein Geld in die Hand: "Mehr
habe ich nicht", sagte er dann.
"Ich
soll dich auch fragen, ob du mitfahren willst", fragte noch
Giacomo, mit dem Gelde klimpernd.
"Er
wird nicht mitfahren", sagte die Oberköchin.
"Also,
Rossmann", sagte der Oberkellner schnell und wartete gar nicht,
bis Giacomo draußen war, "du bist auf der Stelle entlassen."
Der
Oberportier nickte mehrere Male, als wären es seine eigenen Worte,
die der Oberkellner nur nachspreche.
"Die
Gründe deiner Entlassung kann ich gar nicht laut aussprechen, denn
sonst müsste ich dich einsperren lassen."
Der
Oberportier sah auffallend streng zur Oberköchin hinüber, denn er
hatte wohl erkannt, dass sie die Ursache dieser allzu milden
Behandlung war.
"Jetzt
geh zu Bess, zieh dich um, übergib Bess deine Livree, und verlasse
sofort, aber sofort, das Haus."
Die
Oberköchin schloss die Augen, sie wollte damit Josie beruhigen.
Während er sich zum Abschied verbeugte, sah er flüchtig, wie der
Oberkellner die Hand der Oberköchin wie im Geheimen umfasste und mit
ihr spielte. Der Oberportier begleitete Josie mit schweren Schritten
bis zur Tür, die er ihn nicht schließen ließ, sondern selbst noch
offen hielt, um Josie nachschreien zu können: "In einer
Viertelminute will ich dich beim Haupttor an mir vorübergehen sehn,
merk dir das."
Josie
beeilte sich, wie er nur konnte, um nur beim Haupttor eine
Belästigung zu vermeiden, aber es ging alles viel langsamer, als er
wollte. Zuerst war Bess nicht gleich zu finden und jetzt in der
Frühstückszeit war alles voll Menschen, dann zeigte sich, dass ein
Junge sich Josies alte Hosen ausgeborgt hatte und Josie musste die
Kleiderständer bei fast allen Betten absuchen, ehe er diese Hosen
fand, so dass wohl fünf Minuten vergangen waren, ehe Josie zum
Haupttor kam. Gerade vor ihm ging eine Dame mitten zwischen vier
Herren. Sie gingen alle auf ein großes Automobil zu, das sie
erwartete und dessen Schlag bereits ein Lakai geöffnet hielt,
während er den freien, linken Arm seitwärts waagrecht und steif
ausstreckte, was höchst feierlich aussah. Aber Josie hatte umsonst
gehofft, hinter dieser vornehmen Gesellschaft unbemerkt
hinauszukommen. Schon fasste ihn der Oberportier bei der Hand und zog
ihn zwischen zwei Herren hindurch, die er um Verzeihung bat, zu sich
hin. "Das soll eine Viertelminute gewesen sein", sagte er
und sah Josie von der Seite an, als beobachte er eine schlecht
gehende Uhr. "Komm einmal her", sagte er dann und führte
ihn in die große Portiersloge, die Josie zwar schon längst einmal
anzusehen Lust gehabt hatte, in die er aber jetzt, von dem Portier
geschoben, nur mit Misstrauen eintrat. Er war schon in der Tür, als
er sich umwendete und den Versuch machte, den Oberportier weg zu
schieben und weg zu kommen. "Nein, nein, hier geht man hinein",
sagte der Oberportier und drehte Josie um. "Ich bin doch schon
entlassen", sagte Josie und meinte damit, dass ihm im Hotel
niemand mehr etwas zu befehlen habe. "Solange ich dich halte,
bist du nicht entlassen", sagte der Portier, was allerdings auch
richtig war.
Josie
fand schließlich auch keine Ursache, warum er sich gegen den Portier
wehren sollte. Was konnte ihm denn auch im Grunde noch geschehn?
Überdies bestanden die Wände der Portiersloge ausschließlich aus
ungeheuren Glasscheiben, durch die man die Menge der im Vestibül
gegeneinander strömenden Menschen deutlich sah, als wäre man mitten
unter ihnen. Ja, es schien in der ganzen Portiersloge keinen Winkel
zu geben, in dem man sich vor den Augen der Leute verbergen konnte.
So eilig es dort draußen die Leute zu haben schienen, denn mit
ausgestrecktem Arm, mit gesenktem Kopf, mit spähenden Augen, mit
hoch gehaltenen Gepäckstücken suchten sie ihren Weg, so versäumte
doch kaum einer einen Blick in die Portiersloge zu werfen, denn
hinter deren Scheiben waren immer Ankündigungen und Nachrichten
ausgehängt, die sowohl für die Gäste als für das Hotelpersonal
Wichtigkeit hatten. Außerdem aber bestand noch ein unmittelbarer
Verkehr der Portiersloge mit dem Vestibül, denn an zwei großen
Schiebefenstern saßen zwei Unterportiere und waren unaufhörlich
damit beschäftigt, Auskünfte in den verschiedensten Angelegenheiten
zu erteilen. Das waren geradezu überbürdete Leute und Josie hätte
behaupten wollen, dass der Oberportier, wie er ihn kannte, sich in
seiner Laufbahn um diese Posten herum gewunden hatte. Diese zwei
Auskunftserteiler hatten — von außen konnte man sich das nicht
richtig vorstellen — in der Öffnung des Fensters immer zumindest
zehn fragende Gesichter vor sich. Unter diesen zehn Fragern, die
immerfort wechselten, war oft ein Durcheinander von Sprachen, als sei
jeder Einzelne von einem andern Lande abgesendet. Immer fragten
einige gleichzeitig, immer redeten außerdem einzelne untereinander.
Die meisten wollten etwas aus der Portiersloge holen oder etwas dort
abgeben, so sah man immer auch ungeduldig fuchtelnde Hände aus dem
Gedränge ragen. Einmal hatte einer ein Begehren wegen irgendeiner
Zeitung, die sich unversehens von der Höhe aus entfaltete und für
einen Augenblick alle Gesichter verhüllte. Allem diesen mussten nun
die zwei Unterportiere Stand halten. Bloßes Reden hätte für ihre
Aufgabe nicht genügt, sie plapperten, besonders der eine, ein
düsterer Mann, mit einem das ganze Gesicht umgebenden, dunklen Bart,
gab die Auskünfte ohne die geringste Unterbrechung. Er sah weder auf
die Tischplatte, wo er fortwährend Handreichungen auszuführen
hatte, noch auf das Gesicht dieses oder jenes Fragers, sondern
ausschließlich starr vor sich, offenbar um seine Kräfte zu sparen
und zu sammeln. Übrigens störte wohl sein Bart ein wenig die
Verständlichkeit seiner Rede und Josie konnte in dem Weilchen,
während dessen er bei ihm stehen blieb, sehr wenig von dem Gesagten
auffassen, wenn es auch möglicherweise trotz des englischen
Beiklanges gerade fremde Sprachen waren, die er gebrauchen musste.
Außerdem beirrte es, dass sich eine Auskunft so knapp an die andere
anschloss und in sie überging, so dass oft noch ein Frager mit
gespanntem Gesicht zuhorchte, da er glaubte, es gehe noch um seine
Sache, um erst nach einem Weilchen zu merken, dass er schon erledigt
war. Gewöhnen musste man sich auch daran, dass der Unterportier
niemals bat, eine Frage zu wiederholen, selbst wenn sie im Ganzen
verständlich und nur ein wenig undeutlich gestellt war, ein kaum
merkliches Kopfschütteln verriet dann, dass er nicht die Absicht
habe, diese Frage zu beantworten, und es war Sache des Fragestellers,
seinen eigenen Fehler zu erkennen und die Frage besser zu
formulieren. Besonders damit verbrachten manche Leute sehr lange Zeit
vor dem Schalter.
Zur
Unterstützung der Unterportiere war jedem ein Laufbursche
beigegeben, der im gestreckten Lauf von einem Bücherregal und aus
verschiedenen Kästen alles beizubringen hatte, was der Unterportier
gerade benötigte. Das waren die bestbezahlten, wenn auch
anstrengendsten Posten, die es im Hotel für ganz junge Leute gab, in
gewissem Sinne waren sie auch noch ärger daran, als die
Unterportiere, denn diese hatten bloß nachzudenken und zu reden,
während diese jungen Leute gleichzeitig nachdenken und laufen
mussten. Brachten sie einmal etwas Unrichtiges herbei, so konnte sich
natürlich der Unterportier in der Eile nicht damit aufhalten, ihnen
lange Belehrungen zu geben, er warf vielmehr einfach das, was sie ihm
auf den Tisch legten, mit einem Ruck vom Tisch herunter. Sehr
interessant war die Ablösung der Unterportiere, die gerade kurz nach
dem Eintritt Josies stattfand. Eine solche Ablösung musste natürlich
wenigstens während des Tages öfters stattfinden, denn es gab wohl
kaum einen Menschen, der es länger als eine Stunde hinter dem
Schalter ausgehalten hätte. Zur Ablösungszeit ertönte nun eine
Glocke und gleichzeitig traten aus einer Seitentüre die zwei
Unterportiere, die jetzt an die Reihe kommen sollten, jeder von
seinem Laufjungen gefolgt. Sie stellten sich vorläufig untätig beim
Schalter auf und betrachteten ein Weilchen die Leute draußen, um
festzustellen, in welchem Stadium sich gerade die augenblickliche
Fragebeantwortung befand. Schien ihnen der Augenblick passend, um
einzugreifen, klopften sie dem abzulösenden Unterportier auf die
Schulter, der, trotzdem er sich bisher um nichts, was hinter seinem
Rücken vorging, gekümmert hatte, sofort verstand und seinen Platz
freimachte. Das Ganze ging so rasch, dass es oft die Leute draußen
überraschte und sie aus Schrecken über das so plötzlich vor ihnen
auftauchende neue Gesicht fast zurückwichen. Die abgelösten zwei
Männer streckten sich und begossen dann über zwei bereit stehenden
Waschbecken ihre heißen Köpfe, die abgelösten Laufjungen durften
sich aber noch nicht strecken, sondern hatten noch ein Weilchen damit
zu tun, die während ihrer Dienststunden auf den Boden geworfenen
Gegenstände aufzuheben und an ihren Platz zu legen.
Alles
dieses hatte Josie mit der angespanntesten Aufmerksamkeit in wenigen
Augenblicken in sich aufgenommen und mit leichten Kopfschmerzen
folgte er still dem Oberportier, der ihn weiterführte. Offenbar
hatte auch der Oberportier den großen Eindruck beobachtet, den diese
Art der Auskunftserteilung auf Josie gemacht hatte, und er riss
plötzlich an Josies Hand und sagte: "Siehst du, so wird hier
gearbeitet." Josie hatte ja allerdings hier im Hotel nicht
gefaulenzt, aber von solcher Arbeit hatte er doch keine Ahnung
gehabt, und fast völlig daran vergessend, dass der Oberportier sein
großer Feind war, sah er zu ihm auf und nickte stumm und anerkennend
mit dem Kopf. Das schien dem Oberportier aber wieder eine
Überschätzung der Unterportiere und vielleicht eine Unhöflichkeit
gegenüber seiner Person zu sein, denn, als hätte er Josie zum
Narren gehalten, rief er ohne Besorgnis, dass man ihn hören könnte:
"Natürlich ist dieses hier die dümmste Arbeit im ganzen Hotel;
wenn man eine Stunde zugehört hat, kennt man so ziemlich alle
Fragen, die gestellt werden und den Rest braucht man ja nicht zu
beantworten. Wenn du nicht frech und ungezogen gewesen wärest, wenn
du nicht gelogen, gelumpt, gesoffen und gestohlen hättest, hätte
ich dich vielleicht bei so einem Fenster anstellen können, denn dazu
kann ich ausschließlich nur vernagelte Köpfe brauchen." Josie
überhörte gänzlich die Beschimpfung, so weit sie ihn betraf, so
sehr war er darüber empört, dass die ehrliche und schwere Arbeit
der Unterportiere, statt anerkannt zu werden, verhöhnt wurde, und
überdies verhöhnt von einem Mann, der, wenn er es gewagt hätte,
sich einmal einem solchen Schalter zu setzen, gewiss nach paar
Minuten unter dem Gelächter aller Frager hätte abziehen müssen.
"Lassen Sie mich", sagte Josie, seine Neugierde in Betreff
der Portiersloge war bis zum Übermaß gestillt, "ich will mit
Ihnen nichts mehr zu tun haben." "Das genügt nicht, um
fort zu kommen", sagte der Oberportier, drückte Josies Arme,
dass dieser sie gar nicht rühren konnte und trug ihn förmlich an
das andere Ende der Portiersloge. Sahen die Leute draußen diese
Gewalttätigkeit des Oberportiers nicht? Oder wenn sie sie sahen, wie
fassten sie sie denn auf, dass keiner sich darüber aufhielt, dass
niemand wenigstens an die Scheibe klopfte, um dem Oberportier zu
zeigen, dass er beobachtet werde und nicht nach seinem Gutdünken mit
Josie verfahren dürfe.
Aber
bald hatte Josie auch keine Hoffnung mehr, vom Vestibül aus Hilfe zu
bekommen, denn der Oberportier griff an eine Schnur und über den
Scheiben der halben Portiersloge zogen sich im Fluge bis in die
letzte Höhe schwarze Vorhänge zusammen. Auch in diesem Teil der
Portiersloge waren Menschen, aber alle in voller Arbeit und ohne Ohr
und Auge für alles, was nicht mit ihrer Arbeit zusammenhing.
Außerdem waren sie ganz vom Oberportier abhängig, und hätten statt
Josie zu helfen, lieber geholfen, alles zu verbergen, was auch dem
Oberportier einfallen sollte zu tun. Da waren z.B. sechs
Unterportiere bei sechs Telefonen. Die Anordnung war, wie man gleich
bemerkte, so getroffen, dass immer einer bloß Gespräche aufnahm,
während sein Nachbar, nach den vom ersten empfangenen Notizen die
Aufträge telefonisch weiterleitete. Es waren dies jene neuesten
Telefone, für die keine Telefonzellen nötig waren, denn das
Glockenläuten war nicht lauter als ein Zirpen, man konnte in das
Telefon mit Flüstern hinein sprechen und doch kamen die Worte dank
besonderer elektrischer Verstärkungen mit Donnerstimme an ihrem
Ziele an. Deshalb hörte man die drei Sprecher an ihren Telefonen
kaum und hätte glauben können, sie beobachteten murmelnd
irgendeinen Vorgang in der Telefonmuschel, während die drei andern
wie betäubt von dem auf sie heran dringenden, für die Umgebung im
Übrigen unhörbaren Lärm die Köpfe auf das Papier sinken ließen,
das zu beschreiben ihre Aufgabe war. Wieder stand auch hier neben
jedem der drei Sprecher ein Junge zur Hilfeleistung; diese drei
Jungen taten nichts anderes, als abwechselnd den Kopf horchend zu
ihrem Herrn strecken und dann eilig, als würden sie gestochen in
riesigen, gelben Büchern — die umschlagenden Blättermassen
überrauschten bei Weitem jedes Geräusch der Telefone — die
Telefonnummern heraussuchen.
Josie
konnte sich tatsächlich nicht enthalten, alles das genau zu
verfolgen, trotzdem der Oberportier, der sich gesetzt hatte, ihn in
einer Art Umklammerung vor sich hinhielt. "Es ist meine
Pflicht", sagte der Oberportier und schüttelte Josie, als wolle
er nur erreichen, dass dieser ihm sein Gesicht zuwende, "das,
was der Oberkellner aus welchen Gründen immer versäumt hat, im
Namen der Hoteldirektion wenigstens ein wenig nachzuholen. So tritt
hier immer jeder für den andern ein. Ohne das wäre ein so großer
Betrieb undenkbar. Du willst vielleicht sagen, dass ich nicht dein
unmittelbarer Vorgesetzter bin, nun desto schöner ist es von mir,
dass ich mich dieser sonst verlassenen Sache annehme. Im Übrigen bin
ich in gewissem Sinne als Oberportier über alle gesetzt, denn mir
unterstehen doch alle Tore des Hotels, also dieses Haupttor, die drei
Mittel- und die zehn Nebentore, von den unzähligen Türchen und
türlosen Ausgängen gar nicht zu reden. Natürlich haben mir alle in
Betracht kommenden Bedienungsmannschaften unbedingt zu gehorchen.
Gegenüber diesen großen Ehren habe ich natürlich andererseits vor
der Hoteldirektion die Verpflichtung, niemanden heraus zu lassen, der
nur im Geringsten verdächtig ist. Gerade du aber kommst mir, weil es
mir so beliebt, sogar stark verdächtig vor." Und vor Freude
darüber hob er die Hände und ließ sie wieder stark zurückschlagen,
dass es klatschte und Weh tat. "Es ist möglich", fügte er
hinzu und unterhielt sich dabei königlich, "dass du bei einem
andern Ausgang unbemerkt herausgekommen wärest, denn du standst mir
natürlich nicht dafür, besondere Anweisungen deinetwegen ergehen zu
lassen. Aber da du nun einmal hier bist, will ich dich genießen. Im
Übrigen habe ich nicht daran gezweifelt, dass du das Rendezvous, das
wir uns beim Haupttor gegeben hatten, auch einhalten wirst, denn das
ist eine Regel, dass der Freche und Unfolgsame gerade dort und dann
mit seinen Lastern aufhört, wo es ihm schadet. Du wirst das an dir
selbst gewiss noch oft beobachten können."
"Glauben
Sie nicht", sagte Josie und atmete den eigentümlich dumpfen
Geruch ein, der vom Oberportier ausging und den er erst hier, wo er
so lange in seiner nächsten Nähe stand, bemerkte, "glauben Sie
nicht", sagte er, "dass ich vollständig in ihrer Gewalt
bin, ich kann ja schreien." "Und ich kann dir den Mund
stopfen", sagte der Oberportier ebenso ruhig und schnell, wie er
es wohl nötigenfalls auszuführen gedachte. "Und meinst du denn
wirklich, wenn man deinetwegen hereinkommen sollte, es würde sich
jemand finden, der dir Recht geben würde, mir, dem Oberportier
gegenüber. Du siehst also wohl den Unsinn deiner Hoffnungen ein.
Weißt du, wie du noch in der Uniform warst, da hast du ja
tatsächlich noch etwas beachtenswert ausgesehen, aber in diesem
Anzug, der tatsächlich nur in Europa möglich ist." Und er
zerrte an den verschiedensten Stellen des Anzugs, der jetzt
allerdings, trotzdem er vor fünf Monaten noch fast neu gewesen war,
abgenützt, faltig, vor allem aber fleckig war, was hauptsächlich
auf die Rücksichtslosigkeit der Liftjungen zurückzuführen war, die
jeden Tag, um den Saalboden dem allgemeinen Befehl gemäß, glatt und
staubfrei zu erhalten, aus Faulheit keine eigentliche Reinigung
vornahmen, sondern mit irgendeinem Öl den Boden sprengten und damit
gleichzeitig alle Kleider auf den Kleiderständern schändlich
bespritzten. Nun konnte man seine Kleider aufheben, wo man wollte,
immer fand sich einer, der gerade seine Kleider nicht bei der Hand
hatte, dagegen die versteckten fremden Kleider mit Leichtigkeit fand
und sich ausborgte. Und womöglich war dieser eine gerade derjenige,
der an diesem Tage die Saalreinigung vorzunehmen hatte und der dann
die Kleider nicht nur mit dem Öl bespritzte, sondern vollständig
von oben bis unten begoss. Nur Renell hatte seine kostbaren Kleider
an irgendeinem geheimen Orte versteckt, von wo sie kaum jemals einer
hervor gezogen hatte, zumal ja auch niemand, vielleicht aus Bosheit
oder Geiz, fremde Kleider sich ausborgte, sondern aus bloßer Eile
und Nachlässigkeit dort nahm, wo er sie fand. Aber selbst auf
Renells Kleid war mitten auf dem Rücken ein kreisrunder, rötlicher
Ölfleck, und in der Stadt hätte ein Kenner an diesem Fleck selbst
in diesem eleganten jungen Mann den Liftjungen feststellen können.
Und
Josie sagte sich bei diesen Erinnerungen, dass er auch als Liftjunge
genug gelitten hatte und dass doch alles vergebens gewesen war, denn
nun war dieser Liftjungendienst, nicht wie er gehofft hatte, eine
Vorstufe zu besserer Anstellung gewesen, vielmehr war er jetzt noch
tiefer herabgedrückt worden und sogar sehr nahe an das Gefängnis
geraten. Überdies wurde er jetzt noch vom Oberportier festgehalten,
der wohl darüber nachdachte, wie er Josie noch weiter beschämen
könne. Und völlig daran vergessend, dass der Oberportier durchaus
nicht der Mann war, der sich vielleicht überzeugen ließ, rief
Josie, während er sich mit der gerade freien Hand mehrmals gegen die
Stirn schlug: "Und wenn ich Sie wirklich nicht gegrüßt haben
sollte, wie kann denn ein erwachsener Mensch wegen eines
unterlassenen Grußes so rachsüchtig werden!"
"Ich
bin nicht rachsüchtig", sagte der Oberportier, "ich will
nur deine Taschen durchsuchen. Ich bin zwar überzeugt, dass ich
nichts finden werde, denn du wirst wohl so vorsichtig gewesen sein
und deinen Freund alles allmählich, jeden Tag etwas, hast
wegschleppen lassen. Aber durchsucht worden musst du sein." Und
schon griff er in eine von Josies Rocktaschen, mit solcher Gewalt,
dass die seitlichen Nähte platzten. "Da ist also schon nichts",
sagte er und überklaubte in seiner Hand den Inhalt dieser Tasche,
einen Reklamekalender des Hotels, ein Blatt mit einer Aufgabe aus
kaufmännischer Korrespondenz, einige Rock- und Hosenknöpfe, die
Visitenkarte der Oberköchin, einen Polierstift für die Nägel, den
ihm einmal ein Gast beim Kofferpacken zugeworfen hatte, einen alten
Taschenspiegel, den ihm Renell zum Dank für vielleicht zehn
Vertretungen im Dienste geschenkt hatte, und noch paar Kleinigkeiten.
"Das ist also nichts", wiederholte der Oberportier und warf
alles unter die Bank, als sei es selbstverständlich, dass das
Eigentum Josies, so weit es nicht gestohlen war, unter die Bank
gehöre. "Jetzt ist aber genug", sagte sich Josie — sein
Gesicht musste glühend rot sein — und als der Oberportier durch
die Gier unvorsichtig gemacht, in Josies zweiter Tasche herum grub,
fuhr Josie mit einem Ruck aus den Ärmeln heraus, stieß im ersten,
noch unbeherrschten Sprung einen Unterportier ziemlich stark gegen
seinen Apparat, lief durch die schwüle Luft eigentlich langsamer,
als er beabsichtigt hatte, zur Tür, war aber glücklich draußen,
ehe der Oberportier in seinem schweren Mantel sich auch nur hatte
erheben können. Die Organisation des Wachdienstes musste doch nicht
so mustergültig sein, es läutete zwar auf einigen Seiten, aber Gott
weiß zu welchen Zwecken, Hotelangestellte gingen zwar im Torgang in
solcher Anzahl kreuz und quer, dass man fast daran denken konnte, sie
wollten in unauffälliger Weise den Ausgang unmöglich machen, denn
viel sonstigen Sinn konnte man in diesem Hin- und Hergehn nicht
erkennen — jedenfalls kam Josie bald ins Freie, musste aber noch
das Hoteltrottoir entlang gehn, denn zur Straße konnte man nicht
gelangen, da eine ununterbrochene Reihe von Automobilen stockend sich
am Haupttor vorbei bewegte. Diese Automobile waren, um nur so bald
als möglich zu ihrer Herrschaft zu kommen, geradezu ineinander
gefahren, jedes wurde vom nachfolgenden vorwärts geschoben.
Fußgänger, die es besonders eilig hatten auf die Straße zu
gelangen, stiegen zwar hier und da durch die einzelnen Automobile
hindurch, als sei dort ein öffentlicher Durchgang, und es war ihnen
ganz gleichgültig, ob im Automobil nur der Chauffeur und die
Dienerschaft saß oder auch die vornehmsten Leute. Ein solches
Benehmen schien aber Josie doch übertrieben und man musste sich wohl
in den Verhältnissen schon auskennen, um das zu wagen, wie leicht
konnte er an ein Automobil geraten, dessen Insassen das übel nahmen,
ihn hinunter warfen und einen Skandal veranlassten und nichts hatte
er, als ein entlaufener, verdächtiger Hotelangestellter in
Hemdsärmeln mehr zu fürchten. Schließlich konnte ja die Reihe der
Automobile nicht in Ewigkeit so fort gehn und er war auch, solange er
sich ans Hotel hielt, eigentlich am unverdächtigsten. Tatsächlich
gelangte Josie endlich an eine Stelle, wo die Automobilreihe zwar
nicht aufhörte, aber zur Straße hin abbog und lockerer wurde.
Gerade wollte er in den Verkehr der Straße schlüpfen, in dem wohl
noch viel verdächtiger aussehende Leute als er war, frei herum
liefen, da hörte er in der Nähe seinen Namen rufen. Er wandte sich
um und sah, wie zwei ihm wohl bekannte Liftjungen aus einer
niedrigen, kleinen Türöffnung, die wie der Eingang einer Gruft
aussah, mit äußerster Anstrengung eine Trage heraus zogen, auf der,
wie Josie nun erkannte, wahrhaftig Robinson lag, Kopf, Gesicht und
Arme mannigfaltig umbunden. Es war hässlich anzusehn, wie er die
Arme an die Augen führte, um mit dem Verbande die Tränen
abzuwischen, die er vor Schmerzen oder vor sonstigem Leid oder gar
vor Freude über das Wiedersehen mit Josie vergoss. "Rossmann",
rief er vorwurfsvoll, "warum lässt du mich denn solange warten.
Schon eine Stunde verbringe ich damit, mich zu wehren, damit ich
nicht früher weg transportiert werde, ehe du kommst. Diese Kerle,"
— und er gab dem einen Liftjungen ein Kopfstück, als sei er durch
die Verbände vor Schlägen geschützt, — "sind ja wahre
Teufel. Ach Rossmann, der Besuch bei dir ist mir teuer zu stehen
gekommen." "Was hat man dir denn gemacht?" sagte Josie
und trat an die Trage heran, welche die Liftjungen, um sich
auszuruhen, lachend nieder stellten. "Du fragst noch",
seufzte Robinson, "und siehst, wie ich ausschaue. Bedenke! Ich
bin ja höchstwahrscheinlich für mein ganzes Leben zum Krüppel
geschlagen. Ich habe fürchterliche Schmerzen, von hier bis hier",
—und er zeigte zuerst auf den Kopf und dann auf die Zehen. "Ich
möchte dir wünschen, dass du gesehen hättest, wie ich aus der Nase
geblutet habe. Meine Weste ist ganz verdorben, die habe ich überhaupt
dort gelassen, meine Hosen sind zerfetzt, ich bin in Unterhosen",
—und er lüftete die Decke ein wenig und lud Josie ein, unter sie
zu schauen. "Was wird nur aus mir werden! Ich werde zumindest
einige Monate liegen müssen und das will ich dir gleich sagen, ich
habe niemanden andern als dich, der mich pflegen könnte, Delamarche
ist ja viel zu ungeduldig. Rossmann, Rossmannchen!" Und Robinson
streckte die Hand nach dem ein wenig zurücktretenden Josie aus, um
ihn durch Streicheln für sich zu gewinnen. "Warum habe ich dich
nur besuchen müssen!" wiederholte er mehrere Male, um Josie die
Mitschuld nicht vergessen zu lassen, die dieser an seinem Unglück
hatte. Nun erkannte zwar Josie sofort, dass das Klagen Robinsons
nicht von seinen Wunden, sondern von dem ungeheuren Katzenjammer
stammte, in dem er sich befand, da er in schwerer Trunkenheit kaum
eingeschlafen, gleich geweckt und zu seiner Überraschung blutig
geboxt worden war und sich in der wachen Welt gar nicht mehr
zurechtfinden konnte. Die Bedeutungslosigkeit der Wunden war schon an
den unförmlichen, aus alten Fetzen bestehenden Verbänden zu sehen,
mit denen ihn die Liftjungen offenbar zum Spaß ganz und gar
umwickelt hatten. Und auch die zwei Liftjungen, an den Enden der
Trage, prusteten vor Lachen von Zeit zu Zeit. Nun war aber hier nicht
der Ort, Robinson zur Besinnung zu bringen, denn stürmend eilten
hier die Passanten, ohne sich um die Gruppe an der Trage zu kümmern,
vorbei, öfters sprangen Leute mit richtigem Turnerschwung über
Robinson hinweg, -der mit Josies Geld bezahlte Chauffeur rief:
"Vorwärts, vorwärts", die Liftjungen hoben mit letzter
Kraft die Trage auf, Robinson erfasste Josies Hand und sagte
schmeichelnd: "Nun komm, so komm doch!" War nicht Josie, in
dem Aufzug, in dem er sich befand, im Dunkel des Automobils noch am
besten aufgehoben? Und so setzte er sich neben Robinson, der den Kopf
an ihn lehnte, die zurück bleibenden Liftjungen schüttelten ihm,
als ihrem gewesenen Kollegen, durch das Kupeefenster herzlich die
Hand und das Automobil drehte sich mit scharfer Wendung zur Straße
hin; es schien, als müsse unbedingt ein Unglück geschehen, aber
gleich nahm der alles umfassende Verkehr auch die schnurgerade Fahrt
dieses Automobils ruhig in sich auf.
Teil
VII: Brunelda
Es
musste wohl eine entlegene Vorstadtstraße sein, in der das Automobil
Halt machte, denn ringsum herrschte Stille, am Trottoirrand hockten
Kinder und spielten, ein Mann mit einer Menge alter Kleider über den
Schultern rief beobachtend zu den Fenstern der Häuser empor; in
seiner Müdigkeit fühlte sich Josie unbehaglich, als er aus dem
Automobil auf den Asphalt trat, den die Vormittagssonne warm und hell
beschien. "Wohnst du wirklich hier?" rief er ins Automobil
hinein. Robinson, der während der ganzen Fahrt friedlich geschlafen
hatte, brummte irgendeine undeutliche Bejahung und schien darauf zu
warten, dass Josie ihn hinaus tragen werde. "Dann habe ich hier
also nichts mehr zu tun. Leb wohl", sagte Josie und machte sich
daran, die ein wenig sich senkende Straße abwärts zu gehn. "Aber
Josie, was fällt dir denn ein?" rief Robinson und stand schon
vor lauter Sorge ziemlich aufrecht, nur mit noch etwas unruhigen
Knien, im Wagen. "Ich muss doch gehen", sagte Josie, der
der raschen Gesundung Robinsons zugesehen hatte. "In
Hemdsärmeln?" fragte dieser. "Ich werde mir schon noch
einen Rock verdienen", antwortete Josie, nickte Robinson
zuversichtlich zu, grüßte mit erhobener Hand und wäre nun wirklich
fort gegangen, wenn nicht der Chauffeur gerufen hätte: "Noch
einen kleinen Augenblick Geduld, mein Herr." Es zeigte sich
unangenehmer Weise, dass der Chauffeur noch Ansprüche auf eine
nachträgliche Bezahlung stellte, denn die Wartezeit vor dem Hotel
war noch nicht bezahlt. "Nun ja", rief aus dem Automobil
Robinson in Bestätigung der Richtigkeit dieser Forderung, "ich
habe ja dort so lange auf dich warten müssen. Etwas musst du ihm
noch geben." "Ja, freilich", sagte der Chauffeur. "Ja,
wenn ich nur noch etwas hätte", sagte Josie und griff in die
Hosentaschen, trotzdem er wusste, dass es nutzlos war. "Ich kann
mich nur an Sie halten", sagte der Chauffeur und stellte sich
breitbeinig auf, "von dem kranken Mann dort kann ich nichts
verlangen." Vom Tor her näherte sich ein junger Bursche mit
zerfressener Nase und aus einer Entfernung von paar Schritten zu.
