Franz Kafka - "Der Verschollene" (Amerika) in der Fassung der modernen Rechtschreibung



Kapitel I: "Der Heizer"
Als der sechzehnjährige Josie Rossmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
"So hoch", sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehn dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüber zogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.
Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war, sagte im Vorübergehn: "Ja haben Sie denn noch keine Lust auszusteigen?" "Ich bin doch fertig", sagte Josie ihn anlachend und hob aus Übermut und weil er ein starker Junge war, den Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit den andern entfernte, merkte er, dass er seinen Regenschirm unten im Schiff vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglückt schien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu warten, überblickte schnell die Situation, um sich bei der Rückkehr zurechtzufinden und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum ersten Mal versperrt, was wahrscheinlich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhing, und musste sich seinen Weg durch eine Unzahl kleiner Räume, fortwährend abbiegende Korridore, kurze Treppen, die einander aber immer wieder folgten, ein leeres Zimmer mit einem verlassenen Schreibtisch mühselig suchen, bis er sich tatsächlich, da er diesen Weg nur ein oder zweimal und immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf und nur immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und von der Ferne wie einen Hauch das letzte Arbeiten der schon eingestellten Maschine merkte, fing er ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Türe zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte. "Es ist ja offen", rief es von innen und Josie öffnete mit ehrlichem Aufatmen die Tür. "Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?" fragte ein riesiger Mann, kaum dass er nach Josie hinsah. Durch irgendeine Oberlichtluke fiel ein trübes, oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und der Mann knapp nebeneinander wie eingelagert standen. "Ich habe mich verirrt", sagte Josie, "ich habe es während der Fahrt gar nicht so bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff." "Ja, da haben Sie recht", sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte nicht auf, an dem Schloss eines kleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Händen immer wieder zudrückte, um das Einschnappen des Riegels zu behorchen. "Aber kommen Sie doch herein", sagte der Mann weiter, "Sie werden doch nicht draußen stehn." "Störe ich nicht?" fragte Josie. "Ach, wie werden Sie denn stören." "Sind Sie ein Deutscher?" suchte sich Josie noch zu versichern, da er viel von den Gefahren gehört hatte, welche besonders von Irländern den Neuankömmlingen in Amerika drohen. "Bin ich, bin ich", sagte der Mann. Josie zögerte noch. Da fasste unversehens der Mann die Türklinke und schob mit der Türe, die er rasch schloss, Josie zu sich herein. "Ich kann es nicht leiden, wenn man mir vom Gang hereinschaut", sagte der Mann, der wieder an seinem Koffer arbeitete. "Da läuft jeder vorbei und schaut herein, das soll der Zehnte aushalten." "Aber der Gang ist doch ganz leer", sagte Josie, der unbehaglich an den Bettpfosten gequetscht dastand. "Ja, jetzt", sagte der Mann. "Es handelt sich doch um jetzt", dachte Josie, "mit dem Mann ist schwer zu reden." "Legen Sie sich doch aufs Bett, da haben Sie mehr Platz", sagte der Mann. Josie kroch so gut es ging hinein und lachte dabei laut über den ersten, vergeblichen Versuch sich herüber zu schwingen. Kaum war er aber drin, rief er: "Um Gotteswillen, ich habe ja ganz meinen Koffer vergessen." "Wo ist er denn?" "Oben auf dem Deck, ein Bekannter gibt Acht auf ihn. Wie heißt er nur?" Und er zog aus einer Geheimtasche, die ihm seine Mutter für die Reise im Rockfutter angelegt hatte, eine Visitenkarte. "Butterbaum, Franz Butterbaum." "Haben Sie den Koffer sehr nötig?" "Natürlich." "Ja warum haben Sie ihn dann einem fremden Menschen gegeben?" "Ich hatte meinen Regenschirm unten vergessen und bin gelaufen ihn zu holen, wollte aber den Koffer nicht mit schleppen. Dann habe ich mich auch noch verirrt." "Sie sind allein? Ohne Begleitung?" "Ja, allein." "Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten", ging es Josie durch den Kopf, wo finde ich gleich einen bessern Freund. "Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm rede ich gar nicht", und der Mann setzte sich auf den Sessel, als habe Josies Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen. "Ich glaube aber, der Koffer ist noch nicht verloren." "Glauben macht selig", sagte der Mann und kratzte sich kräftig in seinem dunklen, kurzen, dichten Haar. "Auf dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen auch die Sitten, in Hamburg hätte ihr Butterbaum den Koffer vielleicht bewacht, hier ist höchstwahrscheinlich schon von beiden keine Spur mehr." "Da muss ich aber doch gleich hinauf schauen", sagte Josie und sah sich um, wie er herauskommen könnte. "Bleiben Sie nur", sagte der Mann und stieß ihn mit einer Hand gegen die Brust geradezu rau ins Bett zurück. "Warum denn?" fragte Josie ärgerlich. "Weil es keinen Sinn hat", sagte der Mann. "In einem kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehn wir zusammen. Entweder ist der Koffer gestohlen, dann ist keine Hilfe und Sie können ihm nachweinen bis an das Ende ihrer Tage oder der Mensch bewacht ihn noch immer, dann ist er ein Dummkopf und soll weiter wachen oder er ist bloß ein ehrlicher Mensch und hat den Koffer stehen gelassen, dann werden wir ihn bis das Schiff ganz entleert ist, desto besser finden. Ebenso auch ihren Regenschirm." "Kennen Sie sich auf dem Schiff aus?" fragte Josie misstrauisch und es schien ihm, als hätte der sonst überzeugende Gedanke, dass auf dem leeren Schiff seine Sachen am besten zu finden sein würden, einen verborgenen Haken. "Ich bin doch Schiffsheizer", sagte der Mann. "Sie sind Schiffsheizer", rief Josie freudig, als überstiege das alle Erwartungen, und sah den Ellbogen aufgestützt den Mann näher an. "Gerade vor der Kammer, wo ich mit den Slowaken geschlafen habe, war eine Luke angebracht, durch die man in den Maschinenraum sehen konnte." "Ja, dort habe ich gearbeitet", sagte der Heizer. "Ich habe mich immer so für Technik interessiert", sagte Josie, der in einem bestimmten Gedankengang blieb, "und ich wäre sicher später Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müssen." "Warum haben Sie denn fahren müssen?" "Ach was!" sagte Josie und warf die ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd den Heizer an, als bitte er ihn selbst für das nicht Eingestandene um seine Nachsicht. "Es wird schon einen Grund gehabt haben", sagte der Heizer und man wusste nicht recht, ob er damit die Erzählung dieses Grundes fordern oder abwehren wolle. "Jetzt könnte ich auch Heizer werden", sagte Josie, "meinen Eltern ist es jetzt ganz gleichgültig, was ich werde." "Meine Stelle wird frei", sagte der Heizer, steckte im Vollbewusstsein dessen die Hände in die Hosentaschen und warf die Beine, die in faltigen, lederartigen, eisengrauen Hosen steckten, aufs Bett hin, um sie zu strecken. Josie musste mehr an die Wand rücken. "Sie verlassen das Schiff?" "Jawohl, wir marschieren heute ab." "Warum denn? Gefällt es Ihnen hier nicht?" "Ja, das sind so die Verhältnisse, es entscheidet nicht immer, ob es einem gefällt oder nicht. Übrigens haben Sie recht, es gefällt mir auch nicht. Sie denken wahrscheinlich nicht mit Entschlossenheit daran, Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es am leichtesten werden. Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Europa studieren wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht. Die amerikanischen Universitäten sind ja unvergleichlich besser." "Das ist ja möglich", sagte Josie, "aber ich habe ja fast kein Geld zum Studieren. Ich habe zwar von irgend jemandem gelesen, der bei Tag in einem Geschäft gearbeitet und in der Nacht studiert hat, bis er Doktor und ich glaube Bürgermeister wurde. Aber dazu gehört doch eine große Ausdauer, nicht? Ich fürchte, die fehlt mir. Außerdem war ich gar kein besonders guter Schüler, der Abschied von der Schule ist mir wirklich nicht schwer geworden. Und die Schulen hier sind vielleicht noch strenger. Englisch kann ich fast gar nicht. Überhaupt ist man hier gegen Fremde so eingenommen, glaube ich." "Haben Sie das auch schon erfahren? Na, dann ist gut. Dann sind Sie mein Mann. Sehn Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es gehört der Hamburg-Amerika-Linie, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier? Warum ist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem deutschen Schiff. Glauben Sie nicht," — ihm ging die Luft aus, er fackelte mit der Hand, — "dass ich klage um zu klagen. Ich weiß dass Sie keinen Einfluss haben und selbst ein armes Bürschchen sind. Aber es ist zu arg." Und er schlug auf den Tisch mehrmals hart mit der Faust und ließ kein Auge von ihr, während er schlug. "Ich habe doch schon auf so vielen Schiffen gedient," — und er nannte zwanzig Namen hintereinander, als sei es ein Wort, Josie wurde ganz wirr, —"und habe mich ausgezeichnet, bin belobt worden, war ein Arbeiter nach dem Geschmack meiner Kapitäne, sogar auf dem gleichen Handelssegler war ich einige Jahre", —er erhob sich, als sei das der Höhepunkt seines Lebens, —"und hier auf diesem Kasten, wo alles nach der Schnur eingerichtet ist, wo kein Witz erfordert wird — hier taug ich nichts, hier steh ich dem Schubal immer im Wege, bin ein Faulpelz, verdiene herausgeworfen zu werden und bekomme meinen Lohn aus Gnade. Verstehn Sie das? Ich nicht." "Das dürfen Sie sich nicht gefallen lassen", sagte Josie aufgeregt. Er hatte fast das Gefühl davon verloren, dass er auf dem unsichern Boden eines Schiffes an der Küste eines unbekannten Erdteils war, so heimisch war ihm hier auf dem Bett des Heizers zu Mute. "Waren Sie schon beim Kapitän? Haben Sie schon bei ihm ihr Recht gesucht?" "Ach, gehen Sie, gehn Sie lieber weg. Ich will Sie nicht hier haben. Sie hören nicht zu, was ich sage und geben mir Ratschläge. Wie soll ich denn zum Kapitän gehn." Und müde setzte sich der Heizer wieder und legte das Gesicht in beide Hände. "Einen bessern Rat kann ich ihm nicht geben", sagte sich Josie. Und er fand überhaupt, dass er lieber seinen Koffer hätte holen sollen, statt hier Ratschläge zu geben, die ja nur für dumm gehalten wurden. Als ihm der Vater den Koffer für immer übergeben hatte, hatte er im Scherz gefragt: "Wie lange wirst du ihn haben?" Und jetzt war dieser teure Koffer vielleicht schon im Ernst verloren. Der einzige Trost war noch, dass der Vater von seiner jetzigen Lage nicht das allergeringste erfahren konnte, selbst wenn er nachforschen sollte. Nur dass er bis New York gekommen war, konnte die Schiffsgesellschaft gerade noch sagen. Leid tat es aber Josie, dass er die Sachen im Koffer noch kaum verwendet hatte, trotzdem er es beispielsweise längst nötig gehabt hätte, das Hemd zu wechseln. Da hatte er also am unrichtigen Ort gespart; jetzt wo er es gerade am Beginn seiner Laufbahn nötig haben würde, rein gekleidet aufzutreten, würde er im schmutzigen Hemd erscheinen müssen. Das waren schöne Aussichten. Sonst wäre der Verlust des Koffers nicht gar so arg gewesen, denn der Anzug, den er anhatte, war sogar besser, als jener im Koffer, der eigentlich nur ein Notanzug war, den die Mutter noch knapp vor der Abreise hatte flicken müssen. Jetzt erinnerte er sich auch, dass im Koffer noch ein Stück Veroneser Salami war, die ihm die Mutter als Extragabe eingepackt hatte, von der er jedoch nur den kleinsten Teil hatte aufessen können, da er während der Fahrt ganz ohne Appetit gewesen war und die Suppe, die im Zwischendeck zur Verteilung kam, ihm reichlich genügt hatte. Jetzt hätte er aber die Wurst gern bei der Hand gehabt, um sie dem Heizer zu verehren. Denn solche Leute sind leicht gewonnen, wenn man ihnen irgendeine Kleinigkeit zusteckt, das wusste Josie noch von seinem Vater her, welcher durch Zigarrenverteilung alle die niedrigen Angestellten gewann, mit denen er geschäftlich zu tun hatte. Jetzt hatte Josie an Verschenkbarem noch sein Geld bei sich und das wollte er, wenn er schon vielleicht den Koffer verloren haben sollte, vorläufig nicht anrühren. Wieder kehrten seine Gedanken zum Koffer zurück und er konnte jetzt wirklich nicht einsehn, warum er den Koffer während der Fahrt so aufmerksam bewacht hatte, dass ihn die Wache fast den Schlaf gekostet hatte, wenn er jetzt diesen gleichen Koffer so leicht sich hatte wegnehmen lassen. Er erinnerte sich an die fünf Nächte, während derer er einen kleinen Slowaken, der zwei Schlafstellen links von ihm lag, unausgesetzt im Verdacht gehabt hatte, dass er es auf seinen Koffer abgesehen habe. Dieser Slowake hatte nur darauf gelauert, dass Josie endlich von Schwäche befallen für einen Augenblick ein nicke, damit er den Koffer mit einer langen Stange, mit der er immer während des Tages spielte oder übte, zu sich hinüber ziehen könne. Bei Tage sah dieser Slowake genug unschuldig aus, aber kaum war die Nacht gekommen, erhob er sich von Zeit zu Zeit von seinem Lager und sah traurig zu Josies Koffer herüber. Josie konnte dies ganz deutlich erkennen, denn immer hatte hier und da jemand mit der Unruhe des Auswanderers ein Lichtchen angezündet, trotzdem dies nach der Schiffsordnung verboten war, und versuchte unverständliche Prospekte der Auswanderungsagenturen zu entziffern. War ein solches Licht in der Nähe, dann konnte Josie ein wenig eindämmern, war es aber in der Ferne oder war es dunkel, dann musste er die Augen offen halten. Diese Anstrengung hatte ihn recht erschöpft. Und nun war sie vielleicht ganz umsonst gewesen. Dieser Butterbaum, wenn er ihn einmal irgendwo treffen sollte.
In diesem Augenblick ertönten draußen, in weiter Ferne, in die bisherige, vollkommene Ruhe hinein kleine, kurze Schläge wie von Kinderfüßen, sie kamen näher, mit verstärktem Klang, und nun war es ein ruhiger Marsch von Männern. Sie gingen offenbar, wie es in dem schmalen Gang natürlich war, in einer Reihe, man hörte Klirren wie von Waffen. Josie, der schon nahe daran gewesen war, sich im Bett zu einem von allen Sorgen um Koffer und Slowaken befreiten Schlafe auszustrecken, schreckte auf und stieß den Heizer an, um ihn endlich aufmerksam zu machen, denn der Zug schien mit seiner Spitze die Tür gerade erreicht zu haben. "Das ist die Schiffskapelle", sagte der Heizer. "Die haben oben gespielt und gehen einpacken. Jetzt ist alles fertig und wir können gehen. Kommen Sie." Er fasste Josie bei der Hand, nahm noch im letzten Augenblick ein Muttergottesbild von der Wand über dem Bett, stopfte es in seine Brusttasche, ergriff seinen Koffer und verließ mit Josie eilig die Kabine.
"Jetzt gehe ich ins Büro und werde den Herren meine Meinung sagen. Es ist niemand mehr da, man muss keine Rücksichten nehmen", wiederholte der Heizer verschiedenartig und wollte im Gehen mit Seitwärtsstoßen des Fußes eine den Weg kreuzende Ratte niedertreten, stieß sie aber bloß schneller in das Loch hinein, das sie noch rechtzeitig erreicht hatte. Er war überhaupt langsam in seinen Bewegungen, denn wenn er auch lange Beine hatte, so waren sie doch zu schwer.