Gerade machte durch die Straße ein Polizeimann die Runde, fasste mit
gesenktem Gesicht den hemdsärmligen Menschen ins Auge und blieb
stehen. Robinson, der den Polizeimann auch bemerkt hatte, machte die
Dummheit, aus dem andern Fenster ihm zuzurufen: "Es ist nichts,
es ist nichts", als ob man einen Polizeimann wie eine Fliege
verscheuchen könnte. Die Kinder, welche den Polizeimann beobachtet
hatten, wurden nun durch sein Stillstehn auch auf Josie und den
Chauffeur aufmerksam und liefen im Trab herbei. Im Tor gegenüber
stand eine alte Frau und sah starr herüber.
"Rossmann",
rief da eine Stimme aus der Höhe. Es war Delamarche, der das vom
Balkon des letzten Stockwerks rief. Er selbst war nur schon recht
undeutlich gegen den weißlich blauen Himmel zu sehen, hatte offenbar
einen Schlafrock an und beobachtete mit einem Operngucker die Straße.
Neben ihm war ein roter Sonnenschirm aufgespannt, unter dem eine Frau
zu sitzen schien. "Hallo", rief er mit größter
Anstrengung, um sich verständlich zu machen, "ist Robinson auch
da?" "Ja", antwortete Josie, von einem zweiten, viel
lauterem "Ja" Robinsons aus dem Wagen kräftig unterstützt.
"Hallo", rief es zurück, "ich komme gleich."
Robinson beugte sich aus dem Wagen. "Das ist ein Mann",
sagte er und dieses Lob Delamarches war an Josie gerichtet, an den
Chauffeur, an den Polizeimann und an jeden, der es hören wollte.
Oben auf dem Balkon, den man aus Zerstreutheit noch ansah, trotzdem
ihn Delamarche schon verlassen hatte, erhob sich nun unter dem
Sonnenschirm tatsächlich eine starke Frau in rotem Kleid, nahm den
Operngucker von der Brüstung und sah durch ihn auf die Leute
hinunter, die nur allmählich die Blicke von ihr wendeten. Josie sah
in Erwartung des Delamarche in das Haustor und weiterhin in den Hof,
den eine fast ununterbrochene Reihe von Geschäftsdienern
durchquerte, von denen jeder eine kleine, aber offenbar sehr schwere
Kiste auf der Achsel trug. Der Chauffeur war zu seinem Wagen getreten
und putzte, um die Zeit auszunützen, mit einem Fetzen die
Wagenlaternen. Robinson befühlte seine Gliedmaßen, schien erstaunt
über die geringen Schmerzen zu sein, die er trotz größter
Aufmerksamkeit fühlen konnte und begann vorsichtig mit tief
geneigtem Gesicht einen der dicken Verbände am Bein zu lösen. Der
Polizeimann hielt sein schwarzes Stöckchen quer vor sich und wartete
still mit der großen Geduld, die Polizeileute haben müssen, ob sie
im gewöhnlichen Dienst oder auf der Lauer sind. Der Bursche mit der
zerfressenen Nase setzte sich auf einen Torstein und streckte die
Beine von sich. Die Kinder näherten sich Josie allmählich mit
kleinen Schritten, denn dieser schien ihnen, trotzdem er sie nicht
beachtete, wegen seiner blauen Hemdsärmel der wichtigste von allen
zu sein.
An
der Länge der Zeit, die bis zur Ankunft Delamarches verging, konnte
man die große Höhe dieses Hauses ermessen. Und Delamarche kam sogar
sehr eilig, mit nur flüchtig zugezogenem Schlafrock. "Also, da
seid ihr!" rief er, erfreut und streng zugleich. Bei seinen
großen Schritten enthüllte sich stets für einen Augenblick seine
farbige Unterkleidung. Josie begriff nicht ganz, warum Delamarche
hier in der Stadt, in der riesigen Mietskaserne, auf der offenen
Straße so bequem angezogen herum ging, als sei er in seiner
Privatvilla. Ebenso wie Robinson hatte auch Delamarche sich sehr
verändert. Sein dunkles, glatt rasiertes, peinlich reines, von roh
ausgearbeiteten Muskeln gebildetes Gesicht sah stolz und Respekt
einflößend aus. Der grelle Schein seiner jetzt immer etwas
zusammengezogenen Augen überraschte. Sein violetter Schlafrock war
zwar alt, fleckig und für ihn zu groß, aber aus diesem hässlichen
Kleidungsstück bauschte sich oben eine mächtige, dunkle Krawatte
aus schwerer Seide. "Nun?" fragte er alle insgesamt. Der
Polizeimann trat ein wenig näher und lehnte sich an den Motorkasten
des Automobils. Josie gab eine kleine Erklärung. "Robinson ist
ein wenig marod, aber wenn er sich Mühe gibt, wird er schon die
Treppen hinauf gehn können; der Chauffeur hier will noch eine
Nachzahlung zum Fahrtgeld, das ich schon bezahlt habe. Und jetzt gehe
ich. Guten Tag." "Du gehst nicht", sagte Delamarche.
"Ich habe es ihm auch schon gesagt", meldete sich Robinson
aus dem Wagen. "Ich gehe doch", sagte Josie und machte ein
paar Schritte. Aber Delamarche war schon hinter ihm und schob ihn mit
Gewalt zurück. "Ich sage, du bleibst", rief er. "Aber
lasst mich doch", sagte Josie und machte sich bereit, wenn es
nötig sein sollte, mit den Fäusten sich die Freiheit zu
verschaffen, so wenig Aussicht auf Erfolg gegenüber einem Mann wie
Delamarche auch war. Aber da stand doch der Polizeimann, da war der
Chauffeur, hier und da gingen Arbeitergruppen durch die sonst
freilich ruhige Straße, würde man es denn dulden, dass ihm von
Delamarche ein Unrecht geschehe? In einem Zimmer hätte er mit ihm
nicht allein sein wollen, aber hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig
dem Chauffeur, der unter vielen Verbeugungen den unverdient großen
Betrag einsteckte und aus Dankbarkeit zu Robinson ging und mit diesem
offenbar darüber sprach, wie er am besten heraus befördert werden
könnte. Josie sah sich unbeobachtet, vielleicht duldete Delamarche
ein stillschweigendes Fortgehn leichter, wenn Streit vermieden werden
konnte, war es natürlich am besten und so ging Josie einfach in die
Fahrbahn hinein, um möglichst rasch weg zu kommen. Die Kinder
strömten zu Delamarche, um ihn auf Josies Flucht aufmerksam zu
machen, aber er musste selbst gar nicht eingreifen, denn der
Polizeimann sagte mit vorgestrecktem Stabe "Halt!" "Wie
heißt du", fragte er, schob den Stab unter den Arm und zog
langsam ein Buch hervor. Josie sah ihn jetzt zum ersten Mal genauer
an, es war ein kräftiger Mann, hatte aber schon fast ganz weißes
Haar. "Josie Rossmann", sagte er. "Rossmann",
wiederholte der Polizeimann, zweifellos nur, weil er ein ruhiger und
gründlicher Mensch war, aber Josie, der hier eigentlich zum ersten
Mal mit amerikanischen Behörden zu tun bekam, sah schon in dieser
Wiederholung das Aussprechen eines gewissen Verdachtes. Und
tatsächlich konnte seine Sache nicht gut stehn, denn selbst
Robinson, der doch so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt
war, bat aus dem Wagen heraus mit stummen, lebhaften Handbewegungen
Delamarche, er möge Josie doch helfen. Aber Delamarche wehrte ihn
mit hastigem Kopfschütteln ab und sah untätig zu, die Hände in
seinen übergroßen Taschen. Der Bursche auf dem Türstein erklärte
einer Frau, die jetzt erst aus dem Tore trat, den ganzen Sachverhalt
von allem Anfang an. Die Kinder standen in einem Halbkreis hinter
Josie und sahen still zum Polizeimann hinauf: "Zeig deine
Ausweispapiere", sagte der Polizeimann. Das war wohl nur eine
formelle Frage, denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nicht
viel Ausweispapiere bei sich haben. Josie schwieg deshalb, auch um
lieber auf die nächste Frage ausführlich zu antworten und so den
Mangel der Ausweispapiere möglichst zu vertuschen. Aber die nächste
Frage war: "Du hast also keine Ausweispapiere?" Und Josie
musste nun antworten: "Bei mir nicht." "Das ist aber
schlimm", sagte der Polizeimann, sah nachdenklich im Kreise
umher und klopfte mit zwei Fingern auf den Deckel seines Buches.
"Hast du irgendeinen Verdienst?" fragte der Polizeimann
schließlich. "Ich war Liftjunge", sagte Josie. "Du
warst Liftjunge, bist es also nicht mehr, und wovon lebst du denn
jetzt?" "Jetzt werde ich mir eine neue Arbeit suchen."
"Ja, bist du denn jetzt entlassen worden?" "Ja, vor
einer Stunde." "Plötzlich?" "Ja", sagte
Josie und hob wie zur Entschuldigung die Hand. Die ganze Geschichte
konnte er hier nicht erzählen und wenn es auch möglich gewesen
wäre, so schien es doch ganz aussichtslos, ein drohendes Unrecht
durch Erzählung eines erlittenen Unrechtes abzuwehren. Und wenn er
sein Recht nicht von der Güte der Oberköchin und von der Einsicht
des Oberkellners erhalten hatte, von der Gesellschaft hier auf der
Straße hatte er es gewiss nicht zu erwarten.
"Und
ohne Rock bist du entlassen worden?" fragte der Polizeimann.
"Nun ja", sagte Josie, also auch in Amerika gehörte es zur
Art der Behörden, das, was sie sahen, noch eigens zu fragen. Wie
hatte sein Vater bei der Beschaffung des Reisepasses über die
nutzlose Fragerei der Behörden sich ärgern müssen. Josie hatte
große Lust weg zu laufen, sich irgendwo zu verstecken und keine
Fragen mehr anhören zu müssen. Und nun stellte gar der Polizeimann
jene Frage, vor der sich Josie am meisten gefürchtet und in deren
unruhiger Voraussicht er sich bisher wahrscheinlich unvorsichtiger
benommen hatte, als es sonst geschehen wäre: "In welchem Hotel
warst du denn angestellt?" Er senkte den Kopf und antwortete
nicht, auf diese Frage wollte er unbedingt nicht antworten. Es durfte
nicht geschehn, dass er von einem Polizeimann eskortiert wieder ins
Hotel Occidental zurück käme, dass dort Verhöre stattfanden, zu
denen seine Freunde und Feinde beigezogen würden, dass die
Oberköchin ihre schon sehr schwach gewordene gute Meinung über
Josie gänzlich aufgab, da sie ihn, den sie in der Pension Brenner
vermutete, von einem Polizeimann aufgegriffen, in Hemdsärmeln, ohne
ihre Visitenkarte zurückgekehrt fand, während der Oberkellner
vielleicht nur voll Verständnis nicken, der Oberportier dagegen von
der Hand Gottes sprechen würde, die den Lumpen endlich gefunden
habe.
"Er
war im Hotel Occidental angestellt", sagte Delamarche und trat
an die Seite des Polizeimanns. "Nein", rief Josie und
stampfte mit dem Fuße auf, "es ist nicht wahr." Delamarche
sah ihn mit spöttisch zugespitztem Munde an, als könne er noch ganz
andere Dinge verraten. Unter die Kinder brachte die unerwartete
Aufregung Josies große Bewegung und sie zogen zu Delamarche hin, um
lieber von dort aus Josie genau anzusehn. Robinson hatte den Kopf
völlig aus dem Wagen gesteckt und verhielt sich vor Spannung ganz
ruhig; hier und da ein Augenzwinkern war seine einzige Bewegung. Der
Bursche im Tor schlug in die Hände vor Vergnügen, die Frau neben
ihm gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, damit er ruhig sei. Die
Gepäckträger hatten gerade Frühstückspause und erschienen
sämtlich mit großen Töpfen schwarzen Kaffees, in dem sie mit
Stangenbroten herum rührten. Einige setzten sich auf den
Trottoirrand, alle schlürften den Kaffee sehr laut.
"Sie
kennen wohl den Jungen", fragte der Polizeimann Delamarche.
"Besser als mir lieb ist", sagte dieser. "Ich habe ihm
zu seiner Zeit viel Gutes getan, er aber hat sich dafür sehr
schlecht bedankt, was Sie wohl, selbst nach dem ganz kurzen Verhör,
das Sie mit ihm angestellt haben, leicht begreifen werden."
"Ja", sagte der Polizeimann, "es scheint ein
verstockter Junge zu sein." "Das ist er", sagte
Delamarche, "aber es ist das noch nicht seine schlechteste
Eigenschaft." "So?" sagte der Polizeimann. "Ja",
sagte Delamarche, der nun im Reden war und dabei mit den Händen in
den Taschen seinen ganzen Mantel in schwingende Bewegung brachte,
"das ist ein feiner Hecht. Ich und mein Freund dort im Wagen,
wir haben ihn zufällig im Elend aufgegriffen, er hatte damals keine
Ahnung von amerikanischen Verhältnissen, er kam gerade aus Europa,
wo man ihn auch nicht hatte brauchen können, nun wir schleppten ihn
mit uns, ließen ihn mit uns leben, erklärten ihm alles, wollten ihm
einen Posten verschaffen, dachten trotz aller Anzeichen, die dagegen
sprachen, noch einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen, da
verschwand er einmal in der Nacht, war einfach weg und das unter
Begleitumständen, die ich lieber verschweigen will. War es so oder
nicht?" fragte Delamarche schließlich und zupfte Josie am
Hemdsärmel. "Zurück ihr Kinder", rief der Polizeimann,
denn diese hatten sich so weit vorgedrängt, dass Delamarche fast
über eines gestolpert wäre. Inzwischen waren auch die Gepäckträger,
die bisher die Interessantheit dieses Verhörs unterschätzt hatten,
aufmerksam geworden und hatten sich in dichtem Ring hinter Josie
versammelt, der nun auch nicht einen Schritt hätte zurücktreten
können und überdies unaufhörlich in den Ohren das Durcheinander
der Stimmen dieser Gepäckträger hatte, die in einem gänzlich
unverständlichen, vielleicht mit slawischen Worten untermischten
Englisch mehr polterten als redeten.
"Danke
für die Auskunft", sagte der Polizeimann und salutierte vor
Delamarche. "Jedenfalls werde ich ihn mitnehmen und dem Hotel
Occidental zurückgeben lassen." Aber Delamarche sagte: "Dürfte
ich die Bitte stellen, mir den Jungen vorläufig zu überlassen, ich
hätte einiges mit ihm in Ordnung zu bringen. Ich verpflichte mich,
ihn dann selbst ins Hotel zurückzuführen." "Das kann ich
nicht tun", sagte der Polizeimann. Delamarche sagte: "Hier
ist meine Visitenkarte", und reichte ihm ein Kärtchen. Der
Polizeimann sah es anerkennend an, sagte aber verbindlich lächelnd:
"Nein, es ist vergeblich."
So
sehr sich Josie bisher vor Delamarche gehütet hatte, jetzt sah er in
ihm die einzig mögliche Rettung. Es war zwar verdächtig, wie sich
dieser beim Polizeimann um Josie bewarb, aber jedenfalls würde sich
Delamarche leichter als der Polizeimann bewegen lassen, ihn nicht ins
Hotel zurückzuführen. Und selbst wenn Josie an der Hand des
Delamarche ins Hotel zurück kam, so war es viel weniger schlimm, als
wenn es in Begleitung des Polizeimannes geschah. Vorläufig aber
durfte natürlich Josie nicht zu erkennen geben, dass er tatsächlich
zu Delamarche wollte, sonst war alles verdorben. Und unruhig sah er
auf die Hand des Polizeimanns, die sich jeden Augenblick erheben
konnte, um ihn zu fassen.
"Ich
müsste doch wenigstens erfahren, warum er plötzlich entlassen
worden ist", sagte schließlich der Polizeimann, während
Delamarche mit verdrießlichem Gesicht beiseite sah und die
Visitenkarte zwischen den Fingerspitzen zerdrückte. "Aber er
ist doch gar nicht entlassen", rief Robinson zu allgemeiner
Überraschung und beugte sich auf den Chauffeur gestützt möglichst
weit aus dem Wagen. "Im Gegenteil, er hat ja dort einen guten
Posten. Im Schlafsaal ist er der oberste und kann hineinführen, wen
er will. Nur ist er riesig beschäftigt und wenn man etwas von ihm
haben will, muss man lange warten. Immerfort steckt er beim
Oberkellner, bei der Oberköchin und ist Vertrauensperson. Entlassen
ist er auf keinen Fall. Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat. Wie
kann er denn entlassen sein? Ich habe mich im Hotel schwer verletzt
und da hat er den Auftrag bekommen, mich nach Hause zu schaffen, und
weil er gerade ohne Rock war, ist er eben ohne Rock mitgefahren. Ich
konnte nicht noch warten, bis er den Rock holt." "Nun
also", sagte Delamarche mit ausgebreiteten Armen, in einem Ton,
als werfe er dem Polizeimann Mangel an Menschenkenntnis vor, und
diese seine zwei Worte schienen in die Unbestimmtheit der Aussage
Robinsons eine widerspruchslose Klarheit zu bringen.
"Ist
das aber auch wahr?" fragte der Polizeimann schon schwächer.
"Und wenn es wahr ist, warum gibt der Junge vor entlassen zu
sein?" "Du sollst antworten", sagte Delamarche. Josie
sah den Polizeimann an, der hier zwischen fremden, nur auf sich
selbst bedachten Leuten Ordnung schaffen sollte und etwas von seinen
allgemeinen Sorgen ging auch auf Josie über. Er wollte nicht lügen
und hielt die Hände fest verschlungen auf dem Rücken.
Im
Tore erschien ein Aufseher und klatschte in die Hände, zum Zeichen,
dass die Gepäckträger wieder an ihre Arbeit gehen sollten. Sie
schütteten den Bodensatz aus ihren Kaffeetöpfen und zogen
verstummend mit schwankenden Schritten ins Haus. "So kommen wir
zu keinem Ende", sagte der Polizeimann und wollte Josie am Arm
fassen. Josie wich noch unwillkürlich ein wenig zurück, fühlte den
freien Raum, der sich ihm infolge des Abmarsches der Gepäckträger
eröffnet hatte, wandte sich um und setzte sich unter einigen großen
Anfangssprüngen in Lauf. Die Kinder brachen in einen einzigen Schrei
aus und liefen mit ausgestreckten Ärmchen paar Schritte mit. "Haltet
ihn!" rief der Polizeimann die lange, fast leere Gasse hinab und
lief unter gleichmäßigem Ausstoßen dieses Rufes in geräuschlosem,
große Kraft und Übung verratendem Lauf hinter Josie her. Es war ein
Glück für Josie, dass die Verfolgung in einem Arbeiterviertel
stattfand. Die Arbeiter halten es nicht mit den Behörden. Josie lief
mitten in der Fahrbahn, weil er dort die wenigsten Hindernisse hatte
und sah nun hier und da auf dem Trottoirrand Arbeiter stehen bleiben
und ihn ruhig beobachten, während der Polizeimann ihnen sein "Haltet
ihn!" zurief und in seinem Lauf, er hielt sich kluger Weise auf
dem glatten Trottoir, unaufhörlich den Stab gegen Josie hin
ausstreckte. Josie hatte wenig Hoffnung und verlor sie fast ganz, als
der Polizeimann nun, da sie sich Quergassen näherten, die gewiss
auch Polizeipatrouillen enthielten, geradezu betäubende Pfiffe
ausstieß. Josies Vorteil war lediglich seine leichte Kleidung, er
flog oder besser stürzte die sich immer mehr senkende Straße herab,
nur machte er zerstreut, infolge seiner Verschlafenheit, oft zu hohe,
zeitraubende und nutzlose Sprünge. Außerdem aber hatte der
Polizeimann sein Ziel ohne nachdenken zu müssen, immer vor Augen,
für Josie dagegen war der Lauf doch eigentlich Nebensache, er musste
nachdenken, unter verschiedenen Möglichkeiten auswählen, immer neu
sich entschließen. Sein etwas verzweifelter Plan war vorläufig, die
Quergassen zu vermeiden, da man nicht wissen konnte, was in ihnen
steckte, vielleicht würde er da geradewegs in eine Wachstube hinein
laufen; er wollte sich, solange es nur ging, an diese weithin
übersichtliche Straße halten, die erst tief unten in eine Brücke
auslief, die kaum begonnen in Wasser- und Sonnendunst verschwand.
Gerade wollte er sich nach diesem Entschluss zu schnellerem Lauf
zusammennehmen, um die erste Quergasse besonders eilig zu passieren,
da sah er nicht allzu weit vor sich einen Polizeimann lauernd an die
dunkle Mauer eines im Schatten liegenden Hauses gedrückt, bereit, im
richtigen Augenblick auf Josie los zu springen. Jetzt blieb keine
Hilfe, als die Quergasse, und als er gar aus dieser Gasse ganz
harmlos beim Namen gerufen wurde — es schien ihm zwar zuerst eine
Täuschung zu sein, denn ein Sausen hatte er schon die ganze Zeit
lang in den Ohren, zögerte er nicht mehr länger und bog, um die
Polizeileute möglichst zu überraschen, auf einem Fuß sich
schwenkend rechtwinklig in diese Gasse ein.
Kaum
war er zwei Sprünge weit gekommen — dass man seinen Namen gerufen
hatte, hatte er schon wieder vergessen, nun pfiff auch der zweite
Polizeimann, man merkte seine unverbrauchte Kraft, ferne Passanten in
dieser Quergasse schienen eine raschere Gangart anzunehmen — da
griff aus einer kleinen Haustüre eine Hand nach Josie und zog ihn
mit den Worten "Still sein" in einen dunklen Flur. Es war
Delamarche, ganz außer Atem, mit erhitzten Wangen, seine Haare
klebten ihm rings um den Kopf. Den Schlafrock trug er unter dem Arm
und war nur mit Hemd und Unterhose bekleidet. Die Türe, welche nicht
das eigentliche Haustor war, sondern nur einen unscheinbaren
Nebeneingang bildete, hatte er gleich geschlossen und versperrt.
"Einen Augenblick", sagte er dann, lehnte sich mit hoch
gehaltenem Kopf an die Wand und atmete schwer. Josie lag fast in
seinem Arm und drückte halb besinnungslos das Gesicht an seine
Brust. "Da laufen die Herren", sagte Delamarche und
streckte den Finger aufhorchend gegen die Tür. Wirklich liefen jetzt
die zwei Polizeileute vorbei, ihr Laufen klang in der leeren Gasse,
wie wenn Stahl gegen Stein geschlagen wird. "Du bist aber
ordentlich hergenommen", sagte Delamarche zu Josie, der noch
immer an seinem Atem würgte und kein Wort herausbringen konnte.
Delamarche setzte ihn vorsichtig auf den Boden, kniete neben ihm
nieder, strich ihm mehrmals über die Stirn und beobachtete ihn.
"Jetzt geht es schon", sagte endlich Josie und stand mühsam
auf. "Dann also los", sagte Delamarche, der seinen
Schlafrock wieder angezogen hatte und schob Josie, der noch vor
Schwäche den Kopf gesenkt hielt, vor sich her. Von Zeit zu Zeit
schüttelte er Josie, um ihn frischer zu machen. "Du willst müde
sein?" sagte er. "Du konntest doch im Freien laufen wie ein
Pferd, ich aber musste hier durch die verfluchten Gänge und Höfe
schleichen. Glücklicher Weise bin ich aber auch ein Läufer."
Vor Stolz gab er Josie einen weit ausgeholten Schlag auf den Rücken.
"Von Zeit zu Zeit ist ein solches Wettrennen mit der Polizei
eine gute Übung." "Ich war schon müde, wie ich zu laufen
anfing", sagte Josie. "Für schlechtes Laufen gibt es keine
Entschuldigung", sagte Delamarche. "Wenn ich nicht wäre,
hätten sie dich schon längst gefasst." "Ich glaube auch",
sagte Josie. "Ich bin Ihnen sehr verpflichtet." "Kein
Zweifel", sagte Delamarche.
Sie
gingen durch einen langen, schmalen Flurgang, der mit dunklen,
glatten Steinen gepflastert war. Hier und da öffnete sich rechts
oder links ein Treppenaufgang oder man erhielt einen Durchblick in
einen andern, größern Flur. Erwachsene waren kaum zu sehn, nur
Kinder spielten auf den leeren Treppen. An einem Geländer stand ein
kleines Mädchen und weinte, dass ihr vor Tränen das ganze Gesicht
glänzte. Kaum hatte sie Delamarche bemerkt, als sie mit offenem Mund
nach Luft schnappend die Treppe hinauf lief und sich erst hoch oben
beruhigte, als sie nach häufigem Umdrehn sich überzeugt hatte, dass
ihr niemand folge oder folgen wolle. "Die habe ich vor einem
Augenblick nieder gerannt", sagte Delamarche lachend und drohte
ihr mit der Faust, worauf sie schreiend weiter hinauf lief.
Auch
die Höfe, durch die sie kamen, waren fast gänzlich verlassen. Nur
hier und da schob ein Geschäftsdiener einen zweirädrigen Karren vor
sich her, eine Frau füllte an der Pumpe eine Kanne mit Wasser, ein
Briefträger durchquerte mit ruhigen Schritten den ganzen Hof, ein
alter Mann mit weißem Schnauzbart saß mit übergeschlagenen Beinen
vor einer Glastür und rauchte eine Pfeife, vor einem
Speditionsgeschäft wurden Kisten abgeladen, die unbeschäftigten
Pferde drehten gleichmütig die Köpfe, ein Mann in einem
Arbeitsmantel überwachte mit einem Papier in der Hand die ganze
Arbeit, in einem Büro war das Fenster geöffnet und ein
Angestellter, der an seinem Schreibpult saß, hatte sich von ihm
abgewendet und sah nachdenklich hinaus, wo gerade Josie und
Delamarche vorüber gingen.
"Eine
ruhigere Gegend kann man sich gar nicht wünschen", sagte
Delamarche. "Am Abend ist paar Stunden lang großer Lärm, aber
während des Tages geht es hier musterhaft zu." Josie nickte,
ihm schien die Ruhe zu groß zu sein. "Ich könnte gar nicht
anderswo wohnen", sagte Delamarche, "denn Brunelda verträgt
absolut keinen Lärm. Kennst du Brunelda? Nun, du wirst sie ja sehn.
Jedenfalls empfehle ich dir, dich möglichst still aufzuführen."
Als
sie zu der Treppe kamen, die zur Wohnung von Delamarche führte, war
das Automobil bereits weggefahren und der Bursche mit der
zerfressenen Nase meldete, ohne über Josies Wiedererscheinen
irgendwie zu staunen, er habe Robinson die Treppe hinauf getragen.
Delamarche nickte ihm bloß zu, als sei er sein Diener, der eine
selbstverständliche Pflicht erfüllt habe und zog Josie, der ein
wenig zögerte und auf die sonnige Straße sah, mit sich die Treppe
hinauf. "Wir sind gleich oben", sagte Delamarche einige
Male, während des Treppensteigens, aber seine Voraussage wollte sich
nicht erfüllen, immer wieder setzte sich an eine Treppe eine neue in
nur unmerklich veränderter Richtung an. Einmal blieb Josie sogar
stehn, nicht eigentlich vor Müdigkeit, aber vor Wehrlosigkeit
gegenüber dieser Treppenlänge. "Die Wohnung liegt ja sehr
hoch", sagte Delamarche, als sie weitergingen, "aber auch
das hat seine Vorteile. Man geht sehr selten aus, den ganzen Tag ist
man im Schlafrock, wir haben es sehr gemütlich. Natürlich kommen in
diese Höhe auch keine Besuche herauf." "Woher sollten denn
die Besuche kommen", dachte Josie.
Endlich
erschien auf einem Treppenabsatz Robinson vor einer geschlossenen
Wohnungstür und nun waren sie angelangt; die Treppe war noch nicht
einmal zu Ende, sondern führte im Halbdunkel weiter, ohne dass
irgendetwas auf ihren baldigen Abschluss hinzudeuten schien. "Ich
habe es mir ja gedacht", sagte Robinson leise, als bedrückten
ihn noch Schmerzen, "Delamarche bringt ihn! Rossmann, was wärest
du ohne Delamarche!" Robinson stand in Unterkleidung da und
suchte sich, nur so weit als es möglich war, in die kleine Bettdecke
einzuwickeln, die man ihm aus dem Hotel Occidental mitgegeben hatte;
es war nicht einzusehen, warum er nicht in die Wohnung ging, statt
hier vor möglicherweise vorüber kommenden Leuten sich lächerlich
zu machen. "Schläft sie?" fragte Delamarche. "Ich
glaube nicht", sagte Robinson, "aber ich habe doch lieber
gewartet, bis du kommst." "Zuerst müssen wir schauen, ob
sie schläft", sagte Delamarche und beugte sich zum
Schlüsselloch. Nachdem er lange, unter verschiedenartigen
Kopfdrehungen hindurch geschaut hatte, erhob er sich und sagte: "Man
sieht sie nicht genau, das Rollo ist herunter gelassen. Sie sitzt auf
dem Kanapee, vielleicht schläft sie." "Ist sie denn
krank?" fragte Josie, denn Delamarche stand da, als bitte er um
Rat. Nun aber fragte er in scharfem Tone zurück: "Krank?"
"Er kennt sie ja nicht", sagte Robinson entschuldigend.
Ein
paar Türen weiter waren zwei Frauen auf den Korridor getreten, sie
wischten die Hände an ihren Schürzen rein, sahen auf Delamarche und
Robinson und schienen sich über sie zu unterhalten. Aus einer Tür
sprang noch ein ganz junges Mädchen, mit glänzendem, blondem Haar
und schmiegte sich zwischen die zwei Frauen, indem es sich in ihre
Arme einhängte.
"Das
sind widerliche Weiber", sagte Delamarche leise, aber offenbar
nur aus Rücksicht auf die schlafende Brunelda, "nächstens
werde ich sie bei der Polizei anzeigen und werde für Jahre Ruhe von
ihnen haben. Schau nicht hin", zischte er dann Josie an, der
nichts Böses daran gefunden hatte, die Frauen anzuschauen, wenn man
nun schon einmal auf dem Gang auf das Erwachen Bruneldas warten
musste. Und ärgerlich schüttelte er den Kopf, als habe er von
Delamarche keine Ermahnungen anzunehmen und wollte, um dies noch
deutlicher zu zeigen, auf die Frauen zugehen, da hielt ihn aber
Robinson mit den Worten, "Rossmann, hüte dich", am Ärmel
zurück und Delamarche, schon durch Josie gereizt, wurde über ein
lautes Auflachen des Mädchens so wütend, dass er mit großem Anlauf
Arme und Beine werfend auf die Frauen zueilte, die jede in ihre Tür
wie weg geweht verschwanden. "So muss ich hier öfters die Gänge
reinigen", sagte Delamarche, als er mit langsamen Schritten
zurückkehrte; da erinnerte er sich an Josies Widerstand und sagte:
"Von dir aber erwarte ich ein ganz anderes Benehmen, sonst
könntest du mit mir schlechte Erfahrungen machen."
Da
rief aus dem Zimmer eine fragende Stimme in sanftem, müdem Tonfall:
"Delamarche?" "Ja", antwortete Delamarche und sah
freundlich die Tür an, "können wir eintreten?" "Oh
ja", hieß es und Delamarche öffnete, nachdem er noch die zwei
hinter ihm Wartenden mit einem Blick gestreift hatte, langsam die
Tür.
Man
trat in vollständiges Dunkel ein. Der Vorhang der Balkontüre —
ein Fenster war nicht vorhanden — war bis zum Boden herabgelassen
und wenig durchscheinend, außerdem aber trug die Überfüllung des
Zimmers mit Möbeln und herum hängenden Kleidern viel zur
Verdunkelung des Zimmers bei. Die Luft war dumpf und man roch
geradezu den Staub, der sich hier in Winkeln, die offenbar für jede
Hand unzugänglich waren, angesammelt hatte. Das erste, was Josie
beim Eintritt bemerkte, waren drei Kästen, die knapp hintereinander
aufgestellt waren.
Auf
dem Kanapee lag die Frau, die früher vom Balkon herunter geschaut
hatte. Ihr rotes Kleid hatte sich unten ein wenig verzogen und hing
in einem großen Zipfel bis auf den Boden, man sah ihre Beine fast
bis zu den Knien, sie trug dicke weiße Wollstrümpfe, Schuhe hatte
sie keine. "Das ist eine Hitze, Delamarche", sagte sie,
wendete das Gesicht von der Wand, hielt ihre Hand lässig in Schwebe
gegen Delamarche hin, der sie ergriff und küsste. Josie sah nur ihr
Doppelkinn an, das bei der Wendung des Kopfes auch mit rollte. "Soll
ich den Vorhang vielleicht hinauf ziehn lassen?" fragte
Delamarche. "Nur das nicht", sagte sie mit geschlossenen
Augen und wie verzweifelt, "dann wird es ja noch ärger."
Josie war zum Fußende des Kanapees getreten, um die Frau genauer
anzusehn, er wunderte sich über ihre Klagen, denn die Hitze war gar
nicht außerordentlich. "Warte, ich werde es dir ein wenig
bequemer machen", sagte Delamarche ängstlich, öffnete oben am
Hals paar Knöpfe und zog dort das Kleid auseinander, so dass der
Hals und der Ansatz der Brust frei wurden und ein zarter, gelblicher
Spitzensaum des Hemdes erschien. "Wer ist das", sagte die
Frau plötzlich und zeigte mit dem Finger auf Josie, "warum
starrt er mich so an?" "Du fängst bald an, dich nützlich
zu machen", sagte Delamarche und schob Josie beiseite, während
er die Frau mit den Worten beruhigte: "Es ist nur der Junge, den
ich zu deiner Bedienung mitgebracht habe." "Aber ich will
doch niemanden haben", rief sie, "warum bringst du mir
fremde Leute in die Wohnung." "Aber die ganze Zeit wünschst
du dir doch eine Bedienung", sagte Delamarche und kniete nieder;
auf dem Kanapee war trotz seiner großen Breite neben Brunelda nicht
der geringste Platz. "Ach, Delamarche", sagte sie, "du
verstehst mich nicht und verstehst mich nicht." "Dann
versteh ich dich also wirklich nicht", sagte Delamarche und nahm
ihr Gesicht zwischen beide Hände. "Aber es ist ja nichts
geschehn, wenn du willst, geht er augenblicklich fort." "Wenn
er schon einmal hier ist, soll er bleiben", sagte sie nun wieder
und Josie war ihr in seiner Müdigkeit für diese vielleicht gar
nicht freundlich gemeinten Worte so dankbar, dass er immer in
undeutlichen Gedanken an diese endlose Treppe, die er nun vielleicht
gleich wieder hätte abwärts steigen müssen, über den auf seiner
Decke friedlich schlafenden Robinson hinweg trat und trotz alles
ärgerlichen Händefuchtelns des Delamarche sagte: "Ich danke
Ihnen jedenfalls dafür, dass Sie mich ein wenig noch hier lassen
wollen. Ich habe wohl schon vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen,
dabei genug gearbeitet und verschiedene Aufregungen gehabt. Ich bin
schrecklich müde. Ich weiß gar nicht recht, wo ich bin. Wenn ich
aber ein paar Stunden geschlafen habe, können Sie mich ohne jede
sonstige Rücksichtnahme fort schicken und ich werde gerne gehn."
"Du kannst überhaupt hier bleiben", sagte die Frau und
fügte ironisch hinzu: "Platz haben wir ja im Überfluss, wie du
siehst." "Du musst also fort gehn", sagte Delamarche,
"wir können dich nicht brauchen." "Nein, er soll
bleiben", sagte die Frau nun wieder im Ernste. Und Delamarche
sagte zu Josie, wie in Ausführung dieses Wunsches: "Also, leg
dich schon irgendwo hin." "Er kann sich auf die Vorhänge
legen, aber er muss sich die Stiefel ausziehn, damit er nichts
zerreißt." Delamarche zeigte Josie den Platz, den sie meinte.
Zwischen der Türe und den drei Schränken war ein großer Haufen von
verschiedenartigsten Fenstervorhängen hingeworfen. Wenn man alle
regelmäßig zusammengefaltet, die schweren zu unterst und weiter
hinauf die leichtern gelegt und schließlich die verschiedenen in den
Haufen gesteckten Bretter und Holzringe herausgezogen hätte, so wäre
es ein erträgliches Lager geworden, so war es nur eine schaukelnde
und gleitende Masse, auf die sich aber Josie trotzdem augenblicklich
legte, denn zu besondern Schlafvorbereitungen war er zu müde und
musste sich auch mit Rücksicht auf seine Gastgeber hüten, viel
Umstände zu machen.
Er
war schon fast im eigentlichen Schlafe, da hörte er einen lauten
Schrei, erhob sich und sah Brunelda aufrecht auf dem Kanapee sitzen,
die Arme weit ausbreiten und Delamarche, der vor ihr kniete,
umschlingen. Josie, dem der Anblick peinlich war, lehnte sich wieder
zurück und versenkte sich in die Vorhänge zur Fortsetzung des
Schlafes. Dass er hier auch nicht zwei Tage aushalten würde, schien
ihm klar zu sein, desto nötiger aber war es, sich zuerst gründlich
auszuschlafen, um sich dann bei völligem Verstande schnell und
richtig entschließen zu können.
Aber
Brunelda hatte schon Josies vor Müdigkeit groß aufgerissene Augen,
die sie schon einmal erschreckt hatten, bemerkt und rief:
"Delamarche, ich halte es vor Hitze nicht aus, ich brenne, ich
muss mich ausziehn, ich muss baden, schick die Zwei aus dem Zimmer,
wohin du willst, auf den Gang, auf den Balkon, nur dass ich sie nicht
mehr sehe. Man ist in seiner eigenen Wohnung und immerfort gestört.
Wenn ich mit dir allein wäre, Delamarche. Ach, Gott, sie sind noch
immer da! Wie dieser unverschämte Robinson sich da in Gegenwart
einer Dame in seiner Unterkleidung streckt. Und wie dieser fremde
Junge, der mich vor einem Augenblick ganz wild angeschaut hat, sich
wieder gelegt hat, um mich zu täuschen. Nur weg mit ihnen,
Delamarche, sie sind mir eine Last, sie liegen mir auf der Brust,
wenn ich jetzt umkomme, ist es ihretwegen."
"Sofort
sind sie draußen, zieh dich nur schon aus", sagte Delamarche,
ging zu Robinson hin und schüttelte ihn mit dem Fuß, den er ihm auf
die Brust setzte. Gleichzeitig rief er Josie zu: "Rossmann,
aufstehn! Ihr müsst beide auf den Balkon! Und wehe euch, wenn ihr
früher hereinkommt, ehe man euch ruft! Und jetzt flink, Robinson,"
— dabei schüttelte er Robinson stärker, — "und du,
Rossmann, gib Acht, dass ich nicht auch über dich komme", dabei
klatschte er laut zweimal in die Hände. "Wie lang das dauert!"
rief Brunelda auf dem Kanapee, sie hatte beim Sitzen die Beine weit
auseinander gestellt, um ihrem übermäßig dicken Körper mehr Raum
zu verschaffen, nur mit größter Anstrengung, unter vielem Schnaufen
und häufigem Ausruhn, konnte sie sich so weit bücken, um ihre
Strümpfe am obersten Ende zu fassen und ein wenig herunter zu ziehn,
gänzlich ausziehn konnte sie sie nicht, das musste Delamarche
besorgen, auf den sie nun ungeduldig wartete.
Ganz
stumpf vor Müdigkeit war Josie von dem Haufen herunter gekrochen und
ging langsam zur Balkontüre, ein Stück Vorhangstoffes hatte sich
ihm um den Fuß gewickelt und er schleppte es gleichgültig mit. In
seiner Zerstreutheit sagte er sogar, als er an Brunelda vorüber
ging: "Ich wünsche gute Nacht, und wanderte dann an Delamarche
vorbei, der den Vorhang der Balkontüre ein wenig beiseite zog, auf
den Balkon hinaus. Gleich hinter Josie kam Robinson wohl nicht minder
schläfrig, denn er summte vor sich hin: "Immerfort malträtiert
man einen! Wenn Brunelda nicht mitkommt, gehe ich nicht auf den
Balkon." Aber trotz dieser Versicherung ging er ohne jeden
Widerstand heraus, wo er sich, da Josie schon in den Lehnstuhl
gesunken war, sofort auf den Steinboden legte.
Als
Josie erwachte, war es schon Abend, die Sterne standen schon am
Himmel, hinter den hohen Häusern der gegenüberliegenden
Straßenseite stieg der Schein des Mondes empor. Erst nach einigem
Umherschauen in der unbekannten Gegend, einigem Aufatmen in der
kühlen erfrischenden Luft, wurde sich Josie dessen bewusst, wo er
war. Wie unvorsichtig war er gewesen, alle Ratschläge der
Oberköchin, alle Warnungen Thereses, alle eigenen Befürchtungen
hatte er vernachlässigt, saß hier ruhig auf dem Balkon des
Delamarche und hatte hier gar den halben Tag verschlafen, als sei
nicht hier hinter dem Vorhang Delamarche, sein großer Feind. Auf dem
Boden wand sich der faule Robinson und zog Josie am Fuße, er schien
ihn auch auf diese Weise geweckt zu haben, denn er sagte: "Du
hast einen Schlaf, Rossmann! Das ist die sorglose Jugend. Wie lange
willst du denn noch schlafen. Ich hätte dich ja noch schlafen
lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden zu langweilig und
zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte dich, steh ein
wenig auf, ich habe da unten im Sessel drin etwas zum Essen
aufgehoben, ich möchte es gern herausziehen. Du bekommst dann auch
etwas." Und Josie, der aufstand, sah nun zu, wie Robinson, ohne
aufzustehen, sich auf den Bauch herüber wälzte und mit
ausgestreckten Händen unter dem Sessel eine versilberte Schale
hervor zog, wie sie etwa zum Aufbewahren von Visitenkarten dient. Auf
dieser Schale lag aber eine halbe, ganz schwarze Wurst, einige dünne
Zigaretten, eine geöffnete, aber noch gut gefüllte und von Öl
überfließende Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und
zu einem Ballen gewordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes
Stück Brot und eine Art Parfümflasche, die aber etwas anderes als
Parfüm zu enthalten schien, denn Robinson zeigte mit besonderer
Genugtuung auf sie und schnalzte zu Josie hinauf: "Siehst du,
Rossmann", sagte Robinson, während er Sardine nach Sardine
herunter schlang und hier und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch
reinigte, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte.
"Siehst du, Rossmann, so muss man sich sein Essen aufheben, wenn
man nicht verhungern will. Du, ich bin ganz bei Seite geschoben. Und
wenn man immerfort als Hund behandelt wird, denkt man schließlich,
man ists wirklich. Gut, dass du da bist, Rossmann, ich kann
wenigstens mit jemandem reden. Im Haus spricht ja niemand mit mir.
Wir sind verhasst. Und alles wegen der Brunelda. Sie ist ja natürlich
ein prächtiges Weib. Du—" und er winkte Josie zu sich herab,
um ihm zuzuflüstern — "ich habe sie einmal nackt gesehn. Oh!"
—Und in der Erinnerung an diese Freude fing er an, Josies Beine zu
drücken und zu schlagen, bis Josie ausrief: "Robinson, du bist
ja verrückt", seine Hände packte und zurück stieß.
"Du
bist eben noch ein Kind, Rossmann", sagte Robinson, zog einen
Dolch, den er an einer Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm
die Dolchkappe ab und zerschnitt die harte Wurst. "Du musst noch
viel zulernen. Bist aber bei uns an der richtigen Quelle. Setz dich
doch. Willst du nicht auch etwas essen. Nun vielleicht bekommst du
Appetit, wenn du mir zuschaust. Trinken willst du auch nicht? Du
willst aber rein gar nichts. Und gesprächig bist du gerade auch
nicht besonders. Aber es ist ganz gleichgültig, mit wem man auf dem
Balkon ist, wenn nur überhaupt jemand da ist. Ich bin nämlich sehr
oft auf dem Balkon. Das macht der Brunelda solchen Spaß. Es muss ihr
nur etwas einfallen, einmal ist ihr kalt, einmal heiß, einmal will
sie schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie das
Mieder öffnen, einmal will sie es anziehn, und da werde ich immer
auf den Balkon geschickt. Manchmal tut sie wirklich das, was sie
sagt, aber meistens liegt sie nur so wie früher auf dem Kanapee und
rührt sich nicht. Früher habe ich öfters den Vorhang so ein wenig
weggezogen und durchgeschaut, aber seitdem einmal Delamarche bei
einer solchen Gelegenheit — ich weiß genau, dass er es nicht
wollte, sondern es nur auf Bruneldas Bitte tat — mir mit der
Peitsche einige Male ins Gesicht geschlagen hat — siehst du den
Striemen? — wage ich nicht mehr durchzuschauen. Und so liege ich
dann hier auf dem Balkon und habe kein Vergnügen außer dem Essen.
Vorgestern, als ich da abends so allein gelegen bin, damals war ich
noch in meinen eleganten Kleidern, die ich leider in deinem Hotel
verloren habe — diese Hunde! Reißen einem die teuern Kleider vom
Leib! — als ich also da so allein gelegen bin und durch das
Geländer herunter geschaut habe, war mir alles so traurig und ich
habe zu heulen angefangen. Da ist zufällig, ohne dass ich es gleich
bemerkt habe, Brunelda zu mir herausgekommen, in dem roten Kleid —
das passt ihr doch von allen am besten —, hat mir ein wenig
zugeschaut und hat endlich gesagt: 'Robinsonerl, warum weinst du?'
Dann hat sie ihr Kleid gehoben und mir mit dem Saum die Augen
abgewischt. Wer weiß, was sie noch getan hätte, wenn da nicht
Delamarche nach ihr gerufen hätte und sie nicht sofort wieder ins
Zimmer hätte hineingehen müssen. Natürlich habe ich gedacht, jetzt
sei die Reihe an mir und habe durch den Vorhang gefragt, ob ich schon
ins Zimmer darf. Und was meinst du, hat Brunelda gesagt? 'Nein!' hat
sie gesagt und 'Was fällt dir ein?' hat sie gesagt."
"Warum
bleibst du denn hier, wenn man dich so behandelt?" fragte Josie.
"Verzeih,
Rossmann, du fragst nicht sehr gescheit", antwortete Robinson.
"Du wirst schon auch noch hier bleiben und wenn man dich noch
ärger behandelt. Übrigens behandelt man mich gar nicht so arg."
"Nein",
sagte Josie, "ich gehe bestimmt weg und womöglich noch heute
Abend. Ich bleibe nicht bei euch."
"Wie
willst du denn z.B. das anstellen, heute Abend weg zu gehn?"
fragte Robinson, der das Weiche aus dem Brot herausgeschnitten hatte
und sorgfältig in dem Öl der Sardinenbüchse tränkte. "Wie
willst du weg gehn, wenn du nicht einmal ins Zimmer hinein gehn
darfst."
"Warum
dürfen wir denn nicht hinein gehn?"
"Nun,
solange es nicht geläutet hat, dürfen wir nicht hinein gehn",
sagte Robinson, der mit möglichst weit geöffnetem Mund das fette
Brot verspeiste, während er mit einer Hand das vom Brot herab
tropfende Öl auffing, um von Zeit zu Zeit das noch übrige Brot in
diese als Reservoir dienende hohle Hand zu tauchen. "Es ist hier
alles strenger geworden. Zuerst war da nur ein dünner Vorhang, man
hat zwar nicht durchgesehn, aber am Abend hat man doch die Schatten
erkannt. Das war Brunelda unangenehm und da habe ich einen ihrer
Theatermäntel zu einem Vorhang umarbeiten und statt des alten
Vorhanges hier aufhängen müssen. Jetzt sieht man gar nichts mehr.
Dann habe ich früher immer fragen dürfen, ob ich schon hinein gehn
darf und man hat mir je nach den Umständen geantwortet, 'Ja' oder
'Nein', aber dann habe ich das wahrscheinlich zu sehr ausgenützt und
zu oft gefragt, Brunelda konnte das nicht ertragen — sie ist trotz
ihrer Dicke sehr schwach veranlagt, Kopfschmerzen hat sie oft und
Gicht in den Beinen fast immer — und so wurde bestimmt, dass ich
nicht mehr fragen darf, sondern dass, wenn ich hinein gehn kann, auf
die Tischglocke gedrückt wird. Das gibt ein solches Läuten, dass es
mich selbst aus dem Schlaf weckt — ich habe einmal eine Katze zu
meiner Unterhaltung hier gehabt, die ist vor Schrecken über dieses
Läuten weggelaufen und nicht mehr zurückgekommen. Also geläutet
hat es heute noch nicht — wenn es nämlich läutet, dann darf ich
nicht nur, sondern muss hinein gehn — und wenn es einmal so lange
nicht läutet, dann kann es noch sehr lange dauern."
"Ja",
sagte Josie, "aber was für dich gilt, muss doch noch nicht für
mich gelten. Überhaupt gilt so etwas nur für den, der es sich
gefallen lässt."
"Aber",
rief Robinson, "warum sollte denn das nicht auch für dich
gelten? Selbstverständlich gilt es auch für dich. Warte hier nur
ruhig mit mir, bis es läutet. Dann kannst du ja versuchen, ob du
wegkommst."
"Warum
gehst du denn eigentlich nicht fort von hier? Nur deshalb, weil
Delamarche dein Freund ist oder besser war? Ist denn das ein Leben?
Wäre es da nicht in Butterford besser, wohin ihr zuerst wolltet?
Oder gar in Kalifornien, wo du Freunde hast."
"Ja",
sagte Robinson, "das konnte niemand voraus sehn."
Und
ehe er weitererzählte, sagte er noch: "Auf dein Wohl, lieber
Rossmann", und nahm einen langen Zug aus der Parfümflasche.
"Wir waren ja damals, als du uns so gemein hast sitzen lassen,
sehr schlecht daran. Arbeit konnten wir an den ersten Tagen keine
bekommen, Delamarche übrigens wollte keine Arbeit, er hätte sie
schon bekommen, sondern schickte nur immer mich auf Suche und ich
habe kein Glück. Er hat sich nur so herumgetrieben, aber es war
schon fast Abend, da hatte er nur ein Damenportemonnaie mitgebracht,
es war zwar sehr schön, aus Perlen, jetzt hat er es Brunelda
geschenkt, aber es war fast nichts darin. Dann sagte er, wir sollten
in die Wohnungen betteln gehn, bei dieser Gelegenheit kann man
natürlich manches Brauchbare finden; wir sind also betteln gegangen
und ich habe, damit es besser aussieht, vor den Wohnungstüren
gesungen. Und wie schon Delamarche immer Glück hat, sind wir nur vor
der zweiten Wohnung gestanden, einer sehr reichen Wohnung im Parterre
und haben an der Tür der Köchin und dem Diener etwas vorgesungen,
da kommt die Dame, der diese Wohnung gehört, eben Brunelda, die
Treppe hinauf. Sie war vielleicht zu stark geschnürt und konnte die
paar Stufen gar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie ausgesehen
hat, Rossmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid und einen roten
Sonnenschirm gehabt. Zum Ablecken war sie. Zum Austrinken war sie.
Ach, Gott, ach, Gott, war sie schön. So ein Frauenzimmer! Nein, sag
mir nur, wie kann es so ein Frauenzimmer geben? Natürlich ist das
Mädchen und der Diener gleich ihr entgegengelaufen und haben sie
fast hinauf getragen. Wir sind rechts und links von der Tür
gestanden und haben salutiert, das macht man hier so. Sie ist ein
wenig stehen geblieben, weil sie noch immer nicht genug Atem hatte
und nun weiß ich nicht, wie das eigentlich geschehen ist, ich war
durch das Hungern nicht ganz bei Verstand und sie war eben in der
Nähe noch schöner und riesig breit und infolge eines besondern
Mieders, ich kann es dir dann im Kasten zeigen, überall so fest —
kurz, ich habe sie ein bisschen hinten angerührt, aber ganz leicht,
weißt du, nur so angerührt. Natürlich kann man das nicht dulden,
dass ein Bettler eine reiche Dame anrührt. Es war ja fast keine
Berührung, aber schließlich war es eben doch eine Berührung. Wer
weiß, wie schlimm das ausgefallen wäre, wenn mir nicht Delamarche
sofort eine Ohrfeige gegeben hätte und zwar eine solche Ohrfeige,
dass ich sofort meine beiden Hände für die Wange brauchte."
"Was
ihr getrieben habt", sagte Josie, von der Geschichte ganz
gefangen genommen und setzte sich auf den Boden. "Das war also
Brunelda?"
"Nun
ja", sagte Robinson, "das war Brunelda."
"Sagtest
du nicht einmal, dass sie eine Sängerin ist?" fragte Josie.
"Freilich
ist sie eine Sängerin und eine große Sängerin", antwortete
Robinson, der eine große Bonbonmasse auf der Zunge wälzte und hier
und da ein Stück, das aus dem Mund gedrängt wurde, mit den Fingern
wieder zurück drückte. "Aber das wussten wir natürlich damals
noch nicht, wir sahen nur, dass es eine reiche und sehr feine Dame
war. Sie tat, als wäre nichts geschehn und vielleicht hatte sie auch
nichts gespürt, denn ich hatte sie tatsächlich nur mit den
Fingerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sie Delamarche angesehen,
der ihr wieder — wie er das schön trifft — gerade in die Augen
zurückgeschaut hat. Darauf hat sie zu ihm gesagt: 'Komm mal auf ein
Weilchen herein' und hat mit dem Sonnenschirm in die Wohnung gezeigt,
wohin Delamarche ihr vorangehen sollte. Dann sind sie beide
hineingegangen und die Dienerschaft hat hinter ihnen die Türe
zugemacht. Mich haben sie draußen vergessen und da habe ich gedacht,
es wird nicht gar so lange dauern, und habe mich auf die Treppe
gesetzt, um Delamarche zu erwarten. Aber statt des Delamarche ist der
Diener herausgekommen und hat mir eine ganze Schüssel Suppe
herausgebracht, 'eine Aufmerksamkeit des Delamarche!' sagte ich mir.
Der Diener blieb noch, während ich aß, ein Weilchen bei mir stehen
und erzählte mir einiges über Brunelda und da habe ich gesehen, was
für eine Bedeutung der Besuch bei Brunelda für uns haben konnte.
Denn Brunelda war eine geschiedene Frau, hatte ein großes Vermögen
und war vollständig selbstständig. Ihr früherer Mann, ein
Kakaofabrikant, liebte sie zwar noch immer, aber sie wollte von ihm
nicht das Geringste hören.
Er
kam sehr oft in die Wohnung, immer sehr elegant, wie zu einer
Hochzeit, angezogen — das ist Wort für Wort wahr, ich kenne ihn
selbst — aber der Diener wagte trotz der größten Bestechung
nicht, Brunelda zu fragen, ob sie ihn empfangen wollte, denn er hatte
einige Mal schon gefragt und immer hatte ihm Brunelda das, was sie
gerade bei der Hand hatte, ins Gesicht geworfen. Einmal sogar ihre
große, gefüllte Wärmeflasche und mit der hatte sie ihm einen
Vorderzahn ausgeschlagen. Ja, Rossmann, da schaust du!"
"Woher
kennst du den Mann?" fragte Josie.
"Er
kommt manchmal auch herauf", sagte Robinson.
"Herauf?"
Josie schlug vor Staunen leicht mit der Hand auf den Boden.
"Du
kannst ruhig staunen", fuhr Robinson fort, "selbst ich habe
gestaunt, wie mir das der Diener damals erzählt hat. Denk nur, wenn
Brunelda nicht zuhause war, hat sich der Mann von dem Diener in ihre
Zimmer führen lassen und immer eine Kleinigkeit als Andenken
mitgenommen und immer etwas sehr Teueres und Feines für Brunelda
zurückgelassen und dem Diener streng verboten, zu sagen, von wem es
ist. Aber einmal, als er etwas — wie der Diener sagte und ich glaub
es — geradezu Unbezahlbares aus Porzellan mitgebracht hatte, muss
Brunelda es irgendwie erkannt haben, hat es sofort auf den Boden
geworfen, ist darauf herum getreten, hat es angespuckt und noch
einiges andere damit gemacht, so dass es der Diener vor Ekel kaum
heraus tragen konnte."
"Was
hat ihr denn der Mann getan?" fragte Josie.
"Das
weiß ich eigentlich nicht", sagte Robinson. "Ich glaube
aber, nichts Besonderes, wenigstens weiß er es selbst nicht. Ich
habe ja schon manchmal mit ihm darüber gesprochen. Er erwartet mich
täglich dort an der Straßenecke, wenn ich komme, so muss ich ihm
Neuigkeiten erzählen, kann ich nicht kommen, wartet er eine halbe
Stunde und geht dann wieder weg. Es war für mich ein guter
Nebenverdienst, denn er bezahlt die Nachrichten sehr vornehm, aber
seit Delamarche davon erfahren hat, muss ich ihm alles abliefern und
so geh ich seltener hin."
"Aber
was will der Mann haben?" fragte Josie, "was will er denn
nur haben? Er hört doch, sie will ihn nicht."
"Ja",
seufzte Robinson, zündete sich eine Zigarette an und blies unter
großen Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich
anders zu entschließen und sagte: "Was kümmert das mich? Ich
weiß nur, er möchte viel Geld dafür geben, wenn er so hier auf dem
Balkon liegen dürfte, wie wir."
Josie
stand auf, lehnte sich ans Geländer und sah auf die Straße
hinunter. Der Mond war schon sichtbar, in die Tiefe der Gasse drang
sein Licht aber noch nicht. Die am Tag so leere Gasse war besonders
vor den Haustoren gedrängt voll Menschen, alle waren in langsamer,
schwerfälliger Bewegung, die Hemdsärmel der Männer, die hellen
Kleider der Frauen hoben sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohne
Kopfbedeckung. Die vielen Balkone ringsherum waren nun insgesamt
besetzt, dort saßen beim Licht einer Glühlampe die Familien, je
nach der Größe des Balkons, um einen kleinen Tisch herum oder bloß
auf Sesseln in einer Reihe oder sie steckten wenigstens die Köpfe
aus dem Zimmer hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, die Füße
zwischen den Geländerstangen hinaus gestreckt, und lasen Zeitungen,
die fast bis auf den Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar
stumm, aber unter starken Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten
den Schoß voll Näharbeit und erübrigten nur hier und da einen
kurzen Blick für ihre Umgebung oder für die Straße, eine blonde,
schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnte immerfort,
verdrehte dabei die Augen und hob immer vor den Mund ein Wäschestück,
das sie gerade flickte; selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden
es die Kinder, einander zu jagen, was den Eltern sehr lästig fiel.
Im Innern vieler Zimmer waren Grammofone aufgestellt und bliesen
Gesang oder Orchestralmusik hervor; man kümmerte sich nicht
besonders um diese Musik, nur hier und da gab der Familienvater einen
Wink und irgendjemand eilte ins Zimmer hinein, um eine neue Platte
einzulegen. An manchen Fenstern sah man vollständig bewegungslose
Liebespaare, an einem Fenster Josie gegenüber stand ein solches Paar
aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und
drückte mit der Hand ihre Brust.
"Kennst
du jemanden von den Leuten hier nebenan?" fragte Josie Robinson,
der nun auch aufgestanden war und weil es ihn fröstelte, außer der
Bettdecke auch noch die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.
"Fast
niemanden. Das ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung",
sagte Robinson und zog Josie näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern
zu können, "sonst hätte ich mich augenblicklich nicht gerade
zu beklagen. Brunelda hat ja wegen Delamarche alles, was sie hatte,
verkauft und ist mit allen ihren Reichtümern hierher in diese
Vorstadtwohnung gezogen, damit sie sich ihm ganz widmen kann und
damit sie niemand stört, übrigens war das auch der Wunsch von
Delamarche."
"Und
die Dienerschaft hat sie entlassen?" fragte Josie. "Ganz
richtig", sagte Robinson. "Wo sollte man auch die
Dienerschaft hier unterbringen? Diese Diener sind ja sehr
anspruchsvolle Herren. Einmal hat Delamarche bei Brunelda einen
solchen Diener einfach mit Ohrfeigen aus dem Zimmer getrieben, da ist
eine nach der andern geflogen, bis der Mann draußen war. Natürlich
haben die andern Diener sich mit ihm vereinigt und vor der Tür Lärm
gemacht, da ist Delamarche herausgekommen, ich war damals nicht
Diener, sondern Hausfreund, aber doch war ich mit den Dienern
beisammen, und hat gefragt: 'Was wollt ihr?' Der älteste Diener, ein
gewisser Isidor, hat daraufhin gesagt: 'Sie haben mit uns nichts zu
reden, unsere Herrin ist die gnädige Frau.' Wie du wahrscheinlich
merkst, haben sie Brunelda sehr verehrt. Aber Brunelda ist, ohne sich
um sie zu kümmern, zu Delamarche gelaufen, sie war damals doch noch
nicht so schwer wie jetzt, hat ihn vor allen umarmt, geküsst und
'liebster Delamarche' genannt. 'Und schick doch schon diese Affen
weg', hat sie endlich gesagt. Affen — das sollten die Diener sein,
stell dir die Gesichter vor, die sie da machten. Dann hat Brunelda
die Hand von Delamarche zu ihrer Geldtasche hingezogen, die sie am
Gürtel trug, Delamarche hat hinein gegriffen und also angefangen,
die Diener auszuzahlen; Brunelda hat sich nur dadurch an der
Auszahlung beteiligt, dass sie mit der offenen Geldtasche im Gürtel
dabei gestanden ist. Delamarche musste oft hinein greifen, denn er
verteilte das Geld, ohne zu zählen, und ohne die Forderungen zu
prüfen. Schließlich sagte er: Da ihr also mit mir nicht reden
wollt, sage ich euch nur im Namen Bruneldas: 'Packt euch, aber
sofort.' So sind sie entlassen worden, es gab dann noch einige
Prozesse, Delamarche musste sogar einmal zum Gericht, aber davon weiß
ich nichts Genaueres. Nur gleich nach dem Abschied der Diener hat
Delamarche zu Brunelda gesagt: 'Jetzt hast du also keine
Dienerschaft?' Sie hat gesagt: 'Aber da ist ja Robinson.' Daraufhin
hat Delamarche gesagt und hat mir dabei einen Schlag auf die Achsel
gegeben: 'Also gut, du wirst unser Diener sein.' Und Brunelda hat mir
dann auf die Wange geklopft; wenn sich die Gelegenheit findet,
Rossmann, lass dir auch einmal von ihr auf die Wangen klopfen, du
wirst staunen, wie schön das ist."
"Du
bist also der Diener von Delamarche geworden?" sagte Josie
zusammenfassend.
Robinson
hörte das Bedauern aus der Frage heraus und antwortete: "Ich
bin Diener, aber das bemerken nur wenige Leute. Du siehst, du selbst
wusstest es nicht, trotzdem du doch schon ein Weilchen bei uns bist.