Sie kamen durch eine Abteilung der Küche, wo einige Mädchen in schmutzigen Schürzen — sie begossen sie absichtlich — Geschirr in großen Bottichen reinigten. Der Heizer rief eine gewisse Line zu sich, legte den Arm um ihre Hüfte und führte sie, die sich immerzu kokett gegen seinen Arm drückte, ein Stückchen mit. "Es gibt jetzt Auszahlung, willst du mit?" fragte er. "Warum soll ich mich bemühen, bring mir das Geld lieber mit", antwortete sie, schlüpfte unter dem Arm durch und lief davon. "Wo hast du denn den schönen Knaben aufgegabelt", rief sie noch, wollte aber keine Antwort mehr. Man hörte das Lachen aller Mädchen, die ihre Arbeit unterbrochen hatten.
Sie gingen aber weiter und kamen an eine Türe, die oben einen kleinen Vorgiebel hatte, der von kleinen vergoldeten Karyatiden getragen war. Für eine Schiffseinrichtung sah das recht verschwenderisch aus. Josie war, wie er merkte, niemals in diese Gegend gekommen, die wahrscheinlich während der Fahrt den Passagieren der ersten und zweiten Klasse vorbehalten war, während jetzt vor der großen Schiffsreinigung die Trennungstüren ausgehoben waren. Sie waren auch tatsächlich einigen Männern schon begegnet, die Besen an der Schulter trugen und den Heizer gegrüßt hatten. Josie staunte über den großen Betrieb, in seinem Zwischendeck hatte er davon freilich wenig erfahren. Entlang der Gänge zogen sich auch Drähte elektrischer Leitungen und eine kleine Glocke hörte man immerfort.
Der Heizer klopfte respektvoll an der Türe an und forderte, als man "Herein" rief, Josie mit einer Handbewegung auf, ohne Furcht einzutreten. Er trat auch ein, aber blieb an der Türe stehen. Vor den drei Fenstern des Zimmers sah er die Wellen des Meeres und bei Betrachtung ihrer fröhlichen Bewegung schlug ihm das Herz, als hätte er nicht fünf lange Tage das Meer ununterbrochen gesehn. Große Schiffe kreuzten gegenseitig ihre Wege und gaben dem Wellenschlag nur so weit nach, als es ihre Schwere erlaubte. Wenn man die Augen klein machte, schienen diese Schiffe vor lauter Schwere zu schwanken. Auf ihren Masten trugen sie schmale aber lange Flaggen, die zwar durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem aber noch hin und her zappelten. Wahrscheinlich von Kriegsschiffen her erklangen Salutschüsse, die Kanonenrohre eines solchen nicht allzu weit vorüber fahrenden Schiffes, strahlend mit dem Reflex ihres Stahlmantels, waren wie gehätschelt von der sichern, glatten und doch nicht waagerechten Fahrt. Die kleinen Schiffchen und Boote konnte man wenigstens von der Tür aus nur in der Ferne beobachten, wie sie in Mengen in die Öffnungen zwischen den großen Schiffen einliefen. Hinter alledem aber stand New York und sah Josie mit den hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer an. Ja, in diesem Zimmer wusste man, wo man war.
An einem runden Tisch saßen drei Herren, der eine ein Schiffsoffizier in blauer Schiffsuniform, die zwei andern, Beamte der Hafenbehörde, in schwarzen amerikanischen Uniformen. Auf dem Tisch lagen hoch aufgeschichtet verschiedene Dokumente, welche der Offizier zuerst mit der Feder in der Hand überflog, um sie dann den beiden andern zu reichen, die bald lasen, bald exzerpierten, bald in ihre Aktentaschen einlegten, wenn nicht gerade der eine, der fast ununterbrochen ein kleines Geräusch mit den Zähnen vollführte, seinem Kollegen etwas in ein Protokoll diktierte.
Am Fenster saß an einem Schreibtisch, den Rücken der Türe zugewendet, ein kleinerer Herr, der mit großen Folianten hantierte, die auf einem starken Bücherbrett in Kopfhöhe vor ihm nebeneinander gereiht waren. Neben ihm stand eine offene, wenigstens auf den ersten Blick leere Kasse.
Das zweite Fenster war leer und gab den besten Ausblick. In der Nähe des dritten aber standen zwei Herren in halblautem Gespräch. Der eine lehnte neben dem Fenster, trug auch die Schiffsuniform und spielte mit dem Griff des Degens. Derjenige, mit dem er sprach, war dem Fenster zugewendet und enthüllte hier und da durch eine Bewegung einen Teil der Ordensreihe auf der Brust des andern. Er war in Zivil und hatte ein dünnes Bambusstöckchen, das, da er beide Hände an den Hüften festhielt, auch wie ein Degen abstand.
Josie hatte nicht viel Zeit alles anzusehn, denn bald trat ein Diener auf sie zu und fragte den Heizer mit einem Blick, als gehöre er nicht hierher, was er denn wolle. Der Heizer antwortete so leise als er gefragt wurde, er wolle mit dem Herrn Oberkassierer reden. Der Diener lehnte für seinen Teil mit einer Handbewegung diese Bitte ab, ging aber dennoch auf den Fußspitzen, dem runden Tisch im großen Bogen ausweichend, zu dem Herrn mit den Folianten. Dieser Herr, das sah man deutlich, erstarrte geradezu unter den Worten des Dieners, sah sich aber endlich nach dem Manne um, der ihn zu sprechen wünschte, fuchtelte dann streng abwehrend gegen den Heizer und der Sicherheit halber auch gegen den Diener hin. Der Diener kehrte daraufhin zum Heizer zurück und sagte in einem Tone, als vertraue er ihm etwas an: "Scheren Sie sich sofort aus dem Zimmer!"
Der Heizer sah nach dieser Antwort zu Josie hinunter, als sei dieser sein Herz, dem er stumm seinen Jammer klage. Ohne weitere Besinnung machte sich Josie los, lief quer durchs Zimmer, dass er sogar leicht an den Sessel des Offiziers streifte; der Diener lief gebeugt, mit zum Umfangen bereiten Armen, als jage er ein Ungeziefer, aber Josie war der erste beim Tisch des Oberkassierers, wo er sich festhielt, für den Fall, dass der Diener versuchen sollte ihn fortzuziehen.
Natürlich wurde gleich das ganze Zimmer lebendig. Der Schiffsoffizier am Tisch war aufgesprungen, die Herren von der Hafenbehörde sahen ruhig aber aufmerksam zu, die beiden Herren am Fenster waren nebeneinander getreten, der Diener, der glaubte, er sei dort, wo schon die hohen Herren Interesse zeigten, nicht mehr am Platze, trat zurück. Der Heizer an der Türe wartete angespannt auf den Augenblick, bis seine Hilfe nötig würde. Der Oberkassierer endlich machte in seinem Lehnsessel eine große Rechtswendung.
Josie kramte aus seiner Geheimtasche, die er den Blicken dieser Leute zu zeigen keine Bedenken hatte, seinen Reisepass hervor, den er statt weiterer Vorstellung geöffnet auf den Tisch legte. Der Oberkassierer schien diesen Pass für nebensächlich zu halten, denn er schnippte ihn mit zwei Fingern beiseite, worauf Josie, als sei diese Formalität zur Zufriedenheit erledigt, den Pass wieder einsteckte. "Ich erlaube mir zu sagen", begann er dann, "dass meiner Meinung nach dem Herrn Heizer Unrecht geschehen ist. Es ist hier ein gewisser Schubal, der ihm aufsitzt. Er selbst hat schon auf vielen Schiffen, die er Ihnen alle nennen kann, zur vollständigen Zufriedenheit gedient, ist fleißig, meint es mit seiner Arbeit gut und es ist wirklich nicht einzusehn, warum er gerade auf diesem Schiff, wo doch der Dienst nicht so übermäßig schwer ist, wie z.B. auf Handelsseglern, dem schlecht entsprechen sollte. Es kann daher nur Verleumdung sein, die ihn in seinem Vorwärtskommen hindert und ihn um die Anerkennung bringt, die ihm sonst ganz bestimmt nicht fehlen würde. Ich habe nur das Allgemeine über diese Sache gesagt, seine besonderen Beschwerden wird er Ihnen selbst vorbringen." Josie hatte sich mit dieser Sache an alle Herren gewendet, weil ja tatsächlich auch alle zuhörten und es viel wahrscheinlicher schien, dass sich unter allen zusammen ein Gerechter vorfand, als dass dieser Gerechte gerade der Oberkassierer sein sollte. Aus Schlauheit hatte außerdem Josie verschwiegen, dass er den Heizer erst so kurze Zeit kannte. Im Übrigen hätte er noch viel besser gesprochen, wenn er nicht durch das rote Gesicht des Herrn mit dem Bambusstöckchen beirrt worden wäre, den er von seinem jetzigen Standort überhaupt zum ersten Mal erblickte.