Du hast ja gesehen, wie ich in der Nacht bei euch im Hotel angezogen
war. Das Feinste vom Feinen hatte ich an, gehen Diener so angezogen?
Nur ist eben die Sache die, dass ich nicht oft weggehen darf, ich
muss immer bei der Hand sein, in der Wirtschaft ist eben immer etwas
zu tun. Eine Person ist eben zu wenig für die viele Arbeit. Wie du
vielleicht bemerkt hast, haben wir sehr viele Sachen im Zimmer
herumstehen; was wir eben bei dem großen Auszug nicht verkaufen
konnten, haben wir mitgenommen. Natürlich hätte man es wegschenken
können, aber Brunelda schenkt nichts weg. Denk dir nur, welche
Arbeit es gegeben hat, diese Sachen die Treppe herauf zu tragen."
"Robinson,
du hast das alles herauf getragen?" rief Josie.
"Wer
denn sonst?" sagte Robinson. "Es war noch ein Hilfsarbeiter
da, ein faules Luder, ich habe die meiste Arbeit allein machen
müssen. Brunelda ist unten beim Wagen gestanden, Delamarche hat oben
angeordnet, wohin die Sachen zu legen sind und ich bin immerfort hin
und hergelaufen. Es hat zwei Tage gedauert, sehr lange, nicht wahr?
Aber du weißt ja gar nicht, wie viel Sachen hier im Zimmer sind,
alle Kästen sind voll und hinter den Kästen ist alles voll
gestopft, bis zur Decke hinauf. Wenn man ein paar Leute für den
Transport aufgenommen hätte, wäre ja alles bald fertig gewesen,
aber Brunelda wollte es niemandem außer mir anvertrauen. Das war ja
sehr schön, aber ich habe damals meine Gesundheit für mein ganzes
Leben verdorben, und was habe ich denn sonst gehabt, als meine
Gesundheit. Wenn ich mich nur ein wenig anstrenge, sticht es mich
hier und hier und hier. Glaubst du, diese Jungen im Hotel, diese
Grasfrösche — was sind sie denn sonst? — hätten mich jemals
besiegen können, wenn ich gesund wäre. Aber was mir auch fehlen
sollte, Delamarche und Brunelda sage ich kein Wort, ich werde
arbeiten, solange es gehen wird, und bis es nicht mehr gehen wird,
werde ich mich hinlegen und sterben und dann erst, zu spät, werden
sie sehen, dass ich krank gewesen bin und trotzdem immerfort und
immerfort weitergearbeitet und mich in ihren Diensten zu Tode
gearbeitet habe. Ach, Rossmann", sagte er schließlich und
trocknete die Augen an Josies Hemdsärmel. Nach einem Weilchen sagte
er: "Ist dir denn nicht kalt, du stehst da so im Hemd."
"Geh,
Robinson", sagte Josie, "immerfort weinst du. Ich glaube
nicht, dass du so krank bist. Du siehst ganz gesund aus, aber weil du
immerfort da auf dem Balkon liegst, hast du dir so Verschiedenes
ausgedacht. Du hast vielleicht manchmal einen Stich in der Brust, das
habe ich auch, das hat jeder. Wenn alle Menschen wegen jeder
Kleinigkeit so weinen wollten, wie du, müssten da die Leute auf
allen Balkonen weinen."
"Ich
weiß es besser", sagte Robinson und wischte nun die Augen mit
dem Zipfel seiner Decke. "Der Student, der nebenan bei der
Vermieterin wohnt, die auch für uns kochte, hat mir letzthin, als
ich das Essgeschirr zurück brachte, gesagt: 'Hören Sie einmal,
Robinson, sind Sie nicht krank?' Mir ist verboten, mit den Leuten zu
reden und so habe ich nur das Geschirr hingelegt und wollte weggehen.
Da ist er zu mir gegangen und hat gesagt: 'Hören Sie, Mann, treiben
Sie die Sache nicht zum Äußersten, Sie sind krank.' 'Ja also, ich
bitte, was soll ich denn machen', habe ich gefragt. 'Das ist ihre
Sache', hat er gesagt und hat sich umgedreht. Die andern dort bei
Tisch haben gelacht, wir haben ja hier überall Feinde und so bin ich
lieber weggegangen."
"Also
Leuten, die dich zum Narren halten, glaubst du und Leuten, die es mit
dir gut meinen, glaubst du nicht."
"Aber
ich muss doch wissen, wie mir ist", fuhr Robinson auf, kehrte
aber gleich wieder zum Weinen zurück.
"Du
weißt eben nicht, was dir fehlt, du solltest irgendeine ordentliche
Arbeit für dich suchen, statt hier den Diener des Delamarche zu
machen. Denn so weit ich nach deinen Erzählungen und nach dem, was
ich selbst gesehen habe, urteilen kann, ist das hier kein Dienst,
sondern eine Sklaverei. Das kann kein Mensch ertragen, das glaube ich
dir. Du aber denkst, weil du der Freund von Delamarche bist, darfst
du ihn nicht verlassen. Das ist falsch, wenn er nicht einsieht, was
für ein elendes Leben du führst, so hast du ihm gegenüber nicht
die geringsten Verpflichtungen mehr."
"Du
glaubst also wirklich, Rossmann, dass ich mich wieder erholen werde,
wenn ich das Dienen hier aufgebe."
"Gewiss",
sagte Josie.
"Gewiss?"
fragte nochmals Robinson.
"Ganz
gewiss", sagte Josie lächelnd.
"Dann
könnte ich ja gleich anfangen, mich zu erholen", sagte Robinson
und sah Josie an.
"Wieso
denn?" fragte dieser.
"Nun,
weil du doch meine Arbeit hier übernehmen sollst", antwortete
Robinson.
"Wer
hat dir denn das gesagt?" fragte Josie.
"Das
ist doch ein alter Plan. Davon wird ja schon seit einigen Tagen
gesprochen. Es hat damit angefangen, dass Brunelda mich ausgezankt
hat, weil ich die Wohnung nicht genug sauber halte. Natürlich habe
ich versprochen, dass ich alles gleich in Ordnung bringen werde. Nun
ist das aber sehr schwer. Ich kann z.B. in meinem Zustand nicht
überall hin kriechen, um den Staub weg zu wischen, man kann sich
schon in der Mitte des Zimmers nicht rühren, wie erst dort zwischen
den Möbeln und den Vorräten. Und wenn man alles genau reinigen
will, muss man doch auch die Möbel von ihrem Platz weg schieben und
das soll ich allein machen? Außerdem müsste das alles ganz leise
geschehen, weil doch Brunelda, die ja das Zimmer kaum verlässt,
nicht gestört werden darf. Ich habe also zwar versprochen, dass ich
alles rein machen werde, aber rein gemacht habe ich es tatsächlich
nicht. Als Brunelda das bemerkt hat, hat sie zu Delamarche gesagt,
dass das nicht so weiter geht und dass man noch eine Hilfskraft wird
aufnehmen müssen. 'Ich will nicht, Delamarche', hat sie gesagt,
'dass du mir einmal Vorwürfe machst, ich hätte die Wirtschaft nicht
gut geführt. Selbst kann ich mich nicht anstrengen, das siehst du
doch ein und Robinson genügt nicht, am Anfang war er so frisch und
hat sich überall umgesehn, aber jetzt ist er immerfort müde und
sitzt meist in einem Winkel. Aber ein Zimmer, mit so viel
Gegenständen wie das unsrige, hält sich nicht selbst in Ordnung.'
Daraufhin hat Delamarche nachgedacht, was sich da tun ließe, denn
eine beliebige Person kann man natürlich nicht in einen solchen
Haushalt aufnehmen, auch zur Probe nicht, denn man passt uns ja von
allen Seiten auf. Weil ich aber dein guter Freund bin und von Renell
gehört habe, wie du dich im Hotel plagen musst, habe ich dich in
Vorschlag gebracht. Delamarche war gleich einverstanden, trotzdem du
damals gegen ihn dich so keck benommen hast und ich habe mich
natürlich sehr gefreut, dass ich dir so nützlich sein konnte. Für
dich ist nämlich diese Stellung wie geschaffen, du bist jung, stark
und geschickt, während ich nichts mehr wert bin. Nur will ich dir
sagen, dass du noch keineswegs aufgenommen bist; wenn du Brunelda
nicht gefällst, können wir dich nicht brauchen. Also strenge dich
nur an, dass du ihr angenehm bist, für das Übrige werde ich schon
sorgen."
"Und
was wirst du machen, wenn ich hier Diener sein werde?" fragte
Josie, er fühlte sich so frei, der erste Schrecken, den ihm die
Mitteilungen Robinsons verursacht hatten, war vorüber. Delamarche
hatte also keine schlimmeren Absichten mit ihm, als ihn zum Diener zu
machen, — hätte er schlimmere Absichten gehabt, dann hätte sie
der plapperhafte Robinson gewiss verraten — wenn es aber so stand,
dann getraute sich Josie, noch heute Nacht den Abschied
durchzuführen. Man kann niemanden zwingen, einen Posten anzunehmen.
Und während Josie früher genug Sorgen gehabt hatte, ob er nach
seiner Entlassung aus dem Hotel genügend bald, um vor Hunger
geschützt zu sein, einen passenden und womöglich nicht
unansehnlichen Posten bekommen werde, schien ihm jetzt im Vergleich
zu dem ihm hier zugedachten Posten, der ihm widerlich war, jeder
andere Posten gut genug, und selbst die stellungslose Not hätte er
diesem Posten vorgezogen. Robinson das aber begreiflich zu machen,
versuchte er gar nicht, besonders da Robinson jetzt in jedem Urteil
durch die Hoffnung völlig befangen war, von Josie entlastet zu
werden.
"Ich
werde also", sagte Robinson und begleitete die Rede mit
behaglichen Handbewegungen — die Ellenbogen hatte er auf das
Geländer aufgestützt, — "zunächst dir alles erklären und
die Vorräte zeigen. Du bist gebildet und hast sicher eine schöne
Schrift, du könntest also gleich ein Verzeichnis aller der Sachen
machen, die wir da haben. Das hat sich Brunelda schon längst
gewünscht. Wenn morgen Vormittag schönes Wetter ist, werden wir
Brunelda bitten, dass sie sich auf den Balkon setzt und inzwischen
werden wir ruhig und ohne sie zu stören, im Zimmer arbeiten können.
Denn darauf, Rossmann, musst du vor allem Acht geben. Nur nicht
Brunelda stören. Sie hört alles, wahrscheinlich hat sie als
Sängerin so empfindliche Ohren. Du rollst z.B. das Fass mit Schnaps,
das hinter den Kästen steht, heraus, es macht ja Lärm, weil es
schwer ist und dort überall verschiedene Sachen herumliegen, so dass
man es nicht mit einem Mal durchrollen kann. Brunelda liegt z.B.
ruhig auf dem Kanapee und fängt Fliegen, die sie überhaupt sehr
belästigen. Du glaubst also, sie kümmert sich um dich nicht und
rollst dein Fass weiter. Sie liegt noch immer ruhig. Aber in einem
Augenblick, wo du es gar nicht erwartest und wo du am wenigsten Lärm
machst, setzt sie sich plötzlich aufrecht, schlägt mit beiden
Händen auf das Kanapee, dass man sie vor Staub nicht sieht — seit
wir hier sind, habe ich das Kanapee nicht ausgeklopft, ich kann ja
nicht, sie liegt doch immerfort darauf — und fängt schrecklich zu
schreien an, wie ein Mann, und schreit so stundenlang. Das Singen
haben ihr die Nachbarn verboten, das Schreien aber kann ihr niemand
verbieten, sie muss schreien, übrigens geschieht es ja jetzt nur
selten, ich und Delamarche sind sehr vorsichtig geworden. Es hat ihm
ja auch sehr geschadet. Einmal ist sie ohnmächtig geworden und ich
habe — Delamarche war gerade weg — den Studenten von nebenan
holen müssen, der hat sie aus einer großen Flasche mit einer
Flüssigkeit bespritzt, es hat auch geholfen, aber diese Flüssigkeit
hat einen unerträglichen Geruch gehabt, noch jetzt, wenn man die
Nase zum Kanapee hält, riecht man es. Der Student ist sicher unser
Feind, wie alle hier, du musst dich auch vor allen in Acht nehmen,
und dich mit keinem einlassen."
"Du,
Robinson", sagte Josie, "das ist aber ein schwerer Dienst.
Da hast du mich für einen schönen Posten empfohlen."
"Mach
dir keine Sorgen", sagte Robinson und schüttelte mit
geschlossenen Augen den Kopf, um alle möglichen Sorgen Josies
abzuwehren, "der Posten hat auch Vorteile, wie sie dir kein
anderer Posten bieten kann. Du bist immerfort in der Nähe einer
Dame, wie Brunelda eine ist, du schläfst manchmal mit ihr im
gleichen Zimmer, das bringt schon, wie du dir denken kannst,
verschiedene Annehmlichkeiten mit sich. Du wirst reichlich bezahlt
werden, Geld ist in Menge da, ich habe als Freund des Delamarche
nichts bekommen, nur wenn ich ausgegangen bin, hat mir Brunelda immer
etwas mitgegeben, aber du wirst natürlich bezahlt werden, wie ein
anderer Diener. Du bist ja auch nichts anderes. Das Wichtigste für
dich aber ist, dass ich dir den Posten sehr erleichtern werde.
Zunächst werde ich natürlich nichts machen, damit ich mich erhole,
aber wie ich nur ein wenig erholt bin, kannst du auf mich rechnen.
Die eigentliche Bedienung Bruneldas behalte ich überhaupt für mich,
also das Frisieren und Anziehn, so weit es nicht Delamarche besorgt.
Du wirst dich nur um das Aufräumen des Zimmers, um Besorgungen und
die schwereren häuslichen Arbeiten zu kümmern haben."
"Nein,
Robinson", sagte Josie, "das alles verlockt mich nicht."
"Mach
keine Dummheiten, Rossmann", sagte Robinson, ganz nahe an Josies
Gesicht, "verscherze dir nicht diese schöne Gelegenheit. Wo
bekommst du denn gleich einen Posten? Wer kennt dich? Wen kennst du?
Wir, zwei Männer, die schon viel erlebt haben und große Erfahrung
besitzen, sind wochenlang herumgelaufen, ohne Arbeit zu bekommen. Es
ist nicht leicht, es ist sogar verzweifelt schwer."
Josie
nickte und wunderte sich, wie vernünftig Robinson auch sprechen
konnte. Für ihn hatten diese Ratschläge allerdings keine Geltung,
er durfte hier nicht bleiben, in der großen Stadt würde sich wohl
ein Plätzchen noch für ihn finden, die ganze Nacht über, das
wusste er, waren alle Gasthäuser überfüllt, man brauchte Bedienung
für die Gäste, darin hatte er nun schon Übung, er würde sich
schon rasch und unauffällig in irgendeinen Betrieb einfügen. Gerade
im gegenüberliegenden Hause war unten ein kleines Gasthaus
untergebracht, aus dem eine rauschende Musik hervor drang. Der
Haupteingang war nur mit einem großen, gelben Vorhang verdeckt, der
manchmal von einem Luftzug bewegt mächtig in die Gasse hinaus
flatterte. Sonst war es in der Gasse freilich viel stiller geworden.
Die meisten Balkone waren finster, nur in der Ferne fand sich noch
hier oder dort ein einzelnes Licht, aber kaum fasste man es für ein
Weilchen ins Auge, erhoben sich dort die Leute und während sie in
die Wohnung zurückdrängten, griff ein Mann an die Glühlampe und
drehte, als Letzter auf dem Balkon zurückbleibend, nach einem kurzen
Blick auf die Gasse das Licht aus.
"Nun
beginnt ja schon die Nacht", sagte sich Josie, "bleibe ich
noch länger hier, gehöre ich schon zu ihnen." Er drehte sich
um, um den Vorhang vor der Wohnungstür wegzuziehen. "Was willst
du?" sagte Robinson und stellte sich zwischen Josie und den
Vorhang. "Weg will ich", sagte Josie, "lass mich, lass
mich!" "Du willst sie doch nicht stören", rief
Robinson, "was fällt dir denn nur ein." Und er legte Josie
die Arme um den Hals, hing sich mit seiner ganzen Last an ihn,
umklammerte mit den Beinen Josies Beine und zog ihn so im Augenblick
auf die Erde nieder. Aber Josie hatte unter den Liftjungen ein wenig
raufen gelernt und so stieß er Robinson die Faust unter das Kinn,
aber schwach und voll Schonung. Der gab Josie noch rasch und ganz
rücksichtslos mit dem Knie einen vollen Stoß in den Bauch, fing
dann aber, beide Hände am Kinn, so laut zu heulen an, dass von dem
benachbarten Balkon ein Mann unter wildem Händeklatschen "Ruhe"
befahl. Josie lag noch ein wenig still, um den Schmerz, den ihm der
Stoß Robinsons verursacht hatte, zu verwinden. Er wendete nur das
Gesicht zum Vorhang hin, der ruhig und schwer vor dem offenbar
dunklen Zimmer hing. Es schien ja niemand mehr im Zimmer zu sein,
vielleicht war Delamarche mit Brunelda ausgegangen und Josie hatte
schon völlige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein
Wächterhund benahm, war ja endgültig abgeschüttelt.
Da
ertönten aus der Ferne, von der Gasse her stoßweise Trommeln und
Trompeten. Einzelne Rufe vieler Leute sammelten sich bald zu einem
allgemeinen Schreien. Josie drehte den Kopf und sah wie sich alle
Balkone von neuem belebten. Langsam erhob er sich, er konnte sich
nicht ganz aufrichten und musste sich schwer gegen das Geländer
drücken. Unten auf den Trottoiren marschierten junge Burschen mit
großen Schritten, ausgestreckten Armen, die Mützen in der erhobenen
Hand, die Gesichter zurück gewendet. Die Fahrbahn blieb noch frei.
Einzelne schwenkten auf hohen Stangen Lampione, die von einem
gelblichen Rauch umhüllt waren. Gerade traten die Trommler und
Trompeter in breiten Reihen ans Licht und Josie staunte über ihre
Menge, da hörte er hinter sich Stimmen, drehte sich um und sah
Delamarche den schweren Vorhang heben und dann aus dem Zimmerdunkel
Brunelda treten, im roten Kleid, mit einem Spitzenüberwurf um die
Schultern, einem dunklen Häubchen über dem wahrscheinlich
unfrisierten und bloß aufgehäuften Haar, dessen Enden hier und da
hervor sahen. In der Hand hielt sie einen kleinen, ausgespannten
Fächer, bewegte ihn aber nicht, sondern drückte ihn eng an sich.
Josie
schob sich am Geländer entlang zur Seite, um den beiden Platz zu
machen. Gewiss würde ihn niemand zum Hierbleiben zwingen und wenn es
auch Delamarche versuchen sollte, Brunelda würde ihn auf seine Bitte
sofort entlassen. Sie konnte ihn ja gar nicht leiden, seine Augen
erschreckten sie. Aber als er einen Schritt zur Tür hin machte,
hatte sie es doch bemerkt und sagte: "Wohin denn, Kleiner?"
Josie stockte vor den strengen Blicken Delamarches und Brunelda zog
ihn zu sich. "Willst du dir denn nicht den Aufzug unten ansehn?"
sagte sie und schob ihn vor sich an das Geländer. "Weißt du,
um was es sich handelt?" hörte sie Josie hinter sich sagen und
machte ohne Erfolg eine unwillkürliche Bewegung, um sich ihrem Druck
zu entziehen. Traurig sah er auf die Gasse hinunter, als sei dort der
Grund seiner Traurigkeit.
Delamarche
stand zuerst mit gekreuzten Armen hinter Brunelda, dann lief er ins
Zimmer und brachte Brunelda den Operngucker. Unten war hinter den
Musikanten der Hauptteil des Aufzuges erschienen. Auf den Schultern
eines riesenhaften Mannes saß ein Herr, von dem man in dieser Höhe
nichts anderes sah, als seine matt schimmernde Glatze, über der er
seinen Zylinderhut ständig grüßend hoch erhoben hielt. Rings um
ihn wurden offenbar Holztafeln getragen, die vom Balkon aus gesehen
ganz weiß erschienen; die Anordnung war derartig getroffen, dass
diese Plakate von allen Seiten sich förmlich an den Herrn anlehnten,
der aus ihrer Mitte hoch hervorragte. Da alles im Gange war, lockerte
sich diese Mauer von Plakaten immerfort und ordnete sich auch
immerfort von Neuem. Im weitern Umkreis war um den Herrn die ganze
Breite der Gasse, wenn auch, so weit man im Dunkel schätzen konnte,
auf eine unbedeutende Länge hin, von Anhängern des Herrn angefüllt,
die sämtlich in die Hände klatschten und wahrscheinlich den Namen
des Herrn, einen ganz kurzen, aber unverständlichen Namen, in einem
getragenen Gesange verkündeten. Einzelne, die geschickt in der Menge
verteilt waren, hatten Automobillaternen mit äußerst starkem Licht,
das sie die Häuser auf beiden Seiten der Straße langsam auf- und
abwärts führten. In Josies Höhe störte das Licht nicht mehr, aber
auf den unteren Balkonen sah man die Leute, die davon bestrichen
wurden, eiligst die Hände an die Augen führen.
Delamarche
erkundigte sich auf die Bitte Bruneldas bei den Leuten auf dem
Nachbarbalkon, was die Veranstaltung zu bedeuten habe. Josie war ein
wenig neugierig, ob und wie man ihm antworten würde. Und tatsächlich
musste Delamarche dreimal fragen, ohne eine Antwort zu bekommen. Er
beugte sich schon gefährlich über das Geländer, Brunelda stampfte
vor Ärger über die Nachbarn leicht auf, Josie fühlte ihr Knie.
Endlich kam doch irgendeine Antwort, aber gleichzeitig fingen auf
diesem Balkon, der gedrängt voll Menschen war, alle laut zu lachen
an. Daraufhin schrie Delamarche etwas hinüber, so laut, dass, wenn
nicht augenblicklich in der ganzen Gasse viel Lärm gewesen wäre,
alles ringsherum erstaunt hätte aufhorchen müssen. Jedenfalls hatte
es die Wirkung, dass das Lachen unnatürlich bald sich legte.
"Es
wird morgen ein Richter in unserem Bezirk gewählt und der, den sie
unten tragen, ist ein Kandidat", sagte Delamarche, vollkommen
ruhig zu Brunelda zurückkehrend. "Nein!" rief er dann und
klopfte liebkosend Brunelda auf den Rücken, "wir wissen schon
gar nicht mehr, was in der Welt vorgeht."
"Delamarche",
sagte Brunelda, auf das Benehmen der Nachbarn zurückkommend, "wie
gern wollte ich übersiedeln, wenn es nicht so anstrengend wäre. Ich
darf es mir aber leider nicht zutrauen." Und unter großen
Seufzern, unruhig und zerstreut, nestelte sie an Josies Hemd, der
möglichst unauffällig immer wieder diese kleinen, fetten Händchen
weg zu schieben suchte, was ihm auch leicht gelang, denn Brunelda
dachte nicht an ihn, sie war mit ganz anderen Gedanken beschäftigt.
Aber
auch Josie vergaß bald Brunelda und duldete die Last ihrer Arme auf
seinen Achseln, denn die Vorgänge auf der Straße nahmen ihn sehr in
Anspruch. Auf Anordnung einer kleinen Gruppe gestikulierender Männer,
die knapp vor dem Kandidaten marschierten und deren Unterhaltungen
eine besondere Bedeutung haben mussten, denn von allen Seiten sah man
lauschende Gesichter sich ihnen zuneigen, wurde unerwarteterweise vor
dem Gasthaus Halt gemacht. Einer dieser maßgebenden Männer machte
mit erhobener Hand ein Zeichen, das sowohl der Menge als auch dem
Kandidaten galt. Die Menge verstummte und der Kandidat, der sich auf
den Schultern seines Trägers mehrmals aufzustellen suchte und
mehrmals in den Sitz zurück fiel, hielt eine kleine Rede, während
welcher er seinen Zylinder in Windeseile hin- und herfahren ließ.
Man sah das ganz deutlich, denn während seiner Rede waren alle
Automobillaternen auf ihn gerichtet worden, so dass er in der Mitte
eines hellen Sternes sich befand.
Nun
erkannte man aber auch schon das Interesse, welches die ganze Straße
an der Angelegenheit nahm. Auf den Balkonen, die von Parteigängern
des Kandidaten besetzt waren, fiel man mit in das Singen seines
Namens ein und ließ die weit über das Geländer vorgestreckten
Hände maschinenmäßig klatschen. Auf den übrigen Balkonen, die
sogar in der Mehrzahl waren, erhob sich ein starker Gegengesang, der
allerdings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich um die
Anhänger verschiedener Kandidaten handelte. Dagegen verbanden sich
weiterhin alle Feinde des anwesenden Kandidaten zu einem allgemeinen
Pfeifen und sogar Grammofone wurden vielfach wieder in Gang gesetzt.
Zwischen den einzelnen Balkonen wurden politische Streitigkeiten mit
einer durch die nächtliche Stunde verstärkten Erregung ausgetragen.
Die meisten waren schon in Nachtkleidern und hatten nur Überröcke
umgeworfen, die Frauen hüllten sich in große, dunkle Tücher, die
unbeachteten Kinder kletterten beängstigend auf den Einfassungen der
Balkone umher und kamen in immer größerer Zahl aus den dunklen
Zimmern, in denen sie schon geschlafen hatten, hervor. Hier und da
wurden einzelne unkenntliche Gegenstände von besonders Erhitzten in
die Richtung ihrer Gegner geschleudert, manchmal gelangten sie an ihr
Ziel, meist aber fielen sie auf die Straße herab, wo sie oft ein
Wutgeheul hervorriefen. Wurde den führenden Männern unten der Lärm
zu arg, so erhielten die Trommler und Trompeter den Auftrag,
einzugreifen und ihr schmetterndes, mit ganzer Kraft ausgeführtes,
nicht Enden wollendes Signal unterdrückte alle menschlichen Stimmen
bis zu den Dächern der Häuser hinauf. Und immer, ganz plötzlich —
man glaubte es kaum — hörten sie auf, worauf die hierfür offenbar
eingeübte Menge auf der Straße in die für einen Augenblick
eingetretene, allgemeine Stille ihren Parteigesang empor brüllte —
man sah im Lichte der Automobillaternen den Mund jedes Einzelnen weit
geöffnet — bis dann die inzwischen zur Besinnung gekommenen Gegner
zehnmal so stark wie früher aus allen Balkonen und Fenstern hervor
schrien und die Partei unten nach ihrem kurzen Sieg zu einem für
diese Höhe wenigstens gänzlichen Verstummen brachten.
"Wie
gefällt es dir, Kleiner?" fragte Brunelda, die sich eng hinter
Josie hin- und herdrehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu
übersehen. Josie antwortete nur durch Kopfnicken. Nebenbei bemerkte
er, wie Robinson Delamarche eifrig verschiedene Mitteilungen,
offenbar über Josies Verhalten, machte, denen aber Delamarche keine
Bedeutung beizumessen schien, denn er suchte Robinson mit der Linken,
mit der Rechten hatte er Brunelda umfasst, immerfort beiseite zu
schieben. "Willst du nicht durch den Gucker schauen?"
fragte Brunelda und klopfte auf Josies Brust, um zu zeigen, dass sie
ihn meine.
"Ich
sehe genug", sagte Josie.
"Versuch
es doch", sagte sie, "du wirst besser sehen."
"Ich
habe gute Augen", antwortete Josie, "ich sehe alles."
Er empfand es nicht als Liebenswürdigkeit, sondern als Störung, als
sie den Gucker seinen Augen näherte und tatsächlich sagte sie nun
nichts als das eine Wort: "Du!" Melodisch, aber drohend.
Und schon hatte Josie den Gucker an seinen Augen und sah nun
tatsächlich nichts.
"Ich
sehe ja nichts", sagte er und wollte den Gucker loswerden, aber
den Gucker hielt sie fest und den auf ihrer Brust eingebetteten Kopf
konnte er weder zurück noch seitwärts schieben.
"Jetzt
siehst du aber schon", sagte sie und drehte an der Schraube des
Guckers.
"Nein,
ich sehe noch immer nichts", sagte Josie und dachte daran, dass
er Robinson ohne seinen Willen nun tatsächlich entlastet habe, denn
Bruneldas unerträgliche Launen wurden nun an ihm ausgelassen.
"Wann
wirst du denn endlich sehen?" sagte sie und drehte — Josie
hatte nun sein ganzes Gesicht in ihrem schweren Atem — weiter an
der Schraube. "Jetzt?" fragte sie.
"Nein,
nein, nein!" rief Josie, trotzdem er nun tatsächlich, wenn auch
nur sehr undeutlich, alles unterscheiden konnte. Aber gerade hatte
Brunelda irgendetwas mit Delamarche zu tun, sie hielt den Gucker nur
lose vor Josies Gesicht und Josie konnte, ohne dass sie es besonders
beachtete, unter dem Gucker hinweg auf die Straße sehen. Später
bestand sie auch nicht mehr auf ihrem Willen und benützte den Gucker
für sich.
Aus
dem Gasthaus unten war ein Kellner getreten und auf der Türschwelle
hin und her eilend nahm er die Bestellungen der Führer entgegen. Man
sah, wie er sich streckte, um das Innere des Lokals zu übersehen und
möglichst viel Bedienung herbeizurufen. Während dieser offenbar
einem großen Freitrinken dienenden Vorbereitungen ließ der Kandidat
nicht vom Reden ab. Sein Träger, der riesige nur ihm dienende Mann,
machte immer nach einigen Sätzen eine kleine Drehung, um die Rede
allen Teilen der Menge zukommen zu lassen. Der Kandidat hielt sich
meist ganz zusammen gekrümmt und versuchte mit ruckweisen Bewegungen
der einen freien Hand und des Zylinders in der andern seinen Worten
möglichste Eindringlichkeit zu geben. Manchmal aber, in fast
regelmäßigen Zwischenräumen, durchfuhr es ihn, er erhob sich mit
ausgebreiteten Armen, er redete nicht mehr eine Gruppe, sondern die
Gesamtheit an, er sprach zu den Bewohnern der Häuser bis zu den
höchsten Stockwerken hinauf und doch war es vollkommen klar, dass
ihn schon in den untersten Stockwerken niemand hören konnte, ja,
dass ihm auch, wenn die Möglichkeit gewesen wäre, niemand hätte
zuhören wollen, denn jedes Fenster und jeder Balkon war doch
zumindest von einem schreienden Redner besetzt. Inzwischen brachten
einige Kellner aus dem Gasthaus ein mit gefüllten, leuchtenden
Gläsern besetztes Brett, im Umfang eines Billards, hervor. Die
Führer organisierten die Verteilung, die in Form eines
Vorbeimarsches an der Gasthaustür erfolgte. Aber trotzdem die Gläser
auf dem Brett immer wieder nachgefüllt wurden, genügten sie für
die Menge nicht, und zwei Reihen von Schankburschen mussten rechts
und links vom Brett durchschlüpfen und die Menge weiterhin
versorgen. Der Kandidat hatte natürlich mit Reden aufgehört und
benützte die Pause, um sich neu zu kräftigen. Abseits von der Menge
und dem grellen Licht trug ihn sein Träger langsam hin und her und
nur einige seiner nächsten Anhänger begleiteten ihn dort und
sprachen zu ihm hinauf.
"Sieh
mal den Kleinen", sagte Brunelda, "er vergisst vor lauter
Schauen, wo er ist." Und sie überraschte Josie und drehte mit
beiden Händen sein Gesicht sich zu, so dass sie ihm in die Augen
sah. Es dauerte aber nur einen Augenblick, denn Josie schüttelte
gleich ihre Hände ab und ärgerlich darüber, dass man ihn nicht ein
Weilchen lang in Ruhe ließ und gleichzeitig voll Lust auf die Straße
zu gehen und alles von der Nähe anzusehen, suchte er sich nun mit
aller Kraft vom Druck Bruneldas zu befreien und sagte: "Bitte,
lassen Sie mich weg." "Du wirst bei uns bleiben",
sagte Delamarche, ohne den Blick von der Straße zu wenden und
streckte nur eine Hand aus, um Josie am Weggehen zu verhindern.
"Lass
nur", sagte Brunelda und wehrte die Hand Delamarches ab, "er
bleibt ja schon." Und sie drückte Josie noch fester ans
Geländer, er hätte mit ihr raufen müssen, um sich von ihr zu
befreien. Und wenn ihm das auch gelungen wäre, was hätte er damit
erreicht. Links von ihm stand Delamarche, rechts hatte sich nun
Robinson aufgestellt, er war in einer regelrechten Gefangenschaft.
"Sei
froh, dass man dich nicht hinaus wirft", sagte Robinson und
beklopfte Josie mit der Hand, die er unter Bruneldas Arm durchgezogen
hatte.
"Hinaus
wirft?" sagte Delamarche. "Einen entlaufenen Dieb wirft man
nicht hinaus, den übergibt man der Polizei. Und das kann ihm gleich
morgen früh geschehen, wenn er nicht ganz ruhig ist."
Von
diesem Augenblick an hatte Josie an dem Schauspiel unten keine Freude
mehr. Nur gezwungen, weil er Bruneldas wegen sich nicht aufrichten
konnte, beugte er sich ein wenig über das Geländer. Voll eigener
Sorgen, mit zerstreuten Blicken, sah er die Leute unten an, die in
Gruppen von etwa zwanzig Mann vor die Gasthaustüre traten, die
Gläser ergriffen, sich umdrehten und diese Gläser in der Richtung
gegen den jetzt mit sich beschäftigten Kandidaten schwenkten, einen
Parteigruß ausriefen, die Gläser leerten und sie, jedenfalls
dröhnend, in dieser Höhe aber unhörbar, auf das Brett wieder
nieder setzten, um einer neuen, vor Ungeduld lärmenden Gruppe Platz
zu machen. Über Auftrag der Führer war die Kapelle, die bisher im
Gasthaus gespielt hatte, auf die Gasse getreten, ihre großen
Blasinstrumente strahlten aus der dunklen Menge, aber ihr Spiel
verging fast im allgemeinen Lärm. Die Straße war nun wenigstens auf
der Seite, wo sich das Gasthaus befand, weithin mit Menschen
angefüllt. Von oben, von wo Josie am Morgen im Automobil gekommen
war, strömten sie herab, von unten, von der Brücke her, liefen sie
herauf und selbst die Leute in den Häusern hatten der Verlockung
nicht widerstehen können, in diese Angelegenheit mit eigenen Händen
einzugreifen, auf den Balkonen und in den Fenstern waren fast nur
Frauen und Kinder zurückgeblieben, während die Männer unten aus
den Haustoren drängten. Nun aber hatte die Musik und die Bewirtung
den Zweck erreicht, die Versammlung war genügend groß, -ein von
zwei Automobillaternen flankierter Führer winkte die Musik ab, stieß
einen starken Pfiff aus und nun sah man den ein wenig abgeirrten
Träger mit dem Kandidaten durch einen von Anhängern gebahnten Weg
eiligst herbei kommen.
Kaum
war er bei der Gasthaustüre, begann der Kandidat im Schein der nun
im engen Kreis um ihn gehaltenen Automobillaternen seine neue Rede.
Aber nun war alles viel schwieriger als früher, der Träger hatte
nicht die geringste Bewegungsfreiheit mehr, das Gedränge war zu
groß. Die nächsten Anhänger, die früher mit allen möglichen
Mitteln die Wirkung der Reden des Kandidaten zu verstärken versucht
hatten, hatten nun Mühe, sich in seiner Nähe zu erhalten, wohl
zwanzig hielten sich mit aller Anstrengung am Träger fest. Aber
selbst dieser starke Mann konnte keinen Schritt nach seinem Willen
mehr machen, an eine Einflussnahme der Menge durch bestimmte
Wendungen oder durch passendes Vorrücken oder Zurückweichen war
nicht mehr zu denken. Die Menge flutete ohne Plan, einer lag am
andern, keiner stand mehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch
neues Publikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hatte sich lange
in der Nähe der Gasthaustüre gehalten, nun aber ließ er sich
scheinbar ohne Widerstand die Gasse auf und abwärts treiben, der
Kandidat redete immerfort, aber es war nicht mehr ganz klar, ob er
sein Programm auseinander legte oder um Hilfe rief; wenn nicht alles
täuschte, hatte sich auch ein Gegenkandidat eingefunden, oder gar
mehrere, denn hier und da sah man in irgendeinem plötzlich
aufflammenden Licht einen von der Menge empor gehobenen Mann mit
bleichem Gesicht und geballten Fäusten eine von vielstimmigen Rufen
begrüßte Rede halten.
"Was
geschieht denn da?" fragte Josie und wandte sich in atemloser
Verwirrung an seine Wächter.
"Wie
es den Kleinen aufregt", sagte Brunelda zu Delamarche und fasste
Josie am Kinn, um seinen Kopf an sich zu ziehen. Aber das wollte
Josie nicht und er schüttelte sich, durch die Vorgänge auf der
Straße förmlich rücksichtsloser gemacht, so stark, dass Brunelda
ihn nicht nur losließ, sondern zurückwich und ihn gänzlich
freigab. "Jetzt hast du genug gesehen", sagte sie, offenbar
durch Josies Benehmen böse gemacht, "geh ins Zimmer, bette auf
und bereite alles für die Nacht vor." Sie streckte die Hand
nach dem Zimmer aus. Das war ja die Richtung, die Josie schon seit
einigen Stunden nehmen wollte, er widersprach mit keinem Wort. Da
hörte man von der Gasse her das Krachen von vielem zersplitternden
Glas. Josie konnte sich nicht bezwingen und sprang noch rasch zum
Geländer, um flüchtig noch einmal hinunter zu schauen. Ein Anschlag
der Gegner und vielleicht ein entscheidender war geglückt, die
Automobillaternen der Anhänger, die mit ihrem starken Licht
wenigstens die Hauptvorgänge vor der gesamten Öffentlichkeit
geschehen ließen und dadurch alles in gewissen Grenzen gehalten
hatten, waren sämtlich und gleichzeitig zerschmettert worden, den
Kandidaten und seinen Träger umfing nun die gemeinsame, unsichere
Beleuchtung, die in ihrer plötzlichen Ausbreitung wie völlige
Finsternis wirkte. Auch nicht beiläufig hätte man jetzt angeben
können, wo sich der Kandidat befand und das Täuschende des Dunkels
wurde noch vermehrt durch einen gerade einsetzenden, breiten,
einheitlichen Gesang, der von unten, von der Brücke her sich
näherte.
"Habe
ich dir nicht gesagt, was du jetzt zu tun hast", sagte Brunelda,
"beeile dich. Ich bin müde", fügte sie hinzu und streckte
dann die Arme in die Höhe, so dass sich ihre Brust noch viel mehr
wölbte als gewöhnlich. Delamarche, der sie noch immer umfasst
hielt, zog sie mit sich in eine Ecke des Balkons. Robinson ging ihnen
nach, um die Überbleibsel seines Essens, die noch dort lagen,
beiseite zu schieben.
Diese
günstige Gelegenheit musste Josie ausnützen, jetzt war keine Zeit
hinunter zu schauen, von den Vorgängen auf der Straße würde er
unten noch genug sehen und mehr als von hier oben. In zwei Sprüngen
eilte er durch das rötlich beleuchtete Zimmer, aber die Tür war
verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Der musste jetzt gefunden
werden, aber wer wollte in dieser Unordnung einen Schlüssel finden
und gar in der kurzen, kostbaren Zeit, die Josie zur Verfügung
stand. Jetzt hätte er schon eigentlich auf der Treppe sein, hätte
laufen und laufen sollen. Und nun suchte er den Schlüssel! Suchte
ihn in allen zugänglichen Schubladen, stöberte auf dem Tisch herum,
wo verschiedenes Essgeschirr, Servietten und irgendeine angefangene
Stickerei herum lagen, wurde durch einen Lehnstuhl angelockt, auf dem
ein ganz verfilzter Haufen alter Kleidungsstücke sich befand, in
denen der Schlüssel sich möglicherweise befinden, aber niemals
aufgefunden werden konnte und warf sich schließlich auf das
tatsächlich übel riechende Kanapee, um in allen Ecken und Falten
nach dem Schlüssel zu tasten. Dann ließ er vom Suchen ab und
stockte in der Mitte des Zimmers. Gewiss hatte Brunelda den Schlüssel
an ihrem Gürtel befestigt, sagte er sich, dort hingen ja so viele
Sachen, alles Suchen war umsonst.
Und
blindlings ergriff Josie zwei Messer und bohrte sie zwischen die
Türflügel, eines oben, eines unten, um zwei voneinander entfernte
Angriffspunkte zu erhalten. Kaum hatte er an den Messern gezogen,
brachen natürlich die Klingen entzwei. Er hatte nichts anderes
wollen, die Stümpfe, die er nun fester einbohren konnte, würden
desto besser halten. Und nun zog er mit aller Kraft, die Arme weit
ausgebreitet, die Beine weit auseinander gestemmt, stöhnend und
dabei genau auf die Tür aufpassend. Sie würde nicht auf die Dauer
widerstehen können, das erkannte er mit Freuden aus dem deutlich
hörbaren Sichlockern der Riegel, je langsamer es aber ging, desto
richtiger war es, aufspringen durfte ja das Schloss gar nicht, sonst
würde man ja auf dem Balkon aufmerksam werden, das Schloss musste
sich vielmehr ganz langsam voneinander lösen und darauf arbeitete
Josie mit größter Vorsicht hin, die Augen immer mehr dem Schlosse
nähernd.
"Seht
einmal", hörte er da die Stimme Delamarches. Alle drei standen
im Zimmer, der Vorhang war hinter ihnen schon zugezogen, Josie musste
ihr Kommen überhört haben, die Hände sanken ihm bei dem Anblick
von den Messern herab. Aber er hatte gar nicht Zeit, irgendein Wort
zur Erklärung oder Entschuldigung zu sagen, denn in einem weit über
die augenblickliche Gelegenheit hinausgehenden Wutanfall sprang
Delamarche — sein gelöstes Schlafrockseil beschrieb eine große
Figur in der Luft — auf Josie los. Josie wich noch im letzten
Augenblick dem Angriff aus, er hätte die Messer aus der Tür ziehen
und zur Verteidigung benützen können, aber das tat er nicht,
dagegen griff er sich bückend und aufspringend nach dem breiten
Schlafrockkragen Delamarches, schlug ihn in die Höhe, zog ihn dann
noch weiter hinauf — der Schlafrock war ja für Delamarche viel zu
groß — und hielt nun glücklich Delamarche beim Kopf, der allzu
sehr überrascht, zuerst blind mit den Händen fuchtelte und erst
nach einem Weilchen, aber noch nicht mit ganzer Wirkung mit den
Fäusten auf Josies Rücken schlug, der sich, um sein Gesicht zu
schützen, an die Brust Delamarches geworfen hatte. Die Faustschläge
ertrug Josie, wenn er sich auch vor Schmerzen wand und wenn auch die
Schläge immer stärker wurden, aber wie hätte er das nicht ertragen
sollen, -vor sich sah er ja den Sieg. Die Hände am Kopf Delamarches,
die Daumen wohl gerade über seinen Augen, führte er ihn vor sich
her gegen das ärgste Möbeldurcheinander hin und versuchte überdies
mit den Fußspitzen das Schlafrockseil um die Füße Delamarches zu
schlingen und ihn auch so zu Fall zu bringen.
Da
er sich aber ganz und gar mit Delamarche beschäftigen musste, zumal
er dessen Widerstand immer mehr wachsen fühlte und immer sehniger
dieser feindliche Körper sich ihm entgegen stemmte, vergaß er
tatsächlich, dass er nicht mit Delamarche allein war. Aber nur allzu
bald wurde er daran erinnert, denn plötzlich versagten seine Füße,
die Robinson, der sich hinter ihm auf den Boden geworfen hatte,
schreiend auseinander presste. Seufzend ließ Josie von Delamarche
ab, der noch einen Schritt zurückwich. Brunelda stand mit weit
auseinander gestellten Beinen und gebeugten Knien in aller ihrer
Breite in der Zimmermitte und verfolgte die Vorgänge mit leuchtenden
Augen. Als beteilige sie sich tatsächlich an dem Kampf, atmete sie
tief, visierte mit den Augen und ließ ihre Fäuste langsam
vorrücken. Delamarche schlug seinen Kragen nieder, hatte nun wieder
freien Blick und nun gab es natürlich keinen Kampf mehr, sondern
bloß eine Bestrafung. Er fasste Josie vorn beim Hemd, hob ihn fast
vom Boden und schleuderte ihn, vor Verachtung sah er ihn gar nicht
an, so gewaltig gegen einen ein paar Schritte entfernten Schrank,
dass Josie im ersten Augenblick meinte, die stechenden Schmerzen im
Rücken und am Kopf, die ihm das Aufschlagen am Kasten verursachte,
stammten unmittelbar von der Hand Delamarches. "Du Halunke",
hörte er Delamarche in dem Dunkel, das vor seinen zitternden Augen
entstand, noch laut ausrufen. Und in der ersten Erschöpfung, in der
er vor dem Kasten zusammen sank, klangen ihm die Worte "Warte
nur" noch schwach in den Ohren nach.
Als
er zur Besinnung kam, war es um ihn ganz finster, es mochte noch spät
in der Nacht sein, vom Balkon her drang unter dem Vorhang ein
leichter Schimmer des Mondlichts in das Zimmer. Man hörte die
ruhigen Atemzüge der drei Schläfer, die bei weitem lautesten
stammten von Brunelda, sie schnaufte im Schlaf, wie sie es bisweilen
beim Reden tat; es war aber nicht leicht festzustellen, in welcher
Richtung die einzelnen Schläfer sich befanden, das ganze Zimmer war
von dem Rauschen ihres Atems voll. Erst nachdem er seine Umgebung ein
wenig geprüft hatte, dachte Josie an sich und da erschrak er sehr,
denn wenn er sich auch ganz krumm und steif von Schmerzen fühlte, so
hatte er doch nicht daran gedacht, dass er eine schwere, blutige
Verletzung erlitten haben könnte. Nun aber hatte er eine Last auf
dem Kopf und das ganze Gesicht, der Hals, die Brust unter dem Hemd
waren feucht wie von Blut. Er musste ans Licht, um seinen Zustand
genau festzustellen, vielleicht hatte man ihn zum Krüppel
geschlagen, dann würde ihn Delamarche wohl gerne entlassen, aber was
sollte er dann anfangen, dann gab es wirklich keine Aussichten mehr
für ihn. Der Bursche mit der zerfressenen Nase im Torweg fiel ihm
ein und er legte einen Augenblick lang das Gesicht in seine Hände.
Unwillkürlich
wendete er sich dann der Tür zu und tastete sich auf allen Vieren
hin. Bald erfühlte er mit den Fingerspitzen einen Stiefel und
weiterhin ein Bein. Das war Robinson, wer schlief sonst in Stiefeln?
Man hatte ihm befohlen, sich quer vor die Tür zu legen, um Josie an
der Flucht zu hindern. Aber kannte man denn Josies Zustand nicht?
Vorläufig wollte er gar nicht entfliehen, er wollte nur ans Licht
kommen. Konnte er also nicht zur Tür hinaus, so musste er auf den
Balkon.
Den
Esstisch fand er an einer offenbar ganz anderen Stelle als am Abend,
das Kanapee, dem sich Josie natürlich sehr vorsichtig näherte, war
überraschenderweise leer, dagegen stieß er in der Zimmermitte auf
hoch geschichtete, wenn auch stark gepresste Kleider, Decken,
Vorhänge, Polster und Teppiche. Zuerst dachte er, es sei nur ein
kleiner Haufen, ähnlich dem, den er am Abend auf dem Sofa gefunden
hatte und der etwa auf die Erde gerollt war, aber zu seinem Staunen
bemerkte er beim Weiterkriechen, dass da eine ganze Wagenladung
solcher Sachen lag, die man wahrscheinlich für die Nacht aus den
Kästen herausgenommen hatte, wo sie während des Tages aufbewahrt
wurden. Er umkroch den Haufen und erkannte bald, dass das Ganze eine
Art Bettlager darstellte, auf dem hoch oben, wie er sich durch
vorsichtigstes Tasten überzeugte, Delamarche und Brunelda ruhten.
Jetzt
wusste er also, wo alle schliefen und beeilte sich nun, auf den
Balkon zu kommen. Es war eine ganz andere Welt, in der er sich nun,
außerhalb des Vorhangs, schnell erhob. In der frischen Nachtluft, im
vollen Schein des Mondes ging er einige Mal auf dem Balkon auf und
ab. Er sah auf die Straße, sie war ganz still, aus dem Gasthaus
klang noch die Musik, aber nur gedämpft hervor, vor der Tür kehrte
ein Mann das Trottoir, in der Gasse, in der am Abend innerhalb des
wüsten, allgemeinen Lärms das Schreien eines Wahlkandidaten von
tausend anderen Stimmen nicht hatte unterschieden werden können,
hörte man nun deutlich das Kratzen des Besens auf dem Pflaster.
Das
Rücken eines Tisches auf dem Nachbarbalkon machte Josie aufmerksam,
dort saß ja jemand und studierte. Es war ein junger Mann mit einem
kleinen Spitzbart, an dem er beim Lesen, das er mit raschen
Lippenbewegungen begleitete, ständig drehte. Er saß, das Gesicht
Josie zugewendet, an einem kleinen, mit Büchern bedeckten Tisch, die
Glühlampe hatte er von der Mauer abgenommen, zwischen zwei große
Bücher geklemmt und war nun von ihrem grellen Licht ganz
überleuchtet.
"Guten
Abend", sagte Josie, da er bemerkt zu haben glaubte, dass der
junge Mann zu ihm herüber geschaut hätte.
Aber
das musste wohl ein Irrtum gewesen sein, denn der junge Mann schien
ihn überhaupt noch nicht bemerkt zu haben, legte die Hand über die
Augen, um das Licht abzublenden und festzustellen, wer da plötzlich
grüßte und hob dann, da er noch immer nichts sah, die Glühlampe
hoch, um mit ihr auch den Nachbarbalkon ein wenig zu beleuchten.
"Guten
Abend", sagte dann auch er, blickte einen Augenblick lang scharf
herüber und fügte dann hinzu: "Und was weiter?"
"Ich
störe Sie?" fragte Josie.
"Gewiss,
gewiss", sagte der Mann und brachte die Glühlampe wieder an
ihren früheren Ort.
Mit
diesen Worten war allerdings jede Anknüpfung abgelehnt, aber Josie
verließ trotzdem die Balkonecke, in der er dem Manne am nächsten
war, nicht. Stumm sah er zu, wie der Mann in seinem Buche las, die
Blätter wendete, hier und da in einem andern Buche, das er immer mit
Blitzesschnelle ergriff, irgendetwas nachschlug und öfters Notizen
in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu
dem Hefte senkte.
Ob
dieser Mann vielleicht ein Student war? Es sah ganz so aus, als ob er
studierte. Nicht viel anders — jetzt war es schon lange her — war
Josie zuhause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben
geschrieben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen
und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit
einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe
zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Josie nur das Heft und
das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher
rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war
es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer
gekommen! Schon als kleines Kind hatte Josie immer gerne zugesehen,
wenn die Mutter gegen Abend die Wohnungstür mit dem Schlüssel
absperrte. Sie hatte keine Ahnung davon, dass es jetzt mit Josie so
weit gekommen war, dass er fremde Türen mit Messern aufzubrechen
suchte.
Und
welchen Zweck hatte sein ganzes Studium gehabt! Er hatte ja alles
vergessen; wenn es darauf angekommen wäre, hier sein Studium
fortzusetzen, es wäre ihm sehr schwer geworden. Er erinnerte sich
daran, dass er zuhause einmal einen Monat lang krank gewesen war —
welche Mühe hatte es ihn damals gekostet, sich nachher wieder in dem
unterbrochenen Lernen zurechtzufinden. Und nun hatte er außer dem
Lehrbuch der englischen Handelskorrespondenz schon so lange kein Buch
gelesen.
"Sie,
junger Mann", hörte sich Josie plötzlich angesprochen,
"könnten Sie sich nicht anderswo aufstellen? Ihr Herüberstarren
stört mich schrecklich. Um zwei Uhr in der Nacht kann man doch
schließlich verlangen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zu können.
Wollen Sie denn etwas von mir?"
"Sie
studieren?" fragte Josie.
"Ja,
ja", sagte der Mann und benutzte dieses für das Lernen
verlorene Weilchen, um unter seinen Büchern eine neue Ordnung
einzurichten.
"Dann
will ich Sie nicht stören", sagte Josie, "ich gehe
überhaupt schon ins Zimmer zurück. Gute Nacht."
Der
Mann gab nicht einmal eine Antwort, mit einem plötzlichen
Entschlusse hatte er sich nach Beseitigung dieser Störung wieder ans
Studieren gemacht und stützte die Stirn schwer in die rechte Hand.
Da
erinnerte sich Josie knapp vor dem Vorhang daran, warum er eigentlich
herausgekommen war, er wusste ja noch gar nicht, wie es mit ihm
stand. Was lastete nur so auf seinem Kopf? Er griff hinauf und
staunte, da war keine blutige Verletzung, wie er im Dunkel des
Zimmers gefürchtet hatte, es war nur ein noch immer feuchter,
turbanartiger Verband. Er war, nach den noch hier und da hängenden
Spitzenüberresten zu schließen, aus einem alten Wäschestück
Bruneldas gerissen und Robinson hatte ihn wohl flüchtig Josie um den
Kopf gewickelt. Nur hatte er vergessen, ihn auszuwinden und so war
während Josies Bewusstlosigkeit das viele Wasser das Gesicht herab
und unter das Hemd geronnen und hatte Josie einen solchen Schrecken
eingejagt.
"Sie
sind wohl noch immer da?" fragte der Mann und blinzelte herüber.
"Jetzt
gehe ich aber schon wirklich", sagte Josie, "ich wollte
hier nur etwas anschauen, im Zimmer ist es ganz finster."
"Wer
sind Sie denn?" sagte der Mann, legte den Federhalter in das vor
ihm geöffnete Buch und trat an das Geländer. "Wie heißen Sie?
Wie kommen Sie zu den Leuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollen
Sie denn anschauen? Drehen Sie doch ihre Glühlampe dort auf, damit
man Sie sehen kann."
Josie
tat dies, zog aber, ehe er antwortete, noch den Vorhang der Tür
fester zu, damit man im Innern nichts merken konnte. "Verzeihen
Sie", sagte er dann im Flüsterton, "dass ich so leise
rede. Wenn mich die drinnen hören, habe ich wieder einen Krawall."
"Wieder?"
fragte der Mann.
"Ja",
sagte Josie, "ich habe ja erst am Abend einen großen Streit mit
ihnen gehabt. Ich muss da noch eine fürchterliche Beule haben."
Und er tastete hinten seinen Kopf ab.
"Was
war denn das für ein Streit?" fragte der Mann und fügte, da
Josie nicht gleich antwortete, hinzu: "Mir können Sie ruhig
alles anvertrauen, was Sie gegen diese Herrschaften auf dem Herzen
haben. Ich hasse sie nämlich alle drei und ganz besonders ihre
Madame. Es sollte mich übrigens wundern, wenn man Sie nicht schon
gegen mich gehetzt hätte. Ich heiße Josef Mendel und bin Student."
"Ja",
sagte Josie, "erzählt hat man mir schon von ihnen, aber nichts
Schlimmes. Sie haben wohl einmal Frau Brunelda behandelt, nicht
wahr?"
"Das
stimmt", sagte der Student und lachte, "riecht das Kanapee
noch danach?"
"Oh
ja", sagte Josie.
"Das
freut mich aber", sagte der Student und fuhr mit der Hand durchs
Haar. "Und warum macht man ihnen Beulen?"
"Es
war ein Streit", sagte Josie im Nachdenken darüber, wie er es
dem Studenten erklären sollte. Dann aber unterbrach er sich und
sagte: "Störe ich Sie denn nicht?"
"Erstens",
sagte der Student, "haben Sie mich schon gestört und ich bin
leider so nervös, dass ich lange Zeit brauche, um mich wieder hinein
zu finden. Seit Sie da ihre Spaziergänge auf dem Balkon angefangen
haben, komme ich mit dem Studieren nicht vorwärts. Zweitens aber
mache ich um drei Uhr immer eine Pause. Erzählen Sie also nur ruhig.
Es interessiert mich auch."
"Es
ist ganz einfach", sagte Josie, "Delamarche will, dass ich
bei ihm Diener werde. Aber ich will nicht. Ich wäre am liebsten noch
gleich abends weggegangen. Er wollte mich nicht lassen, hat die Tür
abgesperrt, ich wollte sie aufbrechen und dann kam es zu der
Rauferei. Ich bin unglücklich, dass ich noch hier bin."
"Haben
Sie denn eine andere Stellung?" fragte der Student. "Nein",
sagte Josie, "aber daran liegt mir nichts, wenn ich nur von hier
fort wäre."
"Hören
Sie einmal", sagte der Student, "daran liegt ihnen nichts?"
Und beide schwiegen ein Weilchen.
"Warum
wollen Sie denn bei den Leuten nicht bleiben?" fragte dann der
Student.
"Delamarche
ist ein schlechter Mensch", sagte Josie, "ich kenne ihn
schon von früher her. Ich marschierte einmal einen Tag lang mit ihm
und war froh, als ich nicht mehr bei ihm war. Und jetzt soll ich
Diener bei ihm werden?"
"Wenn
alle Diener bei der Auswahl ihrer Herrschaften so heikel sein wollten
wie Sie!" sagte der Student und schien zu lächeln. "Sehen
Sie, ich bin während des Tages Verkäufer, niedrigster Verkäufer,
eher schon Laufbursche im Warenhaus von Montly. Dieser Montly ist
zweifellos ein Schurke, aber das lässt mich ganz ruhig, wütend bin
ich nur, dass ich so elend bezahlt werde. Nehmen Sie sich also an mir
ein Beispiel."
"Wie?"
sagte Josie, "Sie sind bei Tag Verkäufer und in der Nacht
studieren Sie?"
"Ja",
sagte der Student, "es geht nicht anders. Ich habe schon alles
Mögliche versucht, aber diese Lebensweise ist noch die beste. Vor
Jahren war ich nur Student, bei Tag und Nacht, wissen Sie, nur bin
ich dabei fast verhungert, habe in einer schmutzigen alten Höhle
geschlafen und wagte mich in meinem damaligen Anzug nicht in die
Hörsäle. Aber das ist vorüber."
"Aber
wann schlafen Sie?" fragte Josie und sah den Studenten
verwundert an.
"Ja,
schlafen!" sagte der Student, "schlafen werde ich, wenn ich
mit meinem Studium fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen
Kaffee." Und er wandte sich um, zog unter seinem Studiertisch
eine große Flasche hervor, goss aus ihr schwarzen Kaffee in ein
Tässchen und schüttete ihn in sich hinein, so wie man Medizinen
eilig schluckt, um möglichst wenig von ihrem Geschmack zu spüren.
"Eine
feine Sache, der schwarze Kaffee", sagte der Student, "schade,
dass Sie so weit sind, dass ich ihnen nicht ein wenig hinüber
reichen kann."
"Mir
schmeckt schwarzer Kaffee nicht", sagte Josie.
"Mir
auch nicht", sagte der Student und lachte. "Aber was wollte
ich ohne ihn anfangen. Ohne den schwarzen Kaffee würde mich Montly
keinen Augenblick behalten. Ich sage immer Montly, trotzdem der
natürlich keine Ahnung hat, dass ich auf der Welt bin. Ganz genau
weiß ich nicht, wie ich mich im Geschäft benehmen würde, wenn ich
nicht dort im Pult eine gleich große Flasche wie diese immer
vorbereitet hätte, denn ich habe noch nie gewagt, mit dem
Kaffeetrinken auszusetzen, aber vertrauen Sie nur, ich würde bald
hinter dem Pulte liegen und schlafen. Leider ahnt man das, sie nennen
mich dort den 'schwarzen Kaffee', was ein blödsinniger Witz ist und
mir gewiss in meinem Vorwärtskommen schon geschadet hat."
"Und
wann werden Sie mit ihrem Studium fertig werden?" fragte Josie.
"Es geht langsam", sagte der Student mit gesenktem Kopf. Er
verließ das Geländer und setzte sich wieder an den Tisch; die
Ellbogen auf das offene Buch aufgestützt, mit den Händen durch
seine Haare fahrend sagte er dann: "Es kann noch ein bis zwei
Jahre dauern."
"Ich
wollte auch studieren", sagte Josie, als gebe ihm dieser Umstand
ein Anrecht auf ein noch größeres Vertrauen, als es der jetzt
verstummende Student ihm gegenüber schon bewiesen hatte.
"So",
sagte der Student und es war nicht ganz klar, ob er in seinem Buche
schon wieder las oder nur zerstreut hinein starrte, "seien Sie
froh, dass Sie das Studium aufgegeben haben. Ich selbst studiere
schon seit Jahren eigentlich nur aus Konsequenz. Befriedigung habe
ich wenig davon und Zukunftsaussichten noch weniger. Was für
Aussichten wollte ich denn haben! Amerika ist voll von
Schwindeldoktoren."
"Ich
wollte Ingenieur werden", sagte Josie noch eilig zu dem
scheinbar schon gänzlich unaufmerksamen Studenten hinüber.
"Und
jetzt sollen Sie Diener bei diesen Leuten werden", sagte der
Student und sah flüchtig auf, "das schmerzt Sie natürlich."
Diese
Schlussfolgerung des Studenten war allerdings ein Missverständnis,
aber vielleicht konnte es Josie beim Studenten nutzen. Er fragte
deshalb: "Könnte ich nicht vielleicht auch eine Stelle im
Warenhaus bekommen?"
Diese
Frage riss den Studenten völlig von seinem Buche los; der Gedanke,
dass er Josie bei seiner Postenbewerbung behilflich sein könnte, kam
ihm gar nicht. "Versuchen Sie es", sagte er, "oder
versuchen Sie es lieber nicht. Dass ich meinen Posten bei Montly
bekommen habe, ist der bisher größte Erfolg meines Lebens gewesen.
Wenn ich zwischen dem Studium und meinem Posten zu wählen hätte,
würde ich natürlich den Posten wählen. Meine Anstrengung geht nur
darauf hin, die Notwendigkeit einer solchen Wahl nicht eintreten zu
lassen."
"So
schwer ist es, dort einen Posten zu bekommen", sagte Josie mehr
für sich.
"Ach,
was denken Sie denn", sagte der Student, "es ist leichter,
hier Bezirksrichter zu werden, als Türöffner bei Montly."
Josie
schwieg. Dieser Student, der doch so viel erfahrener war als er, der
Delamarche aus irgendwelchen, Josie noch unbekannten Gründen hasste,
der dagegen Josie gewiss nichts Schlechtes wünschte, fand für Josie
kein Wort der Aufmunterung, Delamarche zu verlassen. Und dabei kannte
er noch gar nicht die Gefahr, die Josie von der Polizei drohte und
vor der er nur bei Delamarche halbwegs geschützt war.
"Sie
haben doch am Abend die Demonstration unten gesehen? Nicht wahr? Wenn
man die Verhältnisse nicht kennen würde, sollte man doch denken,
dieser Kandidat, er heißt Lobter, werde doch irgendwelche Aussichten
haben oder er komme doch wenigstens in Betracht, nicht?"