"Es ist alles Wort für Wort richtig", sagte der Heizer, ehe ihn noch jemand gefragt, ja, ehe man noch überhaupt auf ihn hingesehen hatte. Diese Übereiltheit des Heizers wäre ein großer Fehler gewesen, wenn nicht der Herr mit den Orden, der wie es jetzt Josie aufleuchtete, jedenfalls der Kapitän war, offenbar mit sich bereits übereingekommen wäre, den Heizer anzuhören. Er streckte nämlich die Hand aus und rief zum Heizer: "Kommen Sie her!" Mit einer Stimme, fest, um mit einem Hammer darauf zu schlagen. Jetzt hing alles vom Benehmen des Heizers ab, denn was die Gerechtigkeit seiner Sache anbelangte, an der zweifelte Josie nicht.
Glücklicherweise zeigte sich bei dieser Gelegenheit, dass der Heizer schon viel in der Welt herum gekommen war. Musterhaft ruhig nahm er aus seinem Köfferchen mit dem ersten Griff ein Bündelchen Papiere sowie ein Notizbuch, ging damit, als verstünde sich das von selbst, unter vollständiger Vernachlässigung des Oberkassierers zum Kapitän und breitete auf dem Fensterbrett seine Beweismittel aus. Dem Oberkassierer blieb nichts übrig, als sich selbst hin zu bemühen. "Der Mann ist ein bekannter Querulant", sagte er zur Erklärung, "er ist mehr in der Kasse als im Maschinenraum. Er hat Schubal, diesen ruhigen Menschen, ganz zur Verzweiflung gebracht. Hören Sie einmal!" wandte er sich an den Heizer, "Sie treiben ihre Zudringlichkeit doch schon wirklich zu weit. Wie oft hat man Sie schon aus den Auszahlungsräumen heraus geworfen, wie Sie es mit ihren ganz, vollständig und ausnahmslos unberechtigten Forderungen verdienen! Wie oft sind Sie von dort hierher in die Hauptkasse gelaufen gekommen! Wie oft hat man Ihnen im Guten gesagt, dass Schubal Ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist, mit dem allein Sie sich als sein Untergebener abzufinden haben! Und jetzt kommen Sie gar noch her, wenn der Herr Kapitän da ist, schämen sich nicht, sogar ihn zu belästigen, sondern entblöden sich nicht, als eingelernten Stimmführer ihrer abgeschmackten Beschuldigungen diesen Kleinen mitzubringen, den ich überhaupt zum ersten Mal auf dem Schiffe sehe."
Josie hielt sich mit Gewalt zurück vor zu springen. Aber da war auch schon der Kapitän da, welcher sagte: "Hören wir den Mann doch einmal an. Der Schubal wird mir sowieso mit der Zeit viel zu selbstständig, womit ich aber nichts zu Ihren Gunsten gesagt haben will." Das letztere galt dem Heizer, es war nur natürlich, dass er sich nicht sofort für ihn einsetzen konnte, aber alles schien auf dem richtigen Weg. Der Heizer begann seine Erklärungen und überwand sich gleich am Anfang, indem er den Schubal mit Herr titulierte. Wie freute sich Josie am verlassenen Schreibtisch des Oberkassierers, wo er eine Briefwaage immer wieder nieder drückte, vor lauter Vergnügen. Herr Schubal ist ungerecht. Herr Schubal bevorzugt die Ausländer. Herr Schubal verwies den Heizer aus dem Maschinenraum und ließ ihn Klosette reinigen, was doch gewiss nicht des Heizers Sache war. Einmal wurde sogar die Tüchtigkeit des Herrn Schubal angezweifelt, die eher scheinbar, als wirklich vorhanden sein sollte. Bei dieser Stelle starrte Josie mit aller Kraft den Kapitän an, zu tunlich, als sei er sein Kollege, nur damit er sich durch die etwas ungeschickte Ausdrucksweise des Heizers nicht zu seinen Ungunsten beeinflussen lasse. Immerhin erfuhr man aus den vielen Reden nichts Eigentliches und wenn auch der Kapitän noch immer vor sich hinsah, in den Augen die Entschlossenheit den Heizer diesmal bis zu Ende anzuhören, so wurden doch die anderen Herren ungeduldig und die Stimme des Heizers regierte bald nicht mehr unumschränkt in dem Raum, was manches befürchten ließ. Als Erster setzte der Herr in Zivil sein Bambusstöckchen in Tätigkeit und klopfte, wenn auch nur leise auf das Parkett. Die anderen Herren sahen natürlich hier und da hin, die Herren von der Hafenbehörde, die offenbar pressiert waren, griffen wieder zu den Akten und begannen, wenn auch noch etwas geistesabwesend, sie durchzusehn, der Schiffsoffizier rückte seinem Tische wieder näher und der Oberkassierer, der gewonnenes Spiel zu haben glaubte, seufzte aus Ironie tief auf. Von der allgemein eintretenden Zerstreuung schien nur der Diener bewahrt, der von den Leiden des unter die Großen gestellten armen Mannes einen Teil mitfühlte und Josie ernst zunickte, als wolle er damit etwas erklären.
Inzwischen ging vor den Fenstern das Hafenleben weiter, ein flaches Lastschiff mit einem Berg von Fässern, die wunderbar verstaut sein mussten, dass sie nicht ins Rollen kamen, zog vorüber und erzeugte in dem Zimmer fast Dunkelheit, kleine Motorboote, die Josie jetzt, wenn er Zeit gehabt hätte, genau hätte ansehen können, rauschten nach den Zuckungen der Hände eines am Steuer aufrecht stehenden Mannes schnurgerade dahin, eigentümliche Schwimmkörper tauchten hier und da selbstständig aus dem ruhelosen Wasser, wurden gleich wieder überschwemmt und versanken vor dem erstaunten Blick, Boote der Ozeandampfer wurden von heiß arbeitenden Matrosen vorwärts gerudert und waren voll von Passagieren, die darin, so wie man sie hinein gezwängt hatte, still und erwartungsvoll saßen, wenn es auch manche nicht unterlassen konnten, die Köpfe nach den wechselnden Szenerien zu drehen. Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke.
Aber alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung, aber was tat der Heizer? Er redete sich allerdings in Schweiß, die Papiere auf dem Fenster konnte er längst mit seinen zitternden Händen nicht mehr halten, aus allen Himmelsrichtungen strömten ihm Klagen über Schubal zu, von denen seiner Meinung nach jede Einzelne genügt hätte, diesen Schubal vollständig zu begraben, aber was er dem Kapitän vorzeigen konnte, war nur ein trauriges Durcheinanderstrudeln aller insgesamt. Längst schon pfiff der Herr mit dem Bambusstöckchen schwach zur Decke hinauf, die Herren von der Hafenbehörde hielten schon den Offizier an ihrem Tisch und machten keine Miene ihn wieder los zu lassen, der Oberkassierer wurde sichtlich nur durch die Ruhe des Kapitäns vor dem Dreinfahren zurückgehalten, wonach es ihn juckte. Der Diener erwartete in Habachtstellung jeden Augenblick einen auf den Heizer bezüglichen Befehl seines Kapitäns.
Da konnte Josie nicht mehr untätig bleiben. Er ging also langsam zu der Gruppe hin und überlegte im Gehen nur desto schneller, wie er die Sache möglichst geschickt angreifen könnte. Es war wirklich höchste Zeit, noch ein kleines Weilchen nur und sie konnten ganz gut beide aus dem Büro fliegen. Der Kapitän mochte ja ein guter Mann sein und überdies gerade jetzt, wie es Josie schien, einen besondern Grund haben, sich als gerechter Vorgesetzter zu zeigen, aber schließlich war er kein Instrument, das man in Grund und Boden spielen konnte — und gerade so behandelte ihn der Heizer, allerdings aus seinem grenzenlos empörten Inneren heraus.
Josie sagte also zum Heizer: "Sie müssen das einfacher erzählen, klarer, der Herr Kapitän kann das nicht würdigen, so wie Sie es ihm erzählen. Kennt er denn alle Maschinisten und Laufburschen bei Namen oder gar beim Taufnamen, dass er, wenn Sie nur einen solchen Namen aussprechen, gleich wissen kann, um wen es sich handelt. Ordnen Sie doch ihre Beschwerden, sagen Sie die wichtigste zuerst und absteigend die andern, vielleicht wird es dann überhaupt nicht mehr nötig sein, die meisten auch nur zu erwähnen. Mir haben Sie es doch immer so klar dargestellt." Wenn man in Amerika Koffer stehlen kann, kann man auch hier und da lügen, dachte er zur Entschuldigung.
Wenn es aber nur geholfen hätte! Ob es nicht auch schon zu spät war? Der Heizer unterbrach sich zwar sofort, als er die bekannte Stimme hörte, aber mit seinen Augen, die ganz von Tränen, der beleidigten Mannesehre, der schrecklichen Erinnerungen, der äußersten gegenwärtigen Not verdeckt waren, konnte er Josie schon nicht einmal mehr gut erkennen. Wie sollte er auch jetzt, Josie sah das schweigend vor dem jetzt Schweigenden wohl ein, wie sollte er auch jetzt plötzlich seine Redeweise ändern, da es ihm doch schien, als hätte er alles, was zu sagen war, ohne die geringste Anerkennung schon vorgebracht und als habe er andererseits noch gar nichts gesagt und könne doch den Herren jetzt nicht zumuten, noch alles anzuhören. Und in einem solchen Zeitpunkt kommt noch Josie, sein einziger Anhänger, daher, will ihm gute Lehren geben, zeigt ihm aber statt dessen, dass alles, alles verloren ist.
Wäre ich früher gekommen, statt aus dem Fenster zu schauen, sagte sich Josie, senkte vor dem Heizer das Gesicht und schlug die Hände an die Hosennaht zum Zeichen des Endes jeder Hoffnung.
Aber der Heizer missverstand das, witterte wohl in Josie irgendwelche geheimen Vorwürfe gegen sich und in der guten Absicht, sie ihm auszureden, fing er zur Krönung seiner Taten mit Josie jetzt zu streiten an. Jetzt, wo doch die Herren am runden Tisch längst empört über den nutzlosen Lärm waren, der ihre wichtigen Arbeiten störte, wo der Hauptkassierer allmählich die Geduld des Kapitäns unverständlich fand und zum sofortigen Ausbruch neigte, wo der Diener ganz wieder in der Sphäre seiner Herren den Heizer mit wildem Blicke maß und wo endlich der Herr mit dem Bambusstöckchen, zu welchem sogar der Kapitän hier und da freundschaftlich hinüber sah, schon gänzlich abgestumpft gegen den Heizer, ja von ihm angewidert, ein kleines Notizbuch hervor zog und offenbar mit ganz andern Angelegenheiten beschäftigt die Augen zwischen dem Notizbuch und Josie hin und her wandern ließ.
"Ich weiß ja, ich weiß ja", sagte Josie, der Mühe hatte, den jetzt gegen ihn gekehrten Schwall des Heizers abzuwehren, trotzdem aber quer durch allen Streit noch ein Freundeslächeln für ihn übrig hatte. "Sie haben Recht, Recht, ich habe ja nie daran gezweifelt." Er hätte ihm gern die herum fahrenden Hände aus Furcht vor Schlägen gehalten, noch lieber allerdings ihn in einen Winkel gedrängt, um ihm ein paar leise, beruhigende Worte zuzuflüstern, die niemand sonst hätte hören müssen. Aber der Heizer war außer Rand und Band. Josie begann jetzt schon sogar aus dem Gedanken eine Art Trost zu schöpfen, dass der Heizer im Notfall mit der Kraft seiner Verzweiflung alle anwesenden sieben Männer bezwingen könne. Allerdings lag auf dem Schreibtisch, wie ein Blick dorthin lehrte, ein Aufsatz mit viel zu vielen Druckknöpfen der elektrischen Leitung und eine Hand, einfach auf sie niedergedrückt, konnte das ganze Schiff mit allen seinen von feindlichen Menschen gefüllten Gängen rebellisch machen.
Da trat der doch so uninteressierte Herr mit dem Bambusstöckchen auf Josie zu und fragte nicht überlaut, aber deutlich über allem Geschrei des Heizers: "Wie heißen Sie denn eigentlich?" In diesem Augenblick, als hätte jemand hinter der Tür auf diese Äußerung des Herrn gewartet, klopfte es. Der Diener sah zum Kapitän hinüber, dieser nickte. Daher ging der Diener zur Tür und öffnete sie. Draußen stand in einem alten Kaiserrock ein Mann von mittleren Proportionen, seinem Aussehen nach nicht eigentlich zur Arbeit an den Maschinen geeignet und war doch — Schubal. Wenn es Josie nicht an aller Augen erkannt hätte, die eine gewisse Befriedigung ausdrückten, von der nicht einmal der Kapitän frei war, er hätte es zu seinem Schrecken am Heizer sehen müssen, der die Fäuste an den gestrafften Armen so ballte, als sei diese Ballung das Wichtigste an ihm, dem er alles, was er an Leben habe, zu opfern bereit sei. Da steckte jetzt alle seine Kraft, auch die, welche ihn überhaupt aufrecht erhielt.
Und da war also der Feind frei und frisch im Festanzug, unter dem Arm ein Geschäftsbuch, wahrscheinlich die Lohnlisten und Arbeitsausweise des Heizers, und sah, mit dem ungescheuten Zugeständnis, dass er die Stimmung jedes einzelnen vor allem feststellen wolle, in aller Augen der Reihe nach. Die sieben waren auch schon alle seine Freunde, denn wenn auch der Kapitän früher gewisse Einwände gegen ihn gehabt oder vielleicht auch nur vorgeschützt hatte, nach dem Leid, das ihm der Heizer angetan hatte, schien ihm wahrscheinlich an Schubal auch das Geringste nicht mehr auszusetzen. Gegen einen Mann wie den Heizer konnte man nicht streng genug verfahren und wenn dem Schubal etwas vorzuwerfen war, so war es der Umstand, dass er die Widerspenstigkeit des Heizers im Laufe der Zeiten nicht so weit hatte brechen können, dass es dieser heute noch gewagt hatte, vor dem Kapitän zu erscheinen.
Nun konnte man ja vielleicht noch annehmen, die Gegenüberstellung des Heizers und Schubals werde die ihr vor einem höheren Forum zukommende Wirkung auch vor den Menschen nicht verfehlen, denn wenn sich auch Schubal gut verstellen konnte, er musste es doch durchaus nicht bis zum Ende aushalten können. Ein kurzes Aufblitzen seiner Schlechtigkeit sollte genügen, um sie den Herren sichtbar zu machen, dafür wollte Josie schon sorgen. Er kannte doch schon beiläufig den Scharfsinn, die Schwächen, die Launen der einzelnen Herren und unter diesem Gesichtspunkt war die bisher hier verbrachte Zeit nicht verloren. Wenn nur der Heizer besser auf dem Platze gewesen wäre, aber der schien vollständig kampfunfähig. Wenn man ihm den Schubal hingehalten hätte, hätte er wohl dessen gehassten Schädel mit den Fäusten aufklopfen können, wie eine dünnschalige Nuss. Aber schon die paar Schritte zu ihm hinzugehn, war er wohl kaum im Stande. Warum hatte denn Josie das so leicht Vorauszusehende nicht vorausgesehen, dass Schubal endlich kommen müsse, wenn nicht aus eigenem Antrieb, so vom Kapitän gerufen. Warum hatte er auf dem Herweg mit dem Heizer nicht einen genauen Kriegsplan besprochen, statt wie sie es in Wirklichkeit getan hatten, heillos unvorbereitet einfach dort einzutreten, wo eine Türe war? Konnte der Heizer überhaupt noch reden, Ja und Nein sagen, wie es bei dem Kreuzverhör, das allerdings nur im günstigsten Fall bevorstand, nötig sein würde. Er stand da, die Beine auseinander gestellt, die Knie ein wenig gebogen, den Kopf etwas gehoben und die Luft verkehrte durch den offenen Mund, als gebe es innen keine Lungen mehr, die sie verarbeiteten.