"Ich
verstehe von Politik nichts", sagte Josie.
"Das
ist ein Fehler", sagte der Student. "Aber abgesehen davon
haben Sie doch Augen und Ohren. Der Mann hat doch zweifellos Freunde
und Feinde gehabt, das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nun
bedenken Sie, der Mann hat meiner Meinung nach nicht die geringsten
Aussichten, gewählt zu werden. Ich weiß zufällig alles über ihn,
es wohnt da bei uns einer, der ihn kennt. Er ist kein unfähiger
Mensch und seinen politischen Ansichten und seiner politischen
Vergangenheit nach wäre gerade er der passende Richter für den
Bezirk. Aber kein Mensch denkt daran, dass er gewählt werden könnte,
er wird so prachtvoll durchfallen, als man durchfallen kann, er wird
für die Wahlkampagne seine paar Dollars hinausgeworfen haben, das
wird alles sein.
Josie
und der Student sahen einander ein Weilchen schweigend an. Der
Student nickte lächelnd und drückte mit einer Hand die müden
Augen.
"Nun,
werden Sie noch nicht schlafen gehen?" fragte er dann, "ich
muss ja auch wieder studieren. Sehen Sie, wie viel ich noch
durchzuarbeiten habe." Und er blätterte ein halbes Buch rasch
durch, um Josie einen Begriff von der Arbeit zu geben, die noch auf
ihn wartete.
"Dann
also gute Nacht", sagte Josie und verbeugte sich.
"Kommen
Sie doch einmal zu uns herüber“, sagte der Student, der schon
wieder an seinem Tisch saß, "natürlich nur, wenn Sie Lust
haben. Sie werden hier immer große Gesellschaft finden. Von neun bis
zehn Uhr abends habe ich auch für Sie Zeit."
"Sie
raten mir also, bei Delamarche zu bleiben?" fragte Josie.
"Unbedingt",
sagte der Student und senkte schon den Kopf zu seinen Büchern. Es
schien, als hätte gar nicht er das Wort gesagt; wie von einer Stimme
gesprochen, die tiefer war als jene des Studenten, klang es noch in
Josies Ohren nach. Langsam ging er zum Vorhang, warf noch einen Blick
auf den Studenten, der jetzt ganz unbeweglich, von der großen
Finsternis umgeben, in seinem Lichtschein saß und schlüpfte ins
Zimmer. Die vereinten Atemzüge der drei Schläfer empfingen ihn. Er
suchte die Wand entlang das Kanapee und als er es gefunden hatte,
streckte er sich ruhig auf ihm aus, als sei es sein gewohntes Lager.
Da ihm der Student, der Delamarche und die hiesigen Verhältnisse
genau kannte und überdies ein gebildeter Mann war, geraten hatte,
hier zu bleiben, hatte er vorläufig keine Bedenken. So hohe Ziele
wie der Student hatte er nicht, wer weiß, ob es ihm sogar zuhause
gelungen wäre, das Studium zu Ende zu führen und wenn es zuhause
kaum möglich schien, so konnte niemand verlangen, dass er es hier im
fremden Lande tue. Die Hoffnung aber, einen Posten zu finden, in dem
er etwas leisten und für seine Leistungen anerkannt werden könnte,
war gewiss größer, wenn er vorläufig die Dienerstelle bei
Delamarche annahm und aus dieser Sicherheit heraus die günstige
Gelegenheit abwartete. Es schienen sich ja in dieser Straße viele
Büros mittleren und unteren Ranges zu befinden, die vielleicht im
Falle des Bedarfes bei der Auswahl ihres Personals nicht gar zu
wählerisch waren. Er wollte ja gern, wenn es sein musste,
Geschäftsdiener werden, aber schließlich war es ja gar nicht
ausgeschlossen, dass er auch für reine Büroarbeit aufgenommen
werden konnte und einstmals als Bürobeamter an seinem Schreibtisch
sitzen und ohne Sorgen ein Weilchen lang aus dem offenen Fenster
schauen würde, wie jener Beamte, den er heute früh beim Durchmarsch
durch die Höfe gesehen hatte. Beruhigend fiel ihm ein, als er die
Augen schloss, dass er doch jung war und dass Delamarche ihn doch
einmal freigeben würde; dieser Haushalt sah ja wirklich nicht danach
aus, als sei er für die Ewigkeit gemacht. Wenn aber Josie einmal
einen solchen Posten in einem Büro hätte, dann wollte er sich mit
nichts anderem beschäftigen, als mit seinen Büroarbeiten, und nicht
die Kräfte zersplittern wie der Student. Wenn es nötig sein sollte,
wollte er auch die Nacht fürs Büro verwenden, was man ja im Beginn,
bei seiner geringen kaufmännischen Vorbildung, sowieso von ihm
verlangen würde. Er wollte nur an das Interesse des Geschäftes
denken, dem er zu dienen hätte und allen Arbeiten sich unterziehen,
selbst solchen, die andere Bürobeamte als ihrer nicht würdig
zurückweisen würden. Die guten Vorsätze drängten sich in seinem
Kopf, als stehe sein künftiger Chef vor dem Kanapee und lese sie von
seinem Gesicht ab.
In
solchen Gedanken schlief Josie ein und nur im ersten Halbschlaf
störte ihn noch ein gewaltiges Seufzen Bruneldas, die scheinbar von
schweren Träumen geplagt sich auf ihrem Lager wälzte.
Kapitel
VIII: Waschung/Guten Appetit!
"Auf!
Auf!" rief Robinson, kaum dass Josie früh die Augen öffnete.
Der Türvorhang war noch nicht weggezogen, aber man merkte an dem
durch die Lücken einfallenden, gleichmäßigen Sonnenlicht, wie spät
am Vormittag es schon war. Robinson lief eilfertig mit besorgten
Blicken hin und her, bald trug er ein Handtuch, bald einen
Wasserkübel, bald Wäsche- und Kleidungsstücke und immer, wenn er
an Josie vorüber kam, suchte er ihn durch Kopfnicken zum Aufstehen
aufzumuntern und zeigte durch Hochheben dessen, was er gerade in der
Hand hielt, wie er sich heute noch zum letzten Mal für Josie plage,
der natürlich am ersten Morgen von den Einzelheiten des Dienstes
nichts verstehen konnte.
Aber
bald sah Josie, wen Robinson eigentlich bediente. In einem durch zwei
Kästen vom übrigen Zimmer abgetrennten Raum, den Josie bisher noch
nicht gesehen hatte, fand eine große Waschung statt. Man sah den
Kopf Bruneldas, den freien Hals — das Haar war gerade ins Gesicht
geschlagen — und den Ansatz ihres Nackens über den Kasten ragen
und die hier und da gehobene Hand Delamarches hielt einen weit
herumspritzenden Badeschwamm, mit dem Brunelda gewaschen und gerieben
wurde. Man hörte die kurzen Befehle Delamarches, die er Robinson
erteilte, der nicht durch den jetzt verstellten, eigentlichen Zugang
des Raumes die Dinge reichte, sondern auf eine kleine Lücke zwischen
einem Kasten und einer spanischen Wand angewiesen war, wobei er
überdies bei jeder Handreichung den Arm weit ausstrecken und das
Gesicht abgewendet halten musste. "Das Handtuch! Das Handtuch",
rief Delamarche. Und kaum erschrak Robinson, der gerade unter dem
Tisch etwas anderes suchte, über diesen Auftrag und zog den Kopf
unter dem Tisch hervor, hieß es schon: "Wo bleibt das Wasser,
zum Teufel", und über dem Kasten erschien hochgereckt das
wütende Gesicht Delamarches. Alles, was man sonst nach Josies
Meinung zum Waschen und Anziehen nur einmal brauchte, wurde hier in
jeder möglichen Reihenfolge viele Male verlangt und gebracht. Auf
einem kleinen elektrischen Ofen stand immer ein Kübel mit Wasser zum
Wärmen und immer wieder trug Robinson die schwere Last zwischen den
weit auseinander gestellten Beinen zum Waschraum hin. Bei der Fülle
seiner Arbeit war es zu verstehen, wenn er sich nicht immer genau an
die Befehle hielt und einmal, als wieder ein Handtuch verlangt wurde,
einfach ein Hemd von der großen Schlafstätte in der Zimmermitte
nahm und in einem großen Knäuel über die Kästen hinüber warf.
Aber auch Delamarche hatte schwere Arbeit und war vielleicht nur
deshalb gegen Robinson so gereizt — in seiner Gereiztheit übersah
er Josie glattwegs — weil er selbst Brunelda nicht zufrieden
stellen konnte. "Ach", schrie sie auf und selbst der sonst
unbeteiligte Josie zuckte zusammen, "wie du mir weh tust! Geh
weg! Ich wasch mich lieber selbst, statt so zu leiden! Jetzt kann ich
schon wieder den Arm nicht heben. Mir ist ganz übel, wie du mich
drückst. Auf dem Rücken muss ich lauter blaue Flecke haben.
Natürlich, du wirst es mir nicht sagen. Warte, ich werde mich von
Robinson anschauen lassen oder von unserem Kleinen. Nein, ich tu es
ja nicht, aber sei nur ein wenig zarter. Nimm Rücksicht, Delamarche,
aber das kann ich jeden Morgen wiederholen, du nimmst und nimmst
keine Rücksicht. Robinson", rief sie dann plötzlich und
schwenkte ein Spitzenhöschen über ihrem Kopf, "komm mir zur
Hilfe, schau, wie ich leide, diese Tortur nennt er Waschen, dieser
Delamarche. Robinson, Robinson, wo bleibst du, hast auch du kein
Herz?" Josie machte schweigend Robinson ein Zeichen mit dem
Finger, dass er doch hingehen möge, aber Robinson schüttelte mit
gesenkten Augen überlegen den Kopf, er wusste es besser. "Was
fällt dir ein?" sagte Robinson zu Josies Ohr gebeugt, "das
ist nicht so gemeint. Nur einmal bin ich hingegangen und nicht
wieder. Sie haben mich damals beide gepackt und in die Wanne
getaucht, dass ich fast ertrunken wäre. Und tagelang hat mir
Brunelda vorgeworfen, dass ich schamlos bin und immer wieder hat sie
gesagt: 'Jetzt warst du aber schon lange nicht im Bad bei mir' oder
'Wann wirst du mich denn wieder im Bade anschauen kommen?' Erst bis
ich ihr einige Mal auf den Knien abgebeten habe, hat sie aufgehört.
Das werde ich nicht vergessen." Und während Robinson das
erzählte, rief Brunelda immer wieder: "Robinson! Robinson! Wo
bleibt denn dieser Robinson!"
Trotzdem
aber niemand ihr zu Hilfe kam und nicht einmal eine Antwort erfolgte
— Robinson hatte sich zu Josie gesetzt und beide sahen schweigend
zu den Kästen hin, über denen hier und da die Köpfe Bruneldas oder
Delamarches erschienen — trotzdem hörte Brunelda nicht auf, laut
über Delamarche Klage zu führen. "Aber Delamarche", rief
sie, "jetzt spüre ich ja wieder gar nicht, dass du mich
wäschst. Wo hast du den Schwamm? Also greif doch zu! Wenn ich mich
nur bücken, wenn ich mich nur bewegen könnte! Ich wollte dir schon
zeigen, wie man wäscht. Wo sind die Mädchenzeiten, als ich dort
drüben auf dem Gut der Eltern jeden Morgen im Colorado schwamm, die
beweglichste von allen meinen Freundinnen. Und jetzt! Wann wirst du
denn lernen, mich zu waschen, Delamarche, du schwenkst den Schwamm
herum, strengst dich an und ich spür nichts. Wenn ich sagte, dass du
mich nicht wund drücken sollst, so meinte ich doch nicht, dass ich
da stehen und mich erkälten will. Dass ich aus der Wanne spring und
weglaufe, so wie ich bin."
Aber
dann führte sie diese Drohung nicht aus — was sie ja auch an und
für sich gar nicht im Stande gewesen wäre — Delamarche schien sie
aus Furcht, sie könnte sich erkälten, erfasst und in die Wanne
gedrückt zu haben, denn mächtig klatschte es ins Wasser.
"Das
kannst du, Delamarche", sagte Brunelda ein wenig leiser,
"schmeicheln und immer wieder schmeicheln, wenn du etwas
schlecht gemacht hast." Dann war es ein Weilchen still. "Jetzt
küsst er sie", sagte Robinson und hob die Augenbrauen.
"Was
kommt jetzt für eine Arbeit?" fragte Josie. Da er sich nun
einmal entschlossen hatte, hier zu bleiben, wollte er auch gleich
seinen Dienst versehen. Er ließ Robinson, der nicht antwortete,
allein auf dem Kanapee und begann das große, von der Last der
Schläfer während der langen Nacht noch immer zusammengepresste
Lager auseinander zu werfen, um dann jedes einzelne Stück dieser
Masse ordentlich zusammenzulegen, was wohl schon seit Wochen nicht
geschehen war.
"Schau
nach, Delamarche", sagte da Brunelda, "ich glaube, sie
zerwerfen unser Bett. An alles muss man denken, niemals hat man Ruhe.
Du musst gegen die zwei strenger sein, sie machen sonst, was sie
wollen." "Das ist gewiss der Kleine mit seinem verdammten
Diensteifer", rief Delamarche und wollte wahrscheinlich aus dem
Waschraum hervor stürzen, Josie warf schon alles aus der Hand, aber
glücklicherweise sagte Brunelda: "Nicht weg gehn, Delamarche,
nicht weg gehn. Ach, wie ist das Wasser heiß, man wird so müde.
Bleib bei mir, Delamarche." Erst jetzt merkte Josie eigentlich,
wie der Wasserdampf hinter den Kästen unaufhörlich emporstieg.
Robinson
legte erschrocken die Hand an die Wange, als habe Josie etwas
Schlimmes angerichtet. "Alles in dem gleichen Zustand lassen, in
dem es war", erklang die Stimme Delamarches, "wisst ihr
denn nicht, dass Brunelda nach dem Bade immer noch eine Stunde ruht?
Elende Misswirtschaft! Wartet bis ich über euch komme. Robinson, du
träumst wahrscheinlich schon wieder. Dich, dich allein mache ich für
alles verantwortlich, was geschieht. Du hast den Jungen im Zaum zu
halten, hier wird nicht nach seinem Kopf gewirtschaftet. Wenn man
etwas will, kann man nichts von euch bekommen, wenn nichts zu tun
ist, seid ihr fleißig. Verkriecht euch irgendwohin und wartet, bis
man euch braucht."
Aber
gleich war alles vergessen, denn Brunelda flüsterte ganz müde, als
werde sie von dem heißen Wasser überflutet: "Das Parfüm!
Bringt das Parfüm!" "Das Parfüm!" schrie Delamarche.
"Rührt euch." Ja aber, wo war das Parfüm? Josie sah
Robinson an, Robinson sah Josie an. Josie merkte, dass er hier alles
allein in die Hand nehmen müsse, Robinson hatte keine Ahnung, wo das
Parfüm war, er legte sich einfach auf den Boden, fuhr immerfort mit
beiden Armen unter dem Kanapee herum, beförderte aber nichts anderes
als Knäuel von Staub und Frauenhaaren heraus. Josie eilte zuerst zum
Waschtisch, der gleich bei der Türe stand, aber in seinen Schubladen
fanden sich nur alte englische Romane, Zeitschriften und Noten vor
und alles war so überfüllt, dass man die Schubladen nicht schließen
konnte, wenn man sie einmal aufgemacht hatte. "Das Parfüm",
seufzte unterdessen Brunelda. "Wie lange das dauert! Ob ich
heute noch mein Parfüm bekomme!" Bei dieser Ungeduld Bruneldas
durfte natürlich Josie nirgends gründlich suchen, er musste sich
auf den oberflächlichen, ersten Eindruck verlassen. Im Waschkasten
war die Flasche nicht, auf dem Waschkasten standen überhaupt nur
alte Fläschchen mit Medizinen und Salben, alles andere war
jedenfalls schon in den Waschraum getragen worden. Vielleicht war die
Flasche in der Schublade des Esstisches. Auf dem Weg zum Esstisch
aber — Josie dachte nur an das Parfüm, sonst an nichts — stieß
er heftig mit Robinson zusammen, der das Suchen unter dem Kanapee
endlich aufgegeben hatte und in einer aufdämmernden Ahnung vom
Standort des Parfüms wie blind Josie entgegen lief. Man hörte
deutlich das Zusammenschlagen der Köpfe, Josie blieb stumm, Robinson
hielt zwar im Lauf nicht ein, schrie aber, um sich den Schmerz zu
erleichtern, andauernd und übertrieben laut.
"Statt
das Parfüm zu suchen, kämpfen sie", sagte Brunelda. "Ich
werde krank von dieser Wirtschaft, Delamarche, und werde ganz gewiss
in deinen Armen sterben. Ich muss das Parfüm haben", rief sie
dann sich aufraffend, "ich muss es unbedingt haben. Ich gehe
nicht früher aus der Wanne, ehe man es mir bringt und müsste ich
hier bis abends bleiben." Und sie schlug mit der Faust ins
Wasser, man hörte es aufspritzen.
Aber
auch in der Schublade des Esstisches war das Parfüm nicht, zwar
waren dort ausschließlich Toilettengegenstände Bruneldas, wie alte
Puderquasten, Schminktöpfchen, Haarbürsten, Löckchen und viele
verfitzte und zusammengeklebte Kleinigkeiten, aber das Parfüm war
dort nicht. Und auch Robinson, der noch immer schreiend in einer Ecke
von etwa hundert dort aufgehäuften Schachteln und Kassetten, eine
nach der andern öffnete und durchkramte, wobei immer die Hälfte des
Inhalts, meist Nähzeug und Briefschaften, auf den Boden fiel und
dort liegen blieb, konnte nichts finden, wie er zeitweise Josie durch
Kopfschütteln und Achselzucken anzeigte.
Da
sprang Delamarche in Unterkleidung aus dem Waschraum hervor, während
man Brunelda krampfhaft weinen hörte. Josie und Robinson ließen vom
Suchen ab und sahen Delamarche an, der ganz und gar durchnässt, auch
vom Gesicht und von den Haaren rann ihm das Wasser, ausrief: "Jetzt
also fangt gefälligst zu suchen an." "Hier!" befahl
er zuerst Josie zu suchen und dann "Dort!" Robinson. Josie
suchte wirklich und überprüfte auch noch die Plätze, zu denen
Robinson schon kommandiert worden war, aber er fand ebenso wenig das
Parfüm, wie Robinson, der eifriger, als er suchte, seitlich nach
Delamarche ausschaute, der soweit der Raum reichte, stampfend im
Zimmer auf- und abging und gewiss am liebsten sowohl Josie wie
Robinson durchgeprügelt hätte.
"Delamarche",
rief Brunelda, "komm mich doch wenigstens abtrocknen. Die zwei
finden ja das Parfum doch nicht und bringen nur alles in Unordnung.
Sie sollen sofort mit dem Suchen aufhören. Aber gleich! Und alles
aus der Hand legen! Und nichts mehr anrühren! Sie möchten wohl aus
der Wohnung einen Stall machen. Nimm sie beim Kragen, Delamarche,
wenn sie nicht aufhören! Aber sie arbeiten ja noch immer, gerade ist
eine Schachtel gefallen. Sie sollen sie nicht mehr aufheben, alles
liegen lassen und aus dem Zimmer heraus! Riegel hinter ihnen die Tür
zu und komm zu mir. Ich liege ja schon viel zu lange im Wasser, die
Beine habe ich schon ganz kalt."
"Gleich,
Brunelda, gleich", rief Delamarche und eilte mit Josie und
Robinson zur Tür. Ehe er sie aber entließ, gab er ihnen den
Auftrag, das Frühstück zu holen und womöglich von jemandem ein
gutes Parfüm für Brunelda auszuborgen.
"Das
ist eine Unordnung und ein Schmutz bei euch", sagte Josie
draußen auf dem Gang, "gleich wie wir mit dem Frühstück
zurückkommen, müssen wir zu ordnen anfangen."
"Wenn
ich nur nicht so leidend wäre", sagte Robinson. "Und diese
Behandlung!" Gewiss kränkte sich Robinson darüber, dass
Brunelda zwischen ihm, der sie doch schon monatelang bediente, und
Josie, der erst gestern eingetreten war, nicht den geringsten
Unterschied machte. Aber er verdiente es nicht besser und Josie
sagte: "Du musst dich ein wenig zusammennehmen." Um ihn
aber nicht gänzlich seiner Verzweiflung zu überlassen, fügte er
hinzu: "Es wird ja nur eine einmalige Arbeit sein. Ich werde dir
hinter den Kästen ein Lager machen, und wenn nur einmal alles ein
wenig geordnet ist, wirst du dort den ganzen Tag liegen können, dich
um gar nichts kümmern müssen und sehr bald gesund werden."
"Jetzt
siehst du es also selbst ein, wie es mit mir steht", sagte
Robinson und wandte das Gesicht von Josie ab, um mit sich und seinem
Leid allein zu sein. "Aber werden sie mich denn jemals ruhig
liegen lassen?"
"Wenn
du willst, werde ich darüber selbst mit Delamarche und Brunelda
reden."
"Nimmt
denn Brunelda irgendeine Rücksicht?" rief Robinson aus und
stieß, ohne dass er Josie darauf vorbereitet hätte, mit der Faust
eine Tür auf, zu der sie eben gekommen waren.
Sie
traten in eine Küche ein, von deren Herd, der reparaturbedürftig
schien, geradezu schwarze Wölkchen aufstiegen. Vor der Herdtüre
kniete eine der Frauen, die Josie gestern auf dem Korridor gesehen
hatte, und legte mit den bloßen Händen große Kohlenstücke in das
Feuer, das sie nach allen Richtungen hin prüfte. Dabei seufzte sie
in ihrer für eine alte Frau unbequemen knieenden Stellung.
"Natürlich,
da kommt auch noch diese Plage", sagte sie beim Anblick
Robinsons, erhob sich mühselig, die Hand auf der Kohlenkiste, und
schloss die Herdtüre, deren Griff sie mit ihrer Schürze umwickelt
hatte. "Jetzt, um vier Uhr nachmittags", — Josie staunte
die Küchenuhr an, — "müsst ihr noch frühstücken? Bande!"
"Setzt
euch", sagte sie dann, "und wartet, bis ich für euch Zeit
habe."
Robinson
zog Josie auf ein Bänkchen in der Nähe der Türe nieder und
flüsterte ihm zu: "Wir müssen ihr folgen. Wir sind nämlich
von ihr abhängig. Wir haben unser Zimmer von ihr gemietet und sie
kann uns natürlich jeden Augenblick kündigen. Aber wir können doch
nicht die Wohnung wechseln, wie sollen wir denn wieder alle die
Sachen wegschaffen und vor allem ist doch Brunelda nicht
transportabel."
"Und
hier auf dem Gang ist kein anderes Zimmer zu bekommen?" fragte
Josie.
"Es
nimmt uns ja niemand auf", antwortete Robinson, "im ganzen
Haus nimmt uns niemand auf."
So
saßen sie still auf ihrem Bänkchen und warteten. Die Frau lief
immerfort zwischen zwei Tischen, einem Waschbottich und dem Herd hin
und her. Aus ihren Ausrufen erfuhr man, dass ihre Tochter unwohl war
und sie deshalb alle Arbeit, nämlich die Bedienung und Verpflegung
von dreißig Mietern allein besorgen musste. Nun war noch überdies
der Ofen schadhaft, das Essen wollte nicht fertig werden, in zwei
riesigen Töpfen wurde eine dicke Suppe gekocht und wie oft die Frau
auch sie mit Schöpflöffeln untersuchte und aus der Höhe herab
fließen ließ, die Suppe wollte nicht gelingen, es musste wohl das
schlechte Feuer daran schuld sein und so setzte sie sich vor der
Herdtüre fast auf den Boden und arbeitete mit dem Schürhaken in der
glühenden Kohle herum. Der Rauch, von dem die Küche erfüllt war,
reizte sie zum Husten, der sich manchmal so verstärkte, dass sie
nach einem Stuhl griff und minutenlang nichts anderes tat als
hustete. Öfters machte sie die Bemerkung, dass sie das Frühstück
heute überhaupt nicht mehr liefern werde, weil sie dazu weder Zeit
noch Lust habe. Da Josie und Robinson einerseits den Befehl hatten,
das Frühstück zu holen, andererseits aber keine Möglichkeit, es zu
erzwingen, antworteten sie auf solche Bemerkungen nicht, sondern
blieben still sitzen wie zuvor.
Ringsherum
auf Sesseln und Fußbänkchen, auf und unter den Tischen, ja selbst
auf der Erde, in einen Winkel zusammengedrängt, stand noch das
ungewaschene Frühstücksgeschirr der Mieter. Da waren Kännchen, in
denen sich noch ein wenig Kaffee oder Milch vorfinden würde, auf
manchen Tellerchen gab es noch Überbleibsel von Butter, aus einer
umgefallenen, großen Blechbüchse waren Cakes weit heraus gerollt.
Es war schon möglich, aus dem allen ein Frühstück
zusammenzustellen, an dem Brunelda, wenn sie seinen Ursprung nicht
erfuhr, nicht das Geringste hätte aussetzen können. Als Josie das
bedachte und ein Blick auf die Uhr ihm zeigte, dass sie nun schon
eine halbe Stunde hier warteten und Brunelda vielleicht wütete und
Delamarche gegen die Dienerschaft aufhetzte, rief gerade die Frau aus
einem Husten heraus — während dessen sie Josie anstarrte: "Ihr
könnt hier schon sitzen, aber das Frühstück bekommt ihr nicht.
Dagegen bekommt ihr in zwei Stunden das Nachtmahl."
"Komm,
Robinson", sagte Josie, "wir werden uns das Frühstück
selbst zusammenstellen." "Wie?" rief die Frau mit
geneigtem Kopf. "Seien Sie doch bitte vernünftig", sagte
Josie, "warum wollen Sie uns denn das Frühstück nicht geben?
Nun warten wir schon eine halbe Stunde, das ist lang genug. Man
bezahlt ihnen doch alles und gewiss zahlen wir bessere Preise als
alle andern. Dass wir so spät frühstücken, ist gewiss für Sie
lästig, aber wir sind ihre Mieter, haben die Gewohnheit, spät zu
frühstücken, und Sie müssen sich eben auch ein wenig für uns
einrichten. Heute wird es Ihnen natürlich wegen der Krankheit ihres
Fräulein Tochter besonders schwer, aber dafür sind wir wieder
bereit, uns das Frühstück hier aus den Überbleibseln
zusammenzustellen, wenn es nicht anders geht, und Sie uns kein
frisches Essen geben."
Aber
die Frau wollte sich mit niemanden in eine freundschaftliche
Aussprache einlassen, für diese Mieter schienen ihr auch noch die
Überbleibsel des allgemeinen Frühstücks zu gut; aber andererseits
hatte sie die Zudringlichkeit der zwei Diener schon satt, packte
deshalb ein Tablett und stieß es Robinson gegen den Leib, der erst
nach einem Weilchen mit wehleidigem Gesicht begriff, dass er das
Tablett halten sollte, um das Essen, das die Frau aussuchen wollte,
in Empfang zu nehmen. Sie belud nun das Tablett in größter Eile
zwar mit einer Menge von Dingen, aber das Ganze sah eher wie ein
Haufen schmutzigen Geschirrs, nicht wie ein eben zu servierendes
Frühstück aus. Noch während die Frau sie hinaus drängte und sie
gebückt, als fürchteten sie Schimpfwörter oder Stöße, zur Türe
eilten, nahm Josie das Tablett Robinson aus den Händen, denn bei
Robinson schien es ihm nicht genug sicher.
Auf
dem Gang setzte sich Josie, nachdem sie weit genug von der Tür der
Vermieterin waren, mit dem Tablett auf den Boden, um vor allem das
Tablett zu reinigen, die zusammengehörigen Dinge zu sammeln, also
die Milch zusammen zu gießen, die verschiedenen Butterüberbleibsel
auf einen Teller zu kratzen, dann alle Anzeichen des Gebrauches zu
beseitigen, also die Messer und Löffel zu reinigen, die angebissenen
Brötchen gerade zu schneiden und so dem Ganzen ein besseres Ansehen
zu geben. Robinson hielt diese Arbeit für unnötig und behauptete,
das Frühstück hätte schon oft noch viel ärger ausgesehen, aber
Josie ließ sich durch ihn nicht abhalten und war noch froh, dass
sich Robinson mit seinen schmutzigen Fingern an der Arbeit nicht
beteiligen wollte. Um ihn in Ruhe zu halten, hatte ihm Josie gleich,
allerdings ein für allemal, wie er ihm dabei sagte, einige Cakes und
den dicken Bodensatz eines früher mit Schokolade gefüllten
Töpfchens zugewiesen.
Als
sie vor ihre Wohnung kamen und Robinson ohne weiteres die Hand an die
Klinke legte, hielt ihn Josie zurück, da es doch nicht sicher war,
ob sie eintreten durften. "Aber ja", sagte Robinson, "jetzt
frisiert er sie ja nur." Und tatsächlich saß in dem noch immer
ungelüfteten und verhängten Zimmer Brunelda mit weit auseinander
gestellten Beinen im Lehnstuhl und Delamarche, der hinter ihr stand,
kämmte mit tief herab gebeugtem Gesicht ihr kurzes, wahrscheinlich
sehr verfilztes Haar. Brunelda trug wieder ein ganz loses Kleid,
diesmal aber von blassrosa Farbe, es war vielleicht ein wenig kürzer
als das gestrige, wenigstens sah man die weißen, grob gestrickten
Strümpfe fast bis zum Knie. Ungeduldig über die lange Dauer des
Kämmens, fuhr Brunelda mit der dicken roten Zunge zwischen den
Lippen hin und her, manchmal riss sie sich sogar mit dem Ausruf "Aber
Delamarche!" gänzlich von Delamarche los, der mit erhobenem
Kamm ruhig wartete, bis sie den Kopf wieder zurücklegte.
"Es
hat lange gedauert", sagte Brunelda im Allgemeinen und zu Josie
insbesondere sagte sie: "Du musst ein wenig flinker sein, wenn
du willst, dass man mit dir zufrieden ist. An dem faulen und
gefräßigen Robinson darfst du dir kein Beispiel nehmen. Ihr habt
wohl schon inzwischen irgendwo gefrühstückt, ich sage euch,
nächstens dulde ich das nicht."
Das
war sehr ungerecht und Robinson schüttelte auch den Kopf und
bewegte, allerdings lautlos, die Lippen, Josie jedoch sah ein, dass
man auf die Herrschaft nur dadurch einwirken könne, dass man ihr
zweifellose Arbeit zeige. Er zog daher ein niedriges japanisches
Tischchen aus einem Winkel, überdeckte es mit einem Tuch und stellte
die mitgebrachten Sachen auf. Wer den Ursprung des Frühstücks
gesehen hatte, konnte mit dem Ganzen zufrieden sein, sonst aber war,
wie sich Josie sagen musste, manches daran auszusetzen.
Glücklicherweise
hatte Brunelda Hunger. Wohlgefällig nickte sie Josie zu, während er
alles vorbereitete und öfters hinderte sie ihn, indem sie vorzeitig
mit ihrer weichen, fetten, womöglich gleich alles zerdrückenden
Hand irgendeinen Bissen für sich hervorholte. "Er hat es gut
gemacht", sagte sie schmatzend und zog Delamarche, der den Kamm
in ihrem Haar für die spätere Arbeit stecken ließ, neben sich auf
einen Sessel nieder. Auch Delamarche wurde im Anblick des Essens
freundlich, beide waren sehr hungrig, ihre Hände eilten kreuz und
quer über das Tischchen. Josie erkannte, dass man hier, um zu
befriedigen, nur immer möglichst viel bringen musste und in
Erinnerung daran, dass er in der Küche noch verschiedene brauchbare
Esswaren auf dem Boden liegen gelassen hatte, sagte er: "Zum
ersten Mal habe ich nicht gewusst, wie alles eingerichtet werden
soll, nächstes Mal werde ich es besser machen." Aber noch
während des Redens erinnerte er sich, zu wem er sprach, er war zu
sehr von der Sache selbst befangen gewesen.