Josie allerdings fühlte sich so kräftig und bei Verstand, wie er es vielleicht zu Hause niemals gewesen war. Wenn ihn doch seine Eltern sehen könnten, wie er im fremden Land vor angesehenen Persönlichkeiten das Gute verfocht und wenn er es auch noch nicht zum Siege gebracht hatte, so doch zur letzten Eroberung sich vollkommen bereit stellte. Würden sie ihre Meinung über ihn revidieren? Ihn zwischen sich niedersetzen und loben? Ihm einmal in die ihnen so ergebenen Augen sehn? Unsichere Fragen und ungeeignetester Augenblick sie zu stellen!
"Ich komme, weil ich glaube, dass mich der Heizer irgendwelcher Unredlichkeiten beschuldigt. Ein Mädchen aus der Küche sagte mir, sie hätte ihn auf dem Wege hierher gesehen. Herr Kapitän und Sie alle meine Herren, ich bin bereit, jede Beschuldigung an der Hand meiner Schriften, nötigenfalls durch Aussagen unvoreingenommener und unbeeinflusster Zeugen, die vor der Türe stehn, zu widerlegen." So sprach Schubal. Das war allerdings die klare Rede eines Mannes, und nach der Veränderung in den Mienen der Zuhörer hätte man glauben können, sie hörten zum ersten Mal nach langer Zeit wieder menschliche Laute. Sie bemerkten freilich nicht, dass selbst diese schöne Rede Löcher hatte. Warum war das erste sachliche Wort, das ihm einfiel, "Unredlichkeiten"? Hätte vielleicht die Beschuldigung hier einsetzen müssen, statt bei seinen nationalen Voreingenommenheiten? Ein Mädchen aus der Küche hatte den Heizer auf dem Weg ins Büro gesehen und Schubal hatte sofort begriffen? War es nicht das Schuldbewusstsein, das ihm den Verstand schärfte? Und Zeugen hatte er gleich mitgebracht und nannte sie noch außerdem unvoreingenommen und unbeeinflusst? Gaunerei, nichts als Gaunerei, und die Herren duldeten das und anerkannten es noch als richtiges Benehmen? Warum hatte er zweifellos sehr viel Zeit zwischen der Meldung des Küchenmädchens und seiner Ankunft hier verstreichen lassen, doch zu keinem andern Zwecke, als damit der Heizer die Herren so ermüde, dass sie allmählich ihre klare Urteilskraft verloren hätten, welche Schubal vor allem zu fürchten hatte? Hatte er, der sicher schon lange hinter der Tür gestanden war, nicht erst in dem Augenblick geklopft, als er infolge der nebensächlichen Frage jenes Herren hoffen durfte, der Heizer sei erledigt?
Alles war klar und wurde ja auch von Schubal wider Willen so dargeboten, aber den Herren musste man es anders, noch handgreiflicher sagen. Sie brauchten Aufrüttelung. Also Josie, rasch, nütze jetzt wenigstens die Zeit aus, ehe die Zeugen auftreten und alles überschwemmen.
Eben aber winkte der Kapitän dem Schubal ab, der daraufhin sofort — denn seine Angelegenheit schien für ein Weilchen verschoben worden zu sein — beiseite trat und mit dem Diener, der sich ihm gleich angeschlossen hatte, eine leise Unterhaltung begann, bei der es an Seitenblicken nach dem Heizer und Josie sowie an den überzeugtesten Handbewegungen nicht fehlte. Schubal schien so seine nächste große Rede einzuüben.
"Wollten Sie nicht den jungen Mann hier etwas fragen, Herr Jakob?" sagte der Kapitän unter allgemeiner Stille zu dem Herrn mit dem Bambusstöckchen.
"Allerdings", sagte dieser mit einer kleinen Neigung für die Aufmerksamkeit dankend. Und fragte dann Josie nochmals: "Wie heißen Sie eigentlich?"
Josie, welcher glaubte, es sei im Interesse der großen Hauptsache gelegen, wenn dieser Zwischenfall des hartnäckigen Fragers bald erledigt würde, antwortete kurz, ohne wie es seine Gewohnheit war, durch Vorlage des Passes sich vorzustellen, den er erst hätte suchen müssen: "Josie Rossmann."
"Aber", sagte der mit Jakob Angesprochene und trat zuerst fast ungläubig lächelnd zurück. Auch der Kapitän, der Oberkassierer, der Schiffsoffizier, ja sogar der Diener zeigten deutlich ein übermäßiges Erstaunen wegen Josies Namen. Nur die Herren von der Hafenbehörde und Schubal verhielten sich gleichgültig.
"Aber", wiederholte der Herr Jakob und trat mit etwas steifen Schritten auf Josie zu, "dann bin ich ja dein Onkel Jakob und du bist mein lieber Neffe. Ahnte ich es doch die ganze Zeit über", sagte er zum Kapitän hin, ehe er Josie umarmte und küsste, der alles stumm geschehen ließ.
"Wie heißen Sie?" fragte Josie, nachdem er sich losgelassen fühlte, zwar sehr höflich, aber gänzlich ungerührt, und strengte sich an, die Folgen abzusehen, welche dieses neue Ereignis für den Heizer haben könne. Vorläufig deutete nichts daraufhin, dass Schubal aus dieser Sache Nutzen ziehen könnte. "Begreifen Sie doch, junger Mann, ihr Glück", sagte der Kapitän, der durch die Frage die Würde der Person des Herrn Jakob verletzt glaubte, der sich zum Fenster gestellt hatte, offenbar um sein aufgeregtes Gesicht, das er überdies mit einem Taschentuch betupfte, den andern nicht zeigen zu müssen. "Es ist der Staatsrat Edward Jakob, der sich Ihnen als ihr Onkel zu erkennen gegeben hat. Es erwartet Sie nunmehr, doch wohl ganz gegen ihre bisherigen Erwartungen, eine glänzende Laufbahn. Versuchen Sie das einzusehen, so gut es im ersten Augenblick geht und fassen Sie sich."
"Ich habe allerdings einen Onkel Jakob in Amerika", sagte Josie zum Kapitän gewendet, "aber wenn ich recht verstanden habe, lautet bloß der Zuname des Herrn Staatsrat Jakob."
"So ist es", sagte der Kapitän erwartungsvoll.
"Nun, mein Onkel Jakob, welcher der Bruder meiner Mutter ist, heißt aber mit dem Taufnamen Jakob, während sein Zuname natürlich gleich jenem meiner Mutter lauten müsste, welche eine geborene Bendelmayer ist."
"Meine Herren!" rief der Staatsrat, der von seinem Erholungsposten beim Fenster munter zurückkehrte, mit Bezug auf Josies Erklärung, aus. Alle mit Ausnahme der Hafenbeamten brachen in Lachen aus, manche wie in Rührung, manche undurchdringlich.
"So lächerlich war das, was ich gesagt habe, doch keineswegs", dachte Josie.
"Meine Herren", wiederholte der Staatsrat, "Sie nehmen gegen meinen und gegen ihren Willen an einer kleinen Familienszene teil und ich kann deshalb nicht umhin, Ihnen eine Erläuterung zu geben, da wie ich glaube nur der Herr Kapitän", diese Erwähnung hatte eine gegenseitige Verbeugung zur Folge, "vollständig unterrichtet ist."
Jetzt muss ich aber wirklich auf jedes Wort Acht geben, sagte sich Josie und freute sich, als er bei einem Seitwärtsschauen bemerkte, dass in die Figur des Heizers das Leben zurückzukehren begann.
"Ich lebe seit allen den langen Jahren meines amerikanischen Aufenthaltes — das Wort Aufenthalt passt hier allerdings schlecht, für den amerikanischen Bürger, der ich mit ganzer Seele bin — seit allen den langen Jahren lebe ich also von meinen europäischen Verwandten vollständig abgetrennt, aus Gründen, die erstens nicht hierher gehören und die zweitens zu erzählen mich wirklich zu sehr hernehmen würde. Ich fürchte mich sogar vor dem Augenblick, wo ich gezwungen sein werde, sie meinem lieben Neffen zu erzählen, wobei sich leider ein offenes Wort über seine Eltern und ihren Anhang nicht vermeiden lassen wird."
"Er ist mein Onkel, kein Zweifel", sagte sich Josie und lauschte. "Wahrscheinlich hat er seinen Namen ändern lassen."
"Mein lieber Neffe ist nun von seinen Eltern — sagen wir nur das Wort, das die Sache auch wirklich bezeichnet — einfach beiseite geschafft worden, wie man eine Katze vor die Tür wirft, wenn sie ärgert. Ich will durchaus nicht beschönigen, was mein Neffe gemacht hat, dass er so gestraft wurde — Beschönigen ist nicht amerikanische Art — aber sein Verschulden ist von der Art, dass dessen einfaches Nennen schon genug Entschuldigung enthält."
"Das lässt sich hören", dachte Josie, "aber ich will nicht, dass er es allen erzählt. Übrigens kann er es ja auch nicht wissen. Woher denn? Aber wir werden sehen, er wird schon alles wissen."
"Er wurde nämlich", fuhr der Onkel fort und stützte sich mit kleinen Neigungen auf das vor ihm eingestemmte Bambusstöckchen, wodurch es ihm tatsächlich gelang, der Sache einen Teil der unnötigen Feierlichkeit zu nehmen, die sie sonst unbedingt gehabt hätte — "er wurde nämlich von einem Dienstmädchen Johanna Brummer, einer etwa fünfunddreißig-jährigen Person, verführt. Ich will mit dem Worte verführt meinen Neffen durchaus nicht kränken, aber es ist doch schwer, ein anderes, gleich passendes Wort zu finden."
Josie, der schon ziemlich nahe zum Onkel getreten war, drehte sich hier um, um den Eindruck der Erzählung von den Gesichtern der Anwesenden abzulesen. Keiner lachte, alle hörten geduldig und ernsthaft zu. Schließlich lacht man auch nicht über den Neffen eines Staatsrates, bei der ersten Gelegenheit, die sich darbietet. Eher hätte man schon sagen können, dass der Heizer, wenn auch nur ganz wenig, Josie anlächelte, was aber erstens als neues Lebenszeichen erfreulich und zweitens entschuldbar war, da ja Josie in der Kabine aus dieser Sache, die jetzt so publik wurde, ein besonderes Geheimnis hatte machen wollen.
"Nun hat diese Brummer", setzte der Onkel fort, "von meinem Neffen ein Kind bekommen, einen gesunden Jungen, welcher in der Taufe den Namen Jakob erhielt, zweifellos in Gedanken an meine Wenigkeit, welche selbst in den sicher nur ganz nebensächlichen Erwähnungen meines Neffen auf das Mädchen einen großen Eindruck gemacht haben muss. Glücklicherweise, sage ich. Denn da die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung oder sonstigen bis an sie selbst heran reichenden Skandales — ich kenne, wie ich betonen muss, weder die dortigen Gesetze noch die sonstigen Verhältnisse der Eltern, sondern weiß nur von zwei Bettelbriefen der Eltern aus früherer Zeit, die ich zwar unbeantwortet gelassen, aber aufgehoben habe, und welche meine einzige und überdies einseitige briefliche Verbindung mit ihnen in der ganzen Zeit bedeuten — da also die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung und des Skandales ihren Sohn, meinen lieben Neffen, nach Amerika haben transportieren lassen, mit unverantwortlich ungenügender Ausrüstung, wie man sieht — wäre der Junge, wenn man von den gerade noch in Amerika lebendigen Zeichen und Wundern absieht, auf sich allein angewiesen, wohl schon gleich in einem Gässchen im Hafen von New York verkommen, wenn nicht jenes Dienstmädchen in einem an mich gerichteten Brief, der nach langen Irrfahrten vorgestern in meinen Besitz kam, mir die ganze Geschichte, samt Personenbeschreibung meines Neffen und vernünftigerweise auch Namensnennung des Schiffes, mitgeteilt hätte. Wenn ich es darauf angelegt hätte, Sie, meine Herren, zu unterhalten, könnte ich wohl einige Stellen jenes Briefes" — er zog zwei riesige, eng beschriebene Briefbogen aus der Tasche und schwenkte sie — "hier vorlesen. Er würde sicher Wirkung machen, da er mit einer etwas einfachen, wenn auch immer gut gemeinten Schlauheit, und mit viel Liebe zu dem Vater ihres Kindes geschrieben ist. Aber ich will weder Sie mehr unterhalten, als es zur Aufklärung nötig ist, noch vielleicht gar zum Empfang möglicherweise noch bestehende Gefühle meines Neffen verletzen, der den Brief, wenn er mag, in der Stille seines ihn schon erwartenden Zimmers zur Belehrung lesen kann." Josie hatte aber keine Gefühle für jenes Mädchen. Im Gedränge einer immer mehr zurückgestoßenen Vergangenheit saß sie in ihrer Küche neben dem Küchenschrank, auf dessen Platte sie ihren Ellbogen stützte. Sie sah ihn an, wenn er hin und wieder in die Küche kam, um ein Glas zum Wasser trinken für seinen Vater zu holen oder einen Auftrag seiner Mutter auszurichten. Manchmal schrieb sie in der vertrackten Stellung seitlich vom Küchenschrank einen Brief und holte sich die Eingebungen von Josies Gesicht. Manchmal hielt sie die Augen mit der Hand verdeckt, dann drang keine Anrede zu ihr. Manchmal kniete sie in ihrem engen Zimmerchen neben der Küche und betete zu einem hölzernen Kreuz, Josie beobachtete sie dann nur mit Scheu, im Vorübergehn, durch die Spalte der ein wenig geöffneten Tür. Manchmal jagte sie in der Küche herum und fuhr wie eine Hexe lachend zurück, wenn Josie ihr in den Weg kam. Manchmal schloss sie die Küchentüre, wenn Josie eingetreten war und behielt die Klinke solange in der Hand, bis er wegzugehen verlangte. Manchmal holte sie Sachen, die er gar nicht haben wollte, und drückte sie ihm schweigend in die Hände. Einmal aber sagte sie "Josie!" und führte ihn, der noch über die unerwartete Ansprache staunte, unter Grimassen seufzend in ihr Zimmerchen, das sie zusperrte. Würgend umarmte sie seinen Hals und während sie ihn bat, sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett, als wolle sie ihn von jetzt niemandem mehr lassen und ihn streicheln und pflegen bis zum Ende der Welt. "Josie, oh, du mein Josie", rief sie, als sehe sie ihn und bestätige sich seinen Besitz, während er nicht das Geringste sah und sich unbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für ihn aufgehäuft zu haben schien. Dann legte sie sich auch zu ihm und wollte irgendwelche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr keine sagen und sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Josie aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich, dass Josie Kopf und Hals aus den Kissen heraus schüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einige Male gegen ihn, ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst und vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen. Weinend kam er endlich nach vielen Wiedersehenswünschen ihrerseits in sein Bett. Das war alles gewesen, und doch verstand es der Onkel, daraus eine große Geschichte zu machen. Und die Köchin hatte also auch an ihn gedacht und den Onkel von seiner Ankunft verständigt. Das war schön von ihr gehandelt und er würde es ihr wohl noch einmal vergelten.
"Und jetzt", rief der Senator, "will ich von dir offen hören, ob ich dein Onkel bin oder nicht."