Brunelda
nickte Delamarche befriedigt zu und reichte Josie zum Lohn eine
Handvoll Keks.
Kapitel
IX: Auszug
Eines
Morgens schob Josie den Krankenwagen, in dem Brunelda saß, aus dem
Haustor. Es war nicht mehr so früh, wie er gehofft hatte. Sie waren
übereingekommen, die Auswanderung noch in der Nacht zu
bewerkstelligen, um in den Gassen kein Aufsehen zu erregen, das bei
Tag unvermeidlich gewesen wäre, so bescheiden auch Brunelda mit
einem großen, grauen Tuch sich bedecken wollte. Aber der Transport
über die Treppe hatte zu lange gedauert, trotz der bereitwilligsten
Mithilfe des Studenten, der viel schwächer als Josie war, wie sich
bei dieser Gelegenheit herausstellte. Brunelda hielt sich sehr
tapfer, seufzte kaum und suchte ihren Trägern die Arbeit auf alle
Weise zu erleichtern. Aber es ging doch nicht anders, als dass man
sie auf jeder fünften Treppenstufe nieder setzte, um sich selbst und
ihr die Zeit zum notwendigsten Ausruhen zu gönnen. Es war ein kühler
Morgen, auf den Gängen wehte kalte Luft, wie in Kellern, aber Josie
und der Student waren ganz in Schweiß und mussten während der
Ruhepausen jeder ein Zipfel von Bruneldas Tuch, das sie ihnen
übrigens freundlich reichte, nehmen, um das Gesicht zu trocknen. So
kam es, dass sie erst nach zwei Stunden unten anlangten, wo schon vom
Abend her das Wägelchen stand. Das Hineinheben Bruneldas gab noch
eine gewisse Arbeit, dann aber durfte man das Ganze für gelungen
ansehn, denn das Schieben des Wagens musste dank den hohen Rädern
nicht schwer sein und es blieb nur die Befürchtung, dass der Wagen
unter Brunelda aus den Fugen gehen würde. Diese Gefahr musste man
allerdings auf sich nehmen, man konnte nicht einen Ersatzwagen
mitführen, zu dessen Bereitstellung und Führung der Student halb im
Scherz sich angeboten hatte. Es erfolgte nun die Verabschiedung vom
Studenten, die sogar sehr herzlich war. Alle Nichtübereinstimmung
zwischen Brunelda und dem Studenten schien vergessen, er
entschuldigte sich sogar wegen der alten Beleidigung Bruneldas, die
er sich bei ihrer Krankheit hatte zu Schulden kommen lassen, aber
Brunelda sagte, alles sei längst vergessen und mehr als gut gemacht.
Schließlich bat sie den Studenten, er möge zum Andenken an sie
einen Dollar freundlichst annehmen, den sie mühselig aus ihren
vielen Röcken hervor suchte. Dieses Geschenk war bei Bruneldas
bekanntem Geiz sehr bedeutungsvoll, der Student hatte auch wirklich
große Freude davon und warf vor Freude die Münze hoch in die Luft.
Dann allerdings musste er sie auf dem Boden suchen und Josie musste
ihm helfen, schließlich fand sie auch Josie unter dem Wagen
Bruneldas. Der Abschied zwischen dem Studenten und Josie war
natürlich viel einfacher, sie reichten einander nur die Hand und
sprachen die Überzeugung aus, dass sie einander wohl noch einmal
sehen würden und dass dann wenigstens einer von ihnen — der
Student behauptete es von Josie, Josie vom Studenten — etwas
Rühmenswertes erreicht haben würde, was bisher leider nicht der
Fall war. Dann fasste Josie mit gutem Mut den Griff des Wagens und
schob ihn aus dem Tor. Der Student sah ihnen solange nach, als sie
noch zu sehen waren und winkte mit einem Tuch. Josie nickte oft
grüßend zurück, auch Brunelda hätte sich gerne umgewendet, aber
solche Bewegungen waren für sie zu anstrengend. Um ihr doch noch
einen letzten Abschied zu ermöglichen, führte Josie am Ende der
Straße den Wagen in einem Kreis herum, so dass auch Brunelda den
Studenten sehen konnte, der diese Gelegenheit ausnützte, um mit dem
Tuch besonders eifrig zu winken.
Dann
aber sagte Josie, jetzt dürften sie sich keinen Aufenthalt mehr
gönnen, der Weg sei lang und sie seien viel später ausgefahren, als
es beabsichtigt war. Tatsächlich sah man schon hier und da Fuhrwerke
und, wenn auch sehr vereinzelt, Leute, die zur Arbeit gingen. Josie
hatte mit seiner Bemerkung nichts weiter sagen wollen, als was er
wirklich gesagt hatte, Brunelda aber fasste es in ihrem Zartgefühl
anders auf und bedeckte sich ganz und gar mit ihrem grauen Tuch.
Josie wendete nichts dagegen ein; der mit einem grauen Tuch bedeckte
Handwagen war zwar sehr auffällig, aber unvergleichlich weniger
auffällig als die unbedeckte Brunelda gewesen wäre. Er fuhr sehr
vorsichtig; ehe er um eine Ecke bog, beobachtete er die nächste
Straße, ließ sogar, wenn es nötig schien, den Wagen stehn und ging
allein paar Schritte voraus; sah er irgendeine, vielleicht
unangenehme Begegnung voraus, so wartete er, bis sie sich vermeiden
ließ oder wählte sogar den Weg durch eine ganz andere Straße.
Selbst dann kam er, da er alle möglichen Wege vorher genau studiert
hatte, niemals in die Gefahr, einen bedeutenden Umweg zu machen.
Allerdings erschienen Hindernisse, die zwar zu befürchten gewesen
waren, sich aber im Einzelnen nicht hatten vorhersehen lassen. So
trat plötzlich in einer Straße, die leicht ansteigend, weit zu
überblicken und erfreulicherweise vollständig leer war, ein
Vorteil, den Josie durch besondere Eile auszunützen suchte, aus dem
dunklen Winkel eines Haustors ein Polizeimann und fragte Josie, was
er denn in dem so sorgfältig verdeckten Wagen führe. So streng er
aber Josie angesehen hatte, so musste er doch lächeln, als er die
Decke lüftete und das erhitzte, ängstliche Gesicht Bruneldas
erblickte. "Wie?" sagte er. "Ich dachte, du hättest
hier zehn Kartoffelsäcke und jetzt ist es ein einziges Frauenzimmer?
Wohin fahrt ihr denn? Wer seid ihr?" Brunelda wagte gar nicht,
den Polizeimann anzusehen, sondern blickte nur immer auf Josie, mit
dem deutlichen Zweifel, dass selbst er sie nicht werde erretten
können. Josie hatte aber schon genug Erfahrungen mit Polizisten, ihm
schien das ganze nicht sehr gefährlich. "Zeigen Sie doch,
Fräulein", sagte er, "das Schriftstück, das Sie bekommen
haben." "Ach ja", sagte Brunelda und begann in einer
so hoffnungslosen Weise zu suchen, dass sie wirklich verdächtig
erscheinen musste. "Das Fräulein", sagte der Polizeimann
mit zweifelloser Ironie, "wird das Schriftstück nicht finden."
"Oh ja", sagte Josie ruhig, "sie hat es bestimmt, sie
hat es nur verlegt." Er begann nun selbst zu suchen und zog es
tatsächlich hinter Bruneldas Rücken hervor. Der Polizeimann sah es
nur flüchtig an. "Das ist es also", sagte der Polizeimann
lächelnd, "so ein Fräulein ist das Fräulein? Und Sie,
Kleiner, besorgen die Vermittlung und den Transport? Wissen Sie
wirklich keine bessere Beschäftigung zu finden?" Josie zuckte
bloß die Achseln, das waren wieder die bekannten Einmischungen der
Polizei. "Na, glückliche Reise", sagte der Polizeimann,
als er keine Antwort bekam. In den Worten des Polizeimanns lag
wahrscheinlich Verachtung, dafür fuhr auch Josie ohne Gruß weiter,
Verachtung der Polizei war besser als ihre Aufmerksamkeit.
Kurz
darauf hatte er eine womöglich noch unangenehmere Begegnung. Es
machte sich nämlich an ihn ein Mann heran, der einen Wagen mit
großen Milchkannen vor sich herschob und äußerst gern erfahren
hätte, was unter dem grauen Tuch auf Josies Wagen lag. Es war nicht
anzunehmen, dass er den gleichen Weg wie Josie hatte, dennoch aber
blieb er ihm zur Seite, so überraschende Wendungen Josie auch
machte. Zuerst begnügte er sich mit Ausrufen, wie z.B. "Du
musst eine schwere Last haben" oder "Du hast schlecht
aufgeladen, oben wird etwas herausfallen." Später aber fragte
er geradezu: "Was hast du denn unter dem Tuch?" Josie
sagte: "Was kümmert's dich?" Aber da das den Mann noch
neugieriger machte, sagte Josie schließlich: "Es sind Äpfel."
"So viel Äpfel", sagte der Mann staunend und hörte nicht
auf, diesen Ausruf zu wiederholen. "Das ist ja eine ganze
Ernte", sagte er dann. "Nun ja", sagte Josie. Aber sei
es, dass er Josie nicht glaubte, sei es, dass er ihn ärgern wollte,
er ging noch weiter, begann — alles während der Fahrt — die Hand
wie zum Scherz nach dem Tuch auszustrecken und wagte es endlich
sogar, an dem Tuch zu zupfen. Was musste Brunelda leiden! Aus
Rücksicht auf sie wollte sich Josie in keinen Streit mit dem Mann
einlassen und fuhr in das nächste, offene Tor ein, als sei dies sein
Ziel gewesen. "Hier bin ich zuhause", sagte er, "Dank
für die Begleitung." Der Mann blieb erstaunt vor dem Tor stehen
und sah Josie nach, der ruhig daranging, wenn es sein musste, den
ganzen ersten Hof zu durchqueren. Der Mann konnte nicht mehr
zweifeln, aber um seiner Bosheit ein letztes Mal zu genügen, ließ
er seinen Wagen stehen, lief Josie auf den Fußspitzen nach und riss
so stark an dem Tuch, dass er Bruneldas Gesicht fast entblößt
hätte. "Damit deine Äpfel Luft bekommen", sagte er und
lief zurück. Auch das nahm Josie noch hin, da es ihn endgültig von
dem Mann befreite. Er führte dann den Wagen in einen Hofwinkel, wo
einige große leere Kisten standen, in deren Schutz er unter dem Tuch
Brunelda einige beruhigende Worte sagen wollte. Aber er musste lange
auf sie einreden, denn sie war ganz in Tränen und flehte ihn allen
Ernstes an, hier hinter den Kisten den ganzen Tag zu bleiben und erst
in der Nacht weiter zu fahren. Vielleicht hätte er allein sie gar
nicht davon überzeugen können, wie verfehlt das gewesen wäre, als
aber jemand am andern Ende des Kistenhaufens eine leere Kiste unter
ungeheuerem, im leeren Hof widerhallenden Lärm zu Boden warf,
erschrak sie so, dass sie ohne ein Wort mehr zu wagen, das Tuch über
sich zog und wahrscheinlich glückselig war, als Josie kurz
entschlossen sofort zu fahren begann.
Die
Straßen wurden jetzt zwar immer belebter, aber die Aufmerksamkeit,
die der Wagen erregte, war nicht so groß, wie Josie befürchtet
hatte. Vielleicht wäre es überhaupt klüger gewesen, eine andere
Zeit für den Transport zu wählen. Wenn eine solche Fahrt wieder
nötig werden sollte, wollte sich Josie getrauen, sie in der
Mittagsstunde auszuführen. Ohne schwerer belästigt worden zu sein,
bog er endlich in die schmale, dunkle Gasse ein, in der das
Unternehmen Nr. 25 sich befand. Vor der Tür stand der schielende
Verwalter mit der Uhr in der Hand. "Bist du immer so
unpünktlich?" fragte er. "Es gab verschiedene
Hindernisse", sagte Josie. "Die gibt es bekanntlich immer",
sagte der Verwalter. "Hier im Haus gelten sie aber nicht. Merk
dir das!" Auf solche Reden hörte Josie kaum mehr hin, jeder
nützte seine Macht aus und beschimpfte den Niedrigen. War man einmal
daran gewöhnt, klang es nicht anders, als das regelmäßige
Uhrenschlagen. Wohl aber erschreckte ihn, als er jetzt den Wagen in
den Flur schob, der Schmutz, der hier herrschte und den er allerdings
erwartet hatte. Es war, wenn man näher zusah, kein fassbarer
Schmutz. Der Steinboden des Flurs war fast rein gekehrt, die Malerei
der Wände nicht alt, die künstlichen Palmen nur wenig verstaubt,
und doch war alles fettig und abstoßend, es war, als wäre von allem
ein schlechter Gebrauch gemacht worden und als wäre keine
Reinlichkeit mehr im Stande, das wieder gut zu machen. Josie dachte
gern, wenn er irgendwohin kam, darüber nach, was hier verbessert
werden könne und welche Freude es sein müsste, sofort einzugreifen,
ohne Rücksicht auf die vielleicht endlose Arbeit, die es verursachen
würde. Hier aber wusste er nicht, was zu tun wäre. Langsam nahm er
das Tuch von Brunelda ab. "Willkommen, Fräulein", sagte
der Verwalter geziert, es war kein Zweifel, dass Brunelda einen guten
Eindruck auf ihn machte. Sobald Brunelda dies merkte, verstand sie
das, wie Josie befriedigt sah, gleich auszunützen. Alle Angst der
letzten Stunden verschwand.
Kapitel
X: Theater von Oklahama
Josie
sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: "Auf
dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis
Mitternacht Personal für das Theater in Oklahama aufgenommen! Das
große Theater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal!
Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an
seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer
Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden
brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden
hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit
ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf wird alles
geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht
glaubt! Auf nach Clayton!"
Es
standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel
Beifall zu finden. Es gab so viele Plakate, Plakaten glaubte niemand
mehr. Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher als Plakate sonst
zu sein pflegen. Vor allem aber hatte es einen großen Fehler, es
stand kein Wort von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein wenig
erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiss genannt; es
hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden wollte
niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.
Für
Josie stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung. "Jeder
war willkommen", hieß es. Jeder, also auch Josie. Alles, was er
bisher getan hatte, war vergessen, niemand wollte ihm daraus einen
Vorwurf machen. Er durfte sich zu einer Arbeit melden, die keine
Schande war, zu der man vielmehr öffentlich einladen konnte! Und
ebenso öffentlich wurde das Versprechen gegeben, dass man auch ihn
annehmen würde. Er verlangte nichts Besseres, er wollte endlich den
Anfang einer anständigen Laufbahn finden, und hier zeigte er sich
vielleicht. Mochte alles Großsprecherische, was auf dem Plakate
stand, eine Lüge sein, mochte das große Theater von Oklahama ein
kleiner Wanderzirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, das war
genügend. Josie las das Plakat nicht zum zweiten Male, suchte aber
noch einmal den Satz: "Jeder ist willkommen" hervor.
Zuerst
dachte er daran, zu Fuß nach Clayton zu gehen, aber das wären drei
Stunden angestrengten Marsches gewesen, und er wäre dann
möglicherweise gerade zurechtgekommen, um zu erfahren, dass man
schon alle verfügbaren Stellen besetzt hätte. Nach dem Plakat war
allerdings die Zahl der Aufzunehmenden unbegrenzt, aber so waren
immer alle derartigen Stellenangebote abgefasst. Josie sah ein, dass
er entweder auf die Stelle verzichten oder fahren musste. Er
überrechnete sein Geld, es hätte ohne diese Fahrt für acht Tage
gereicht, er schob die kleinen Münzen auf der flachen Hand hin und
her. Ein Herr, der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf die Schulter
und sagte: "Viel Glück zur Fahrt nach Clayton." Josie
nickte stumm und rechnete weiter. Aber er entschloss sich bald,
teilte das für die Fahrt notwendige Geld ab und lief zur
Untergrundbahn.
Als
er in Clayton ausstieg, hörte er gleich den Lärm vieler Trompeten.
Es war ein wirrer Lärm, die Trompeten waren nicht gegeneinander
abgestimmt, es wurde rücksichtslos geblasen. Aber das störte Josie
nicht, es bestätigte ihm vielmehr, dass das Theater von Oklahama ein
großes Unternehmen war. Aber als er aus dem Stationsgebäude trat
und die ganze Anlage vor sich überblickte, sah er, dass alles noch
größer war, als er nur irgendwie hatte denken können, und er
begriff nicht, wie ein Unternehmen, nur zu dem Zweck um Personal zu
erhalten, derartige Aufwendungen machen konnte. Vor dem Eingang zum
Rennplatz war ein langes, niedriges Podium aufgebaut, auf dem
hunderte Frauen als Engel gekleidet in weißen Tüchern mit großen
Flügeln am Rücken auf langen, goldglänzenden Trompeten bliesen.
Sie waren aber nicht unmittelbar auf dem Podium, sondern jede stand
auf einem Postament, das aber nicht zu sehen war, denn die langen,
wehenden Tücher der Engelskleidung hüllten es vollständig ein. Da
nun die Postamente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen
die Gestalten der Frauen riesenhaft aus, nur ihre kleinen Köpfe
störten ein wenig den Eindruck der Größe, auch ihr gelöstes Haar
hing zu kurz und fast lächerlich zwischen den großen Flügeln und
an den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte man
Postamente in der verschiedensten Größe verwendet, es gab ganz
niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben ihnen
schwangen sich andere Frauen in solche Höhe hinauf, dass man sie
beim leichtesten Windstoß in Gefahr glaubte. Und nun bliesen alle
diese Frauen.
Es
gab nicht viele Zuhörer. Klein im Vergleich zu den großen Gestalten
gingen etwa zehn Burschen vor dem Podium hin und her und blickten zu
den Frauen hinauf. Sie zeigten einander diese oder jene, sie schienen
aber nicht die Absicht zu haben, einzutreten und sich aufnehmen zu
lassen. Nur ein einziger, älterer Mann war zu sehen, er stand ein
wenig abseits. Er hatte gleich auch seine Frau und ein Kind im
Kinderwagen mitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Hand den Wagen,
mit der anderen stützte sie sich auf die Schulter des Mannes. Sie
bewunderten zwar das Schauspiel, aber man erkannte doch, dass sie
enttäuscht waren. Sie hatten wohl auch erwartet, eine
Arbeitsgelegenheit zu finden, dieses Trompetenblasen aber beirrte
sie.
Josie
war in der gleichen Lage. Er trat in die Nähe des Mannes, hörte ein
wenig den Trompeten zu und sagte dann: "Hier ist doch die
Aufnahmestelle für das Theater von Oklahama?" "Ich glaubte
es auch", sagte der Mann, "aber wir warten hier schon seit
einer Stunde und hören nichts als die Trompeten. Nirgends ist ein
Plakat zu sehn, nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Auskunft
geben könnte." Josie sagte: "Vielleicht wartet man, bis
mehr Leute zusammenkommen. Es sind wirklich noch sehr wenig hier."
"Möglich", sagte der Mann und sie schwiegen wieder. Es war
auch schwer, im Lärm der Trompeten etwas zu verstehen. Aber dann
flüsterte die Frau etwas ihrem Manne zu, er nickte und sie rief
gleich Josie an: "Könnten Sie nicht in die Rennbahn
hinübergehen und fragen, wo die Aufnahme stattfindet." "Ja",
sagte Josie, "aber ich müsste über das Podium gehen, zwischen
den Engeln durch." "Ist das so schwierig?" fragte die
Frau. Für Josie erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann aber wollte
sie nicht ausschicken. "Nun ja", sagte Josie, "ich
werde gehen." "Sie sind sehr gefällig", sagte die
Frau und sie, wie auch ihr Mann drückten Josie die Hand. Die
Burschen liefen zusammen, um aus der Nähe zu sehen, wie Josie auf
das Podium stieg. Es war, als bliesen die Frauen stärker, um den
ersten Stellensuchenden zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren
Postament Josie gerade vorüber ging, gaben sogar die Trompeten vom
Munde und beugten sich zur Seite, um seinen Weg zu verfolgen. Josie
sah auf dem andern Ende des Podiums einen unruhig auf und ab gehenden
Mann, der offenbar nur auf Leute wartete, um ihnen alle Auskunft zu
geben, die man nur wünschen konnte. Josie wollte schon auf ihn
zugehen, da hörte er über sich seinen Namen rufen: "Josie",
rief ein Engel. Josie sah auf und fing vor freudiger Überraschung zu
lachen an; es war Fanny. "Fanny", rief er und grüßte mit
der Hand hinauf. "Komm doch her", rief Fanny, "du
wirst doch nicht an mir vorüber laufen." Und sie schlug die
Tücher auseinander, so dass das Postament und eine schmale Treppe,
die hinaufführte, frei gelegt wurde. "Ist es erlaubt hinauf zu
gehen?" fragte Josie. "Wer will es uns verbieten, dass wir
einander die Hand drücken", rief Fanny und blickte sich erzürnt
um, ob nicht etwa schon jemand mit dem Verbote käme. Josie lief aber
schon die Treppe hinauf. "Langsamer", rief Fanny, "das
Postament und wir beide stürzen um." Aber es geschah nichts,
Josie kam glücklich bis zur letzten Stufe. "Sieh nur",
sagte Fanny, nachdem sie einander begrüßt hatten, "sieh nur
was für eine Arbeit ich bekommen habe." "Es ist ja schön",
sagte Josie und sah sich um. Alle Frauen in der Nähe hatten schon
Josie bemerkt und kicherten. "Du bist fast die Höchste",
sagte Josie und streckte die Hand aus, um die Höhe der andern
abzumessen. "Ich habe dich gleich gesehen", sagte Fanny,
"als du aus der Station kamst, aber ich bin leider hier in der
letzten Reihe, man sieht mich nicht und rufen konnte ich auch nicht.
Ich habe zwar besonders laut geblasen, aber du hast mich nicht
erkannt." "Ihr blast ja alle schlecht", sagte Josie.
"Lass mich einmal blasen." "Aber gewiss", sagte
Fanny und reichte ihm die Trompete, "aber verdirb den Chor
nicht, sonst entlässt man mich." Josie fing zu blasen an, er
hatte gedacht, es sei eine grob gearbeitete Trompete, nur zum Lärm
machen bestimmt, aber nun zeigte sich, dass es ein Instrument war,
das fast jede Feinheit ausführen konnte. Waren alle Instrumente von
gleicher Beschaffenheit, so wurde ein großer Missbrauch mit ihnen
getrieben. Josie blies, ohne sich vom Lärm der andern stören zu
lassen, mit voller Brust ein Lied, das er irgendwo in einer Kneipe
einmal gehört hatte. Er war froh, eine alte Freundin getroffen zu
haben, hier vor allen bevorzugt die Trompete blasen zu dürfen und
möglicherweise bald eine gute Stellung bekommen zu können. Viele
Frauen hörten zu blasen auf und hörten zu; als er plötzlich
abbrach, war kaum die Hälfte der Trompeten in Tätigkeit, erst
allmählich kam wieder der vollständige Lärm zu Stande. "Du
bist ein Künstler", sagte Fanny, als Josie ihr die Trompete
wieder reichte. "Lass dich als Trompeter aufnehmen."
"Werden denn auch Männer aufgenommen?" fragte Josie. "Ja",
sagte Fanny, "wir blasen zwei Stunden. Dann werden wir von
Männern, die als Teufel angezogen sind, abgelöst. Die Hälfte
bläst, die Hälfte trommelt. Es ist sehr schön, wie überhaupt die
ganze Ausstattung sehr kostbar ist. Ist nicht auch unser Kleid sehr
schön? Und die Flügel?" Sie sah an sich hinab. "Glaubst
du", fragte Josie, "dass auch ich noch eine Stelle bekommen
werde?" "Ganz bestimmt", sagte Fanny, "es ist ja
das größte Theater der Welt. Wie gut es sich trifft, dass wir
wieder beisammen sein werden. Allerdings kommt es darauf an, was für
eine Stelle du bekommst. Es wäre nämlich auch möglich, dass wir,
auch wenn wir beide hier angestellt sind, uns doch gar nicht sehen."
"Ist denn das Ganze wirklich so groß?" fragte Josie. "Es
ist das größte Theater der Welt", sagte Fanny nochmals, "ich
habe es allerdings selbst noch nicht gesehen, aber manche meiner
Kolleginnen, die schon in Oklahama waren, sagen, es sei fast
grenzenlos." "Es melden sich aber wenig Leute", sagte
Josie und zeigte hinunter auf die Burschen und die kleine Familie.
"Das ist wahr", sagte Fanny. "Bedenke aber, dass wir
in allen Städten Leute aufnehmen, dass unsere Werbetruppe immerfort
reist und dass es noch viele solche Truppen gibt." "Ist
denn das Theater noch nicht eröffnet?" fragte Josie. "Oh
ja", sagte Fanny, "es ist ein altes Theater, aber es wird
immerfort vergrößert." "Ich wundere mich", sagte
Josie, "dass sich nicht mehr Leute dazu drängen." "Ja",
sagte Fanny, "es ist merkwürdig." "Vielleicht",
sagte Josie, "schreckt dieser Aufwand an Engeln und Teufeln mehr
ab, als er anzieht." "Wie du das herausfinden kannst",
sagte Fanny. "Es ist aber möglich. Sag es unserem Führer,
vielleicht kannst du ihm dadurch nützen." "Wo ist er?"
fragte Josie. "In der Rennbahn", sagte Fanny, "auf der
Schiedsrichtertribüne." "Auch das wundert mich",
sagte Josie, "warum geschieht denn die Aufnahme auf der
Rennbahn?" "Ja", sagte Fanny, "wir machen überall
die größten Vorbereitungen für den größten Andrang. Auf der
Rennbahn ist eben viel Platz. Und in allen Ständen, wo sonst die
Wetten abgeschlossen werden, sind die Aufnahmskanzleien eingerichtet.
Es sollen zweihundert verschiedene Kanzleien sein." "Aber",
rief Josie, "hat denn das Theater von Oklahama so große
Einkünfte, um derartige Werbetruppen erhalten zu können?" "Was
kümmert uns denn das", sagte Fanny, "aber nun, Josie, geh,
damit du nichts versäumst, ich muss auch wieder blasen. Versuche auf
jeden Fall einen Posten bei dieser Truppe zu bekommen und komm gleich
zu mir, es melden. Denke daran, dass ich in großer Unruhe auf die
Nachricht warte." Sie drückte ihm die Hand, ermahnte ihn zur
Vorsicht beim Hinabsteigen, setzte wieder die Trompete an die Lippen,
blies aber nicht früher, ehe sie Josie unten auf dem Boden in
Sicherheit sah. Josie legte wieder die Tücher über die Treppe, so
wie sie früher gewesen waren, Fanny dankte durch Kopfnicken, und
Josie ging, das eben Gehörte nach verschiedenen Richtungen hin
überlegend auf den Mann zu, der schon Josie oben bei Fanny gesehen
und sich dem Postament genähert hatte, um ihn zu erwarten.
"Sie
wollen bei uns eintreten?" fragte der Mann. "Ich bin der
Personalchef dieser Truppe und heiße Sie willkommen." Er war
ständig, wie aus Höflichkeit, ein wenig vorgebeugt, tänzelte,
trotzdem er sich nicht von der Stelle rührte und spielte mit seiner
Uhrkette. "Ich danke", sagte Josie, "ich habe das
Plakat ihrer Gesellschaft gelesen und melde mich, wie es dort
verlangt wird." "Sehr richtig", sagte der Mann
anerkennend, "leider verhält sich hier nicht jeder so richtig."
Josie dachte daran, dass er jetzt den Mann darauf aufmerksam machen
könnte, dass möglicherweise die Lockmittel der Werbetruppe gerade
wegen ihrer Großartigkeit versagten. Aber er sagte es nicht, denn
dieser Mann war gar nicht der Führer der Truppe, und außerdem wäre
es wenig empfehlend gewesen, wenn er, der noch gar nicht aufgenommen
war, gleich Verbesserungsvorschläge gemacht hätte. Darum sagte er
nur: "Es wartet draußen noch einer, der sich auch anmelden will
und der mich nur vorausgeschickt hat. Darf ich ihn jetzt holen?"
"Natürlich", sagte der Mann, "je mehr kommen, desto
besser." "Er hat auch eine Frau bei sich, und ein kleines
Kind im Kinderwagen. Sollen die auch kommen?" "Natürlich",
sagte der Mann und schien über Josies Zweifel zu lächeln. "Wir
können alle brauchen." "Ich bin gleich wieder zurück",
sagte Josie und lief wieder zurück an den Rand des Podiums. Er
winkte dem Ehepaar zu und rief, dass alle kommen dürften. Er half
den Kinderwagen auf das Podium heben und sie gingen nun gemeinsam.
Die Burschen, die das sahen, berieten sich miteinander, stiegen dann
langsam, bis zum letzten Augenblick noch zögernd, die Hände in den
Taschen auf das Podium hinauf und folgten schließlich Josie und der
Familie. Eben kamen aus dem Stationsgebäude der Untergrundbahn neue
Passagiere hervor, die angesichts des Podiums mit den Engeln staunend
die Arme erhoben. Immerhin schien es, als ob die Bewerbung um Stellen
nun doch lebhafter werden solle. Josie war sehr froh, so früh,
vielleicht als Erster gekommen zu sein, das Ehepaar war ängstlich
und stellte verschiedene Fragen darüber, ob große Anforderungen
gestellt würden. Josie sagte, er wisse noch nichts Bestimmtes, er
hätte aber wirklich den Eindruck erhalten, dass jeder ohne Ausnahme
genommen würde. Er glaube, man dürfe getrost sein.