"Du bist mein Onkel", sagte Josie und küsste ihm die Hand und wurde dafür auf die Stirn geküsst. "Ich bin sehr froh, dass ich dich getroffen habe, aber du irrst, wenn du glaubst, dass meine Eltern nur Schlechtes von dir reden. Aber auch abgesehen davon, sind in deiner Rede einige Fehler enthalten gewesen, d.h. ich meine, es hat sich in Wirklichkeit nicht alles so zugetragen. Du kannst aber auch wirklich von hier aus die Dinge nicht so gut beurteilen und ich glaube außerdem, dass es keinen besondern Schaden bringen wird, wenn die Herren in Einzelheiten einer Sache, an der ihnen doch wirklich nicht viel liegen kann, ein wenig unrichtig informiert worden sind." "Wohl gesprochen", sagte der Senator, führte Josie vor den sichtlich teilnehmenden Kapitän und sagte: "Habe ich nicht einen prächtigen Neffen?" "Ich bin glücklich", sagte der Kapitän mit einer Verbeugung, wie sie nur militärisch geschulte Leute zu Stande bringen, "ihren Neffen, Herr Senator, kennen gelernt zu haben. Es ist eine besondere Ehre für mein Schiff, dass es den Ort eines solchen Zusammentreffens abgeben konnte. Aber die Fahrt im Zwischendeck war wohl sehr arg, ja, wer kann das wissen, wer da mit geführt wird. Einmal ist z.B. auch der Erstgeborene des obersten ungarischen Magnaten, der Name und der Grund der Reise ist mir schon entfallen, in unserem Zwischendeck gefahren. Ich habe es erst viel später erfahren. Nun, wir tun alles Mögliche, den Leuten im Zwischendeck die Fahrt möglichst zu erleichtern, viel mehr z.B. als die amerikanischen Linien, aber eine solche Fahrt zu einem Vergnügen zu machen, ist uns allerdings noch immer nicht gelungen."
"Es hat mir nicht geschadet", sagte Josie.
"Es hat ihm nicht geschadet!" wiederholte laut lachend der Senator.
"Nur meinen Koffer fürchte ich verloren zu—". Und damit erinnerte er sich an alles, was geschehen war, und was noch zu tun übrig blieb, sah sich um und erblickte alle Anwesenden stumm vor Achtung und Staunen auf ihren frühern Plätzen, die Augen auf ihn gerichtet. Nur den Hafenbeamten sah man, so weit ihre strengen, selbst zufriedenen Gesichter einen Einblick gestatteten, das Bedauern an, zu so ungelegener Zeit gekommen zu sein, und die Taschenuhr, die sie jetzt vor sich liegen hatten, war ihnen wahrscheinlich wichtiger, als alles, was im Zimmer vorging und vielleicht noch geschehen konnte.
Der erste, welcher nach dem Kapitän seine Anteilnahme aussprach, war merkwürdigerweise der Heizer. "Ich gratuliere Ihnen herzlich", sagte er und schüttelte Josie die Hand, womit er auch etwas wie Anerkennung ausdrücken wollte. Als er sich dann mit der gleichen Ansprache auch an den Senator wenden wollte, trat dieser jedoch zurück, als überschreite der Heizer damit seine Rechte; der Heizer ließ auch sofort ab.
Die Übrigen aber sahen jetzt ein, was zu tun war und bildeten gleich um Josie und den Senator einen Wirrwarr. So geschah es, dass Josie sogar eine Gratulation Schubals erhielt, annahm und für sie dankte. Als Letzte traten in der wieder entstandenen Ruhe die Hafenbeamten hinzu und sagten zwei englische Worte, was einen lächerlichen Eindruck machte.
Der Senator war ganz in der Laune, um das Vergnügen vollständig auszukosten, nebensächlichere Momente sich und den andern in Erinnerung zu bringen, was natürlich von allen nicht nur geduldet, sondern mit Interesse hingenommen wurde. So machte er darauf aufmerksam, dass er sich die in dem Brief der Köchin erwähnten hervorstechendsten Erkennungszeichen Josies in sein Notizbuch zu möglicherweise notwendigem, augenblicklichen Gebrauch eingetragen hatte. Nun hatte er während des unerträglichen Geschwätzes des Heizers zu keinem andern Zweck, als um sich abzulenken, das Notizbuch herausgezogen und die natürlich nicht gerade detektivisch richtigen Beobachtungen der Köchin mit Josies Aussehen zum Spiel in Verbindung zu bringen gesucht. "Und so findet man seinen Neffen", schloss er in einem Tone, als wolle er noch einmal Gratulationen bekommen.
"Was wird jetzt dem Heizer geschehn?" fragte Josie, vorbei an der letzten Erzählung des Onkels. Er glaubte in seiner neuen Stellung alles, was er auch dachte, aussprechen zu können.
"Dem Heizer wird geschehen, was er verdient", sagte der Senator, "und was der Herr Kapitän erachtet. Ich glaube, wir haben von dem Heizer genug und übergenug, wozu mir jeder der anwesenden Herren sicher zustimmen wird."
"Darauf kommt es doch nicht an, bei einer Sache der Gerechtigkeit", sagte Josie. Er stand zwischen dem Onkel und dem Kapitän und glaubte, vielleicht durch diese Stellung beeinflusst, die Entscheidung in der Hand zu haben.
Und trotzdem schien der Heizer nichts mehr für sich zu hoffen. Die Hände hielt er halb in den Hosengürtel, der durch seine aufgeregten Bewegungen mit Streifen eines gemusterten Hemdes zum Vorschein gekommen war. Das kümmerte ihn nicht im Geringsten, er hatte sein ganzes Leid geklagt, nun sollte man auch noch die paar Fetzen sehen, die er am Leibe trug und dann sollte man ihn fort tragen. Er dachte sich aus, der Diener und Schubal als die zwei hier im Range tiefsten sollten ihm diese letzte Güte erweisen. Schubal würde dann Ruhe haben und nicht mehr in Verzweiflung kommen, wie sich der Oberkassierer ausgedrückt hatte. Der Kapitän würde lauter Rumänen anstellen können, es würde überall Rumänisch gesprochen werden und vielleicht würde dann wirklich alles besser gehen. Kein Heizer würde mehr in der Hauptkasse schwätzen, nur sein letztes Geschwätz würde man in ziemlich freundlicher Erinnerung behalten, da es, wie der Senator ausdrücklich erklärt hatte, die mittelbare Veranlassung zur Erkennung des Neffen gegeben hatte. Dieser Neffe hatte ihm übrigens vorher öfters zu nützen gesucht und daher für seinen Dienst bei der Wiedererkennung längst vorher einen mehr als genügenden Dank abgestattet; dem Heizer fiel gar nicht ein, jetzt noch etwas von ihm zu verlangen. Im Übrigen, mochte er auch der Neffe des Senators sein, ein Kapitän war er noch lange nicht, aber aus dem Munde des Kapitäns würde schließlich das böse Wort fallen. — So wie es seiner Meinung entsprach, versuchte auch der Heizer nicht zu Josie hinzusehen, aber leider blieb in diesem Zimmer der Feinde kein anderer Ruheort für seine Augen.
"Missverstehe die Sachlage nicht", sagte der Senator zu Josie, "es handelt sich vielleicht um eine Sache der Gerechtigkeit, aber gleichzeitig um eine Sache der Disziplin. Beides und ganz besonders das letztere unterliegt hier der Beurteilung des Herrn Kapitäns."
"So ist es", murmelte der Heizer. Wer es merkte und verstand, lächelte befremdet.
"Wir aber haben überdies den Herrn Kapitän in seinen Amtsgeschäften, die sich sicher gerade bei der Ankunft in New York unglaublich häufen, so sehr schon behindert, dass es höchste Zeit für uns ist, das Schiff zu verlassen, um nicht zum Überfluss auch noch durch irgendwelche höchst unnötige Einmischung diese geringfügige Zänkerei zweier Maschinisten zu einem Ereignis zu machen. Ich begreife deine Handlungsweise, lieber Neffe, übrigens vollkommen, aber gerade das gibt mir das Recht, dich eilends von hier fortzuführen."
"Ich werde sofort ein Boot für Sie flott machen lassen", sagte der Kapitän, ohne zum Erstaunen Josies auch nur den kleinsten Einwand gegen die Worte des Onkels vorzubringen, die doch zweifellos als eine Selbstdemütigung des Onkels angesehen werden konnten. Der Oberkassierer eilte überstürzt zum Schreibtisch