Der
Personalchef kam ihnen schon entgegen, war sehr zufrieden, dass so
viele kamen, rieb sich die Hände, grüßte jeden Einzelnen durch
eine kleine Verbeugung und stellte sie alle in eine Reihe. Josie war
der erste, dann kam das Ehepaar und dann erst die andern. Als sie
sich alle aufgestellt hatten, die Burschen drängten sich zuerst
durcheinander und es dauerte ein Weilchen, ehe bei ihnen Ruhe
eintrat, sagte der Personalchef, während die Trompeten verstummten:
"Im Namen des Theaters von Oklahama begrüße ich Sie. Sie sind
früh gekommen", es war aber schon bald Mittag, "das
Gedränge ist noch nicht groß, die Formalitäten ihrer Aufnahme
werden daher bald erledigt sein. Sie haben natürlich alle ihre
Legitimationspapiere bei sich." Die Burschen holten gleich
irgendwelche Papiere aus den Taschen und schwenkten sie gegen den
Personalchef hin, der Ehemann stieß seine Frau an, die unter dem
Federbett des Kinderwagens ein ganzes Bündel Papiere hervor zog,
Josie allerdings hatte keine. Sollte das ein Hindernis für seine
Aufnahme werden? Es war nicht unwahrscheinlich. Immerhin wusste Josie
aus Erfahrung, dass sich derartige Vorschriften, wenn man nur ein
wenig entschlossen ist, leicht umgehen lassen. Der Personalchef
überblickte die Reihe, vergewisserte sich, dass alle Papiere hatten,
und da auch Josie die Hand, allerdings die leere Hand, erhob, nahm er
an, auch bei ihm sei alles in Ordnung. "Es ist gut", sagte
dann der Personalchef und winkte den Burschen ab, die ihre Papiere
gleich untersucht haben wollten, "die Papiere werden jetzt in
den Aufnahmekanzleien überprüft werden. Wie Sie schon aus unserem
Plakat gesehen haben, können wir jeden brauchen. Wir müssen aber
natürlich wissen, was für einen Beruf er bisher ausgeübt hat,
damit wir ihn an den richtigen Ort stellen können, wo er seine
Kenntnisse verwerten kann." "Es ist ja ein Theater",
dachte Josie zweifelnd und hörte sehr aufmerksam zu. "Wir haben
daher", fuhr der Personalchef fort, "in den Buchmacherbuden
Aufnahmekanzleien eingerichtet, je eine Kanzlei für eine
Berufsgruppe. Jeder von ihnen wird mir also jetzt seinen Beruf
angeben, die Familie gehört im Allgemeinen zur Aufnahmekanzlei des
Mannes, ich werde Sie dann zu den Kanzleien führen, wo zuerst ihre
Papiere und dann ihre Kenntnisse von Fachmännern überprüft werden
sollen — es wird nur eine ganz kurze Prüfung sein, niemand muss
sich fürchten. Dort werden Sie dann auch gleich aufgenommen werden
und die weitern Weisungen erhalten. Fangen wir also an. Hier, die
erste Kanzlei, ist wie schon die Aufschrift sagt, für Ingenieure
bestimmt. Ist vielleicht ein Ingenieur unter ihnen?" Josie
meldete sich. Er glaubte, gerade weil er keine Papiere hatte, müsse
er bestrebt sein, alle Formalitäten möglichst rasch durch zu jagen,
eine kleine Berechtigung sich zu melden hatte er auch, denn er hatte
ja Ingenieur werden wollen. Aber als die Burschen sahen, dass sich
Josie meldete, wurden sie neidisch und meldeten sich auch, alle
meldeten sich. Der Personalchef streckte sich in die Höhe und sagte
zu den Burschen: "Sie sind Ingenieure?" Da senkten sie alle
langsam die Hände, Josie dagegen bestand auf seiner ersten Meldung.
Der Personalchef sah ihn zwar ungläubig an, denn Josie schien ihm zu
kläglich angezogen und auch zu jung, um Ingenieur sein zu können,
aber er sagte doch nichts weiter, vielleicht aus Dankbarkeit, weil
Josie ihm, wenigstens seiner Meinung nach, die Bewerber hereingeführt
hatte. Er zeigte bloß einladend nach der Kanzlei und Josie ging hin,
während sich der Personalchef den andern zuwendete.
In
der Kanzlei für Ingenieure saßen an den zwei Seiten eines
rechtwinkligen Pultes zwei Herren und verglichen zwei große
Verzeichnisse, die vor ihnen lagen. Der eine las vor, der andere
strich in seinem Verzeichnis die vorgelesenen Namen an. Als Josie
grüßend vor sie hin trat, legten sie sofort die Verzeichnisse fort
und nahmen andere große Bücher vor, die sie aufschlugen. Der eine,
offenbar nur ein Schreiber, sagte: "Ich bitte um ihre
Legitimationspapiere." "Ich habe sie leider nicht bei mir",
sagte Josie. "Er hat sie nicht bei sich", sagte der
Schreiber zu dem andern Herrn und schrieb die Antwort gleich in sein
Buch ein. "Sie sind Ingenieur?" fragte dann der andere, der
der Leiter der Kanzlei zu sein schien. "Ich bin es noch nicht",
sagte Josie schnell, "aber —". "Genug", sagte
der Herr noch viel schneller, "dann gehören Sie nicht zu uns.
Ich bitte die Aufschrift zu beachten." Josie biss die Zähne
zusammen, der Herr musste es bemerkt haben, denn er sagte: "Es
ist kein Grund zur Unruhe. Wir können alle brauchen." Und er
winkte einem der Diener, die beschäftigungslos zwischen den
Barrieren herum gingen: "Führen Sie diesen Herrn zu der Kanzlei
für Leute mit technischen Kenntnissen." Der Diener fasste den
Befehl wörtlich auf und fasste Josie bei der Hand. Sie gingen
zwischen vielen Buden durch, in einer sah Josie schon einen der
Burschen, der bereits aufgenommen war und den Herren dort dankend die
Hand drückte. In der Kanzlei, in die Josie jetzt gebracht wurde,
war, wie Josie vorausgesehen hatte, der Vorgang ähnlich wie in der
ersten Kanzlei. Nur schickte man ihn von hier, da man hörte, dass er
eine Mittelschule besucht hatte, in die Kanzlei für gewesene
Mittelschüler. Als Josie dort aber sagte, er hätte eine europäische
Mittelschule besucht, erklärte man sich auch dort für unzuständig
und ließ ihn in die Kanzlei für europäische Mittelschüler führen.
Es war eine Bude am äußersten Rand, nicht nur kleiner, sondern
sogar niedriger als alle andern. Der Diener, der ihn hierher gebracht
hatte, war wütend über die lange Führung und die vielen
Abweisungen, an denen seiner Meinung nach Josie allein die Schuld
tragen musste. Er wartete nicht mehr die Fragen ab, sondern lief
gleich fort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzte Zuflucht. Als
Josie den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fast über die
Ähnlichkeit, die dieser mit einem Professor hatte, der
wahrscheinlich noch jetzt an der Realschule zuhause unterrichtete.
Die Ähnlichkeit bestand allerdings, wie sich gleich herausstellte,
nur in Einzelheiten, aber die auf der breiten Nase ruhende Brille,
der blonde, wie ein Schaustück gepflegte Vollbart, der sanft
gebeugte Rücken und die immer unerwartet hervorbrechende laute
Stimme hielten Josie noch einige Zeit in Staunen. Glücklicherweise
musste er auch nicht sehr aufmerken, denn es ging hier einfacher zu,
als in den andern Kanzleien. Es wurde zwar auch hier eingetragen,
dass seine Legitimationspapiere fehlten und der Kanzleileiter nannte
es eine unbegreifliche Nachlässigkeit, aber der Schreiber, der hier
die Oberhand hatte, ging schnell darüber hinweg und erklärte nach
einigen kurzen Fragen des Leiters, während sich dieser gerade zu
einer größern Frage anschickte, Josie für aufgenommen. Der Leiter
wandte sich mit offenem Mund gegen den Schreiber, dieser aber machte
eine abschließende Handbewegung, sagte: "Aufgenommen", und
trug auch gleich die Entscheidung ins Buch ein. Offenbar war der
Schreiber der Meinung, ein europäischer Mittelschüler zu sein, sei
schon etwas so Schmähliches, dass man es jedem, der es von sich
behaupte, ohne Weiteres glauben könne. Josie für seinen Teil hatte
nichts dagegen einzuwenden, er ging zu ihm hin und wollte ihm danken.
Es gab aber noch eine kleine Verzögerung, als man ihn jetzt nach
seinem Namen fragte. Er antwortete nicht gleich, er hatte eine Scheu,
seinen wirklichen Namen zu nennen und aufschreiben zu lassen. Bis er
hier auch nur die kleinste Stelle erhalten und zur Zufriedenheit
ausfüllen würde, dann mochte man seinen Namen erfahren, jetzt aber
nicht, allzu lang hatte er ihn verschwiegen, als dass er ihn jetzt
hätte verraten sollen. Er nannte daher, da ihm im Augenblick kein
anderer Name einfiel, nur den Rufnamen aus seinen letzten Stellungen:
"Negro". "Negro?" fragte der Leiter, drehte den
Kopf und machte eine Grimasse, als hätte Josie jetzt den Höhepunkt
der Unglaubwürdigkeit erreicht.
Auch
der Schreiber sah Josie eine Weile prüfend an, dann aber wiederholte
er "Negro" und schrieb den Namen ein. "Sie haben doch
nicht Negro aufgeschrieben", fuhr ihn der Leiter an. "Ja,
Negro", sagte der Schreiber ruhig und machte eine Handbewegung,
als habe nun der Leiter das Weitere zu veranlassen. Der Leiter
bezwang sich auch, stand auf und sagte: "Sie sind also für das
Theater von Oklahama —". Aber weiter kam er nicht, er konnte
nichts gegen sein Gewissen tun, setzte sich und sagte: "Er heißt
nicht Negro." Der Schreiber zog die Augenbrauen in die Höhe,
stand nun selbst auf und sagte: "Dann teile also ich Ihnen mit,
dass Sie für das Theater in Oklahama aufgenommen sind und dass man
Sie jetzt unserm Führer vorstellen wird." Wieder wurde ein
Diener gerufen, der Josie zur Schiedsrichtertribüne führte.
Unten
an der Treppe sah Josie den Kinderwagen und gerade kam auch das
Ehepaar herunter, die Frau mit dem Kind auf dem Arm. "Sind Sie
aufgenommen?" fragte der Mann, er war viel lebhafter als früher,
auch die Frau sah ihm lachend über die Schulter. Als Josie
antwortete, eben sei er aufgenommen worden und gehe zur Vorstellung,
sagte der Mann: "Dann gratuliere ich. Auch wir sind aufgenommen
worden, es scheint ein gutes Unternehmen zu sein, allerdings kann man
sich nicht gleich in alles einfinden, so ist es aber überall."
Sie sagten einander noch "Auf Wiedersehn" und Josie stieg
zur Tribüne hinauf. Er ging langsam, denn der kleine Raum oben
schien von Leuten überfüllt zu sein und er wollte sich nicht
eindrängen. Er blieb sogar stehen und überblickte das große
Rennfeld, das auf allen Seiten bis an ferne Wälder reichte. Ihn
erfasste Lust, einmal ein Pferderennen zu sehn, er hatte in Amerika
noch keine Gelegenheit dazu gefunden. In Europa war er einmal als
kleines Kind zu einem Rennen mitgenommen worden, konnte sich aber an
nichts anderes erinnern, als dass er von der Mutter zwischen vielen
Menschen, die nicht auseinander weichen wollten, durchgezogen worden
war. Er hatte also eigentlich überhaupt noch kein Rennen gesehn.
Hinter ihm fing eine Maschinerie zu schnarren an, er drehte sich um
und sah auf dem Apparat, auf dem beim Rennen die Namen der Sieger
veröffentlicht werden, jetzt folgende Aufschrift in die Höhe ziehn:
"Kaufmann Kalla mit Frau und Kind". Hier wurden also die
Namen der Aufgenommenen den Kanzleien mitgeteilt.
Gerade
liefen einige Herren lebhaft miteinander sprechend, Bleistifte und
Notizblätter in den Händen die Treppe herunter, Josie drückte sich
ans Geländer, um sie vorbei zu lassen und stieg, da nun oben Platz
geworden war, hinauf. In einer Ecke der mit Holzgeländern versehenen
Plattform — das Ganze sah wie das flache Dach eines schmalen Turmes
aus — saß, die Arme entlang der Holzgeländer ausgestreckt, ein
Herr, dem ein breites, weißes Seidenband mit der Aufschrift: Führer
der 10ten Werbetruppe des Theaters von Oklahama quer über die Brust
ging. Neben ihm stand auf einem Tischchen ein gewiss auch bei den
Rennen verwendeter telefonischer Apparat, durch den der Führer
offenbar alle notwendigen Angaben über die einzelnen Bewerber noch
vor der Vorstellung erfuhr, denn er stellte an Josie zunächst gar
keine Fragen, sondern sagte zu einem Herrn, der mit gekreuzten
Beinen, die Hand am Kinn, neben ihm lehnte: "Negro, ein
europäischer Mittelschüler." Und als sei damit der sich tief
verneigende Josie für ihn erledigt, sah er die Treppe hinunter, ob
nicht wieder jemand käme. Aber da niemand kam, hörte er manchmal
dem Gespräch, das der andere Herr mit Josie führte zu, blickte aber
meistens über das Rennfeld hin und klopfte mit den Fingern auf das
Geländer. Diese zarten und doch kräftigen, langen und schnell
bewegten Finger lenkten zeitweilig Josies Aufmerksamkeit auf sich,
trotzdem ihn der andere Herr genug in Anspruch nahm.
"Sie
sind stellungslos gewesen?" fragte dieser Herr zunächst. Diese
Frage, sowie fast alle andern Fragen, die er stellte, waren sehr
einfach, ganz unverfänglich und die Antworten wurden überdies nicht
durch Zwischenfragen nachgeprüft, trotzdem aber wusste ihnen der
Herr, durch die Art, wie er sie mit großen Augen aussprach, wie er
ihre Wirkung mit vorgebeugtem Oberkörper beobachtete, wie er die
Antworten mit auf die Brust gesenktem Kopfe aufnahm und hier und da
laut wiederholte, eine besondere Bedeutung zu geben, die man zwar
nicht verstand, deren Ahnung aber vorsichtig und befangen machte. Es
kam öfters vor, dass es Josie drängte, die gegebene Antwort zu
widerrufen und durch eine andere, die vielleicht mehr Beifall finden
würde, zu ersetzen, aber er hielt sich doch immer noch zurück, denn
er wusste, einen wie schlechten Eindruck ein derartiges Schwanken
machen musste und wie überdies die Wirkung der Antworten eine meist
unberechenbare war. Überdies aber schien ja seine Aufnahme schon
entschieden zu sein, dieses Bewusstsein gab ihm Rückhalt.
Die
Frage, ob er stellungslos gewesen sei, beantwortete er mit einem
einfachen "Ja". "Wo waren Sie zuletzt angestellt?"
fragte dann der Herr. Josie wollte schon antworten, da hob der Herr
den Zeigefinger und sagte noch einmal: "Zuletzt!" Josie
hatte auch schon die erste Frage richtig verstanden, unwillkürlich
schüttelte er die letzte Bemerkung als beirrend mit dem Kopfe ab und
antwortete: "In einem Büro." Das war noch die Wahrheit,
würde aber der Herr eine nähere Auskunft über die Art des Büros
verlangen, so musste er lügen. Aber das tat der Herr nicht, sondern
stellte die überaus leicht ganz wahrheitsgemäß zu beantwortende
Frage: "Waren Sie dort zufrieden?" "Nein", rief
Josie ihm fast in die Rede fallend. Bei einem Seitenblick bemerkte
Josie, dass der Führer ein wenig lächelte, Josie bereute die
unbedachte Art seiner letzten Antwort, aber es war zu verlockend
gewesen, das Nein hinaus zu schreien, denn während seiner ganzen,
letzten Dienstzeit hatte er nur den großen Wunsch gehabt, irgendein
fremder Dienstgeber möge einmal eintreten und diese Frage an ihn
richten. Seine Antwort konnte aber noch einen andern Nachteil
bringen, denn der Herr konnte nun fragen, warum er nicht zufrieden
gewesen sei. Statt dessen fragte er jedoch: "Zu was für einen
Posten fühlen Sie sich geeignet?" Diese Frage enthielt
möglicherweise wirklich eine Falle, denn wozu wurde sie gestellt, da
Josie doch schon als Schauspieler aufgenommen war; trotzdem er das
aber erkannte, konnte er sich dennoch nicht zu der Erklärung
überwinden, er fühle sich für den Schauspielerberuf besonders
geeignet. Er wich daher der Frage aus und sagte auf die Gefahr hin,
trotzig zu erscheinen: "Ich habe das Plakat in der Stadt gelesen
und da dort stand, dass man jeden brauchen kann, habe ich mich
gemeldet." "Das wissen wir", sagte der Herr, schwieg
und zeigte dadurch, dass er auf seiner frühern Frage beharre. "Ich
bin als Schauspieler aufgenommen", sagte Josie zögernd, um den
Herren die Schwierigkeit, in die ihn die letzte Frage gebracht hatte,
begreiflich zu machen. "Das ist richtig", sagte der Herr
und verstummte wieder. "Nun", sagte Josie und die ganze
Hoffnung, einen Posten gefunden zu haben, kam ins Wanken, "ich
weiß nicht, ob ich zum Theater spielen geeignet bin. Ich will mich
aber anstrengen und alle Aufträge auszuführen suchen." Der
Herr wandte sich dem Leiter zu, beide nickten, Josie schien richtig
geantwortet zu haben, er fasste wieder Mut und erwartete aufgerichtet
die nächste Frage. Die lautete: "Was wollten Sie denn
ursprünglich studieren?" Um die Frage genau zu bestimmen — an
der genauen Bestimmung lag dem Herrn immer sehr viel — fügte er
hinzu: "In Europa, meine ich." Hierbei nahm er die Hand vom
Kinn und machte eine schwache Bewegung, als wolle er damit
gleichzeitig andeuten, wie ferne Europa und wie bedeutungslos die
dort einmal gefassten Pläne seien. Josie sagte: "Ich wollte
Ingenieur werden." Diese Antwort widerstrebte ihm zwar, es war
lächerlich, im vollen Bewusstsein seiner bisherigen Laufbahn in
Amerika die alte Erinnerung, dass er einmal habe Ingenieur werden
wollen, hier wieder aufzufrischen — wäre er es denn selbst in
Europa jemals geworden? — aber er wusste gerade keine andere
Antwort und sagte deshalb diese. Aber der Herr nahm es ernst, wie er
alles ernst nahm. "Nun, Ingenieur", sagte er, "können
Sie wohl nicht gleich werden, vielleicht würde es Ihnen aber
vorläufig entsprechen, irgendwelche niedrigen technische Arbeiten
auszuführen." "Gewiss", sagte Josie, er war sehr
zufrieden, er wurde zwar, wenn er das Angebot annahm, aus dem
Schauspielerstand unter die technischen Arbeiter geschoben, aber er
glaubte tatsächlich, sich bei dieser Arbeit besser bewähren zu
können. Übrigens, dies wiederholte er sich immer wieder, es kam
nicht so sehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf, sich
überhaupt irgendwo dauernd festzuhalten. "Sind Sie denn kräftig
genug für schwerere Arbeit?" fragte der Herr. "Oh ja",
sagte Josie. Hierauf ließ der Herr Josie näher zu sich herankommen
und befühlte seinen Arm. "Es ist ein kräftiger Junge",
sagte er dann, indem er Josie am Arm zum Führer hinzog. Der Führer
nickte lächelnd, reichte, ohne sich übrigens aus seiner Ruhelage
aufzurichten, Josie die Hand und sagte: "Dann sind wir also
fertig. In Oklahama wird alles noch überprüft werden. Machen Sie
unserer Werbetruppe Ehre!" Josie verbeugte sich zum Abschied, er
wollte sich dann auch von dem andern Herren verabschieden, dieser
aber spazierte schon, als sei er mit seiner Arbeit vollständig
fertig, das Gesicht in die Höhe gerichtet auf der Plattform auf und
ab. Während Josie hinunterstieg, wurde zur Seite der Treppe auf der
Anzeigetafel die Aufschrift hochgezogen: "Negro, technischer
Arbeiter". Da alles hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte
es Josie nicht mehr so sehr bedauert, wenn auf der Tafel sein
wirklicher Name zu lesen gewesen wäre. Es war alles sogar überaus
sorgfältig eingerichtet, denn am Fuß der Treppe wurde Josie schon
von einem Diener erwartet, der ihm eine Binde um den Arm festmachte.
Als Josie dann den Arm hob, um zu sehn, was auf der Binde stand, war
dort der ganz richtige Aufdruck "Technischer Arbeiter".
Wohin
Josie nun aber geführt werden mochte, zuerst wollte er doch Fanny
melden, wie glücklich alles abgelaufen war. Aber zu seinem Bedauern
erfuhr er vom Diener, dass die Engel ebenso wie auch die Teufel
bereits nach dem nächsten Bestimmungsort der Werbetruppe abgereist
seien, um dort die Ankunft der Truppe für den nächsten Tag bekannt
zu machen. "Schade", sagte Josie, es war die erste
Enttäuschung, die er in diesem Unternehmen erlebte, "ich hatte
eine Bekannte unter den Engeln." "Sie werden sie in
Oklahama wiedersehn", sagte der Diener, "nun aber kommen
Sie, Sie sind der letzte." Er führte Josie an der hintern Seite
des Podiums entlang, auf dem früher die Engel gestanden waren, jetzt
waren dort nur noch die leeren Postamente. Josies Annahme aber, dass
ohne die Musik der Engel mehr Stellensuchende kommen würden, erwies
sich nicht als richtig, denn vor dem Podium standen jetzt überhaupt
keine Erwachsenen mehr, nur paar Kinder kämpften um eine lange,
weiße Feder, die wahrscheinlich aus einem Engelsflügel gefallen
war. Ein Junge hielt sie in die Höhe, während die andern Kinder mit
einer Hand seinen Kopf nieder drücken wollten und mit der andern
nach der Feder langten.
Josie
zeigte auf die Kinder, der Diener aber sagte ohne hinzusehn: "Kommen
Sie rascher, es hat sehr lange gedauert, ehe Sie aufgenommen wurden.
Man hatte wohl Zweifel?" "Ich weiß nicht", sagte
Josie erstaunt, er glaubte es aber nicht.
Immer,
selbst bei den klarsten Verhältnissen, fand sich doch irgendjemand,
der seinem Mitmenschen Sorgen machen wollte. Aber vor dem
freundlichen Anblick der großen Zuschauertribüne, zu der sie jetzt
kamen, vergaß Josie bald die Bemerkung des Dieners. Auf dieser
Tribüne war nämlich eine ganze, lange Bank mit einem weißen Tuch
gedeckt, alle Aufgenommenen saßen mit dem Rücken zur Rennbahn auf
der nächsttieferen Bank und wurden bewirtet. Alle waren fröhlich
und aufgeregt, gerade als sich Josie unbemerkt als Letzter auf die
Bank setzte, standen viele mit erhobenen Gläsern auf und einer hielt
einen Trinkspruch auf den Führer der zehnten Werbetruppe, den er den
"Vater der Stellungssuchenden" nannte. Jemand machte darauf
aufmerksam, dass man ihn auch von hier aus sehen könne und
tatsächlich war die Schiedsrichtertribüne mit den zwei Herren in
nicht allzu großer Entfernung sichtbar. Nun schwenkten alle ihre
Gläser in dieser Richtung, auch Josie fasste das vor ihm stehende
Glas, aber so laut man auch rief und so sehr man sich bemerkbar zu
machen suchte, auf der Schiedsrichtertribüne deutete nichts darauf
hin, dass man die Ovation bemerkte oder wenigstens bemerken wolle.
Der Führer lehnte in der Ecke wie früher und der andere Herr stand
neben ihm, die Hand am Kinn.
Ein
wenig enttäuscht setzte man sich wieder, hier und da drehte sich
noch einer nach der Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäftigte
man sich nur mit dem reichlichen Essen; großes Geflügel, wie es
Josie noch nie gesehen hatte, mit vielen Gabeln in dem knusprig
gebratenen Fleisch, wurde herum getragen, Wein wurde immer wieder von
den Dienern eingeschenkt — man merkte es kaum, man war über seinen
Teller gebückt und in den Becher fiel der Strahl des roten Weines —
und wer sich an der allgemeinen Unterhaltung nicht beteiligen wollte,
konnte Bilder von Ansichten des Theaters von Oklahama besichtigen,
die an einem Ende der Tafel aufgestapelt waren und von Hand zu Hand
gehen sollten. Doch kümmerte man sich nicht viel um die Bilder und
so geschah es, dass bei Josie, der der Letzte war, nur ein Bild
ankam. Nach diesem Bild zu schließen mussten aber alle sehr
sehenswert sein. Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der
Vereinigten Staaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es
sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte
die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold,
in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten Schere
ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons früherer
Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend gerade Nase,
aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starr gesenkte Augen.
Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe, kamen Strahlen
von Licht; weißes und doch mildes Licht enthüllte förmlich den
Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen
Tönungen sich faltendem Samt, der an der ganzen Umrandung nieder
fiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle rötlich
schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum
Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. Josie vergaß
das Essen nicht, sah aber doch oft die Abbildung an, die er neben
seinen Teller gelegt hatte.
Schließlich
hätte er doch noch sehr gern wenigstens eines der übrigen Bilder
angesehn, selbst holen wollte er es sich aber nicht, denn ein Diener
hatte die Hand auf den Bildern liegen und die Reihenfolge musste wohl
gewahrt werden; er suchte also nur die Tafel zu überblicken und
festzustellen, ob sich nicht doch noch ein Bild nähere. Da bemerkte
er staunend — zuerst glaubte er es gar nicht — unter den am
tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes —
Giacomo. Gleich lief er zu ihm hin. "Giacomo", rief er.
Dieser, schüchtern wie immer, wenn er überrascht wurde, erhob sich
vom Essen, drehte sich in dem schmalen Raum zwischen den Bänken,
wischte mit der Hand den Mund, war dann aber sehr froh, Josie zu
sehen, bat ihn sich neben ihn zu setzen oder bot sich an zu Josies
Platz hinüber zu kommen, sie wollten einander alles erzählen und
immer beisammen bleiben. Josie wollte die andern nicht stören, jeder
sollte deshalb vorläufig seinen Platz behalten, das Essen werde bald
zu Ende sein und dann wollten sie natürlich immer zueinander halten.
Aber Josie blieb doch noch bei Giacomo, nur um ihn anzusehn. Was für
Erinnerungen an vergangene Zeiten! Wo war die Oberköchin? Was machte
Therese? Giacomo selbst hatte sich in seinem Äußern fast gar nicht
verändert, die Voraussage der Oberköchin, dass er in einem halben
Jahr ein knochiger Amerikaner werden müsse, war nicht eingetroffen,
er war zart wie früher, die Wangen eingefallen wie früher,
augenblicklich allerdings waren sie gerundet, denn er hatte im Mund
einen übergroßen Bissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen
Knochen langsam heraus zog, um sie dann auf den Teller zu werfen. Wie
Josie an seiner Armbinde ablesen konnte, war auch Giacomo nicht als
Schauspieler, sondern als Liftjunge aufgenommen, das Theater von
Oklahama schien wirklich jeden brauchen zu können.
In
den Anblick Giacomos verloren, blieb aber Josie allzu lange von
seinem Platze fort, eben wollte er zurückkehren, da kam der
Personalchef, stellte sich auf eine der höher gelegenen Bänke,
klatschte in die Hände und hielt eine kleine Ansprache, während die
meisten aufstanden und die Sitzengebliebenen, die sich nicht vom
Essen trennen konnten, durch Stöße der andern schließlich auch zum
Aufstehn gezwungen wurden. "Ich will hoffen", sagte er,
Josie war inzwischen schon auf den Fußspitzen zu seinem Platz zurück
gelaufen, "dass Sie mit unserm Empfangsessen zufrieden waren. Im
Allgemeinen lobt man das Essen unserer Werbetruppe. Leider muss ich
die Tafel bereits aufheben, denn der Zug, der Sie nach Oklahama
bringen soll, fährt in fünf Minuten. Es ist zwar eine lange Reise,
Sie werden aber sehn, dass für Sie gut gesorgt ist. Hier stelle ich
ihnen den Herrn vor, der ihren Transport führen wird und dem Sie
Gehorsam schulden." Ein magerer, kleiner Herr erkletterte die
Bank, auf welcher der Personalchef stand, nahm sich kaum Zeit, eine
flüchtige Verbeugung zu machen, sondern begann sofort mit
ausgestreckten, nervösen Händen zu zeigen, wie sich alle sammeln,
ordnen und in Bewegung setzen sollten. Aber zunächst folgte man ihm
nicht, denn derjenige aus der Gesellschaft, der schon früher eine
Rede gehalten hatte, schlug mit der Hand auf den Tisch und begann
eine längere Dankrede, trotzdem — Josie wurde ganz unruhig —
eben gesagt worden war, dass der Zug bald abfahre. Aber der Redner
achtete nicht einmal darauf, dass auch der Personalchef nicht
zuhörte, sondern dem Transportleiter verschiedene Anweisungen gab,
er legte seine Rede groß an, zählte alle Gerichte auf, die
aufgetragen worden waren, gab über jedes sein Urteil ab und schloss
dann zusammenfassend mit dem Ausruf: "Geehrte Herren, so gewinnt
man uns." Alle außer den Angesprochenen lachten, aber es war
doch mehr Wahrheit als Scherz.
Diese
Rede büßte man überdies damit, dass jetzt der Weg zur Bahn im
Laufschritt gemacht werden musste. Das war aber auch nicht sehr
schwer, denn — Josie bemerkte es erst jetzt — niemand trug ein
Gepäckstück — das einzige Gepäckstück war eigentlich der
Kinderwagen, der jetzt an der Spitze der Truppe vom Vater gelenkt wie
haltlos auf und nieder sprang. Was für besitzlose, verdächtige
Leute waren hier zusammengekommen und wurden doch so gut empfangen
und behütet! Und dem Transportleiter mussten sie geradezu ans Herz
gelegt sein. Bald fasste er selbst mit einer Hand die Lenkstange des
Kinderwagens und erhob die andere um die Truppe aufzumuntern, bald
war er hinter der letzten Reihe, die er antrieb, bald lief er an den
Seiten entlang, fasste einzelne Langsamere aus der Mitte ins Auge und
suchte ihnen mit schwingenden Armen darzustellen, wie sie laufen
müssten.
Als
sie auf dem Bahnhof ankamen, stand der Zug schon bereit. Die Leute
auf dem Bahnhof zeigten einander die Truppe, man hörte Ausrufe wie
"Alle diese gehören zum Theater von Oklahama", das Theater
schien viel bekannter zu sein, als Josie angenommen hatte, allerdings
hatte er sich um Theaterdinge niemals gekümmert. Ein ganzer Waggon
war eigens für die Truppe bestimmt, der Transportleiter drängte zum
Einsteigen mehr als der Schaffner. Er sah zuerst in jede einzelne
Abteilung, ordnete hier und da etwas und erst dann stieg er selbst
ein. Josie hatte zufällig einen Fensterplatz bekommen und Giacomo
neben sich gezogen. So saßen sie aneinander gedrängt und freuten
sich im Grunde beide auf die Fahrt; so sorgenlos hatten sie in
Amerika noch keine Reise gemacht. Als der Zug zu fahren begann,
winkten sie mit den Händen aus dem Fenster, während die Burschen
ihnen gegenüber einander anstießen und es lächerlich fanden.
Kapitel
XI: Zugreise
Sie
fuhren zwei Tage und zwei Nächte. Jetzt erst begriff Josie die Größe
Amerikas. Unermüdlich sah er aus dem Fenster und Giacomo drängte
sich solange mit heran, bis die Burschen gegenüber, die sich viel
mit Kartenspiel beschäftigten, dessen überdrüssig wurden und ihm
freiwillig den Fensterplatz einräumten. Josie dankte ihnen —
Giacomos Englisch war nicht jedem verständlich — und sie wurden im
Laufe der Zeit, wie es unter Kupeegenossen nicht anders sein kann,
viel freundlicher, doch war auch ihre Freundlichkeit oft lästig, da
sie z.B. immer, wenn ihnen eine Karte auf den Boden fiel und sie den
Boden nach ihr absuchten, Josie oder Giacomo mit aller Kraft ins Bein
zwickten. Giacomo schrie dann, immer von Neuem überrascht, und zog
das Bein in die Höhe, Josie versuchte manchmal mit einem Fußtritt
zu antworten, duldete aber im Übrigen alles schweigend. Alles, was
sich in dem kleinen, selbst bei offenem Fenster von Rauch überfüllten
Kupee ereignete, verging vor dem, was draußen zu sehen war.
Am
ersten Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge. Bläulich schwarze
Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte
sich aus dem Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunkle,
schmale, zerrissene Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem
Finger die Richtung, in der sie sich verloren, breite Bergströme
kamen eilend als große Wellen auf dem hügeligen Untergrund und in
sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter
die Brücken, über die der Zug fuhr, und sie waren so nah, dass der
Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. [Kafkas Ende]
Der
Zug raste auf die nächste Brücke zu, so hoch, so hoch,
sie
brach ein, der Zug stürzte den Abgrund hinab, konnte Josie sich
retten oder blieb er für immer verschollen? Und was geschah mit
Giacomo?
Fortsetzung
folgt (nicht)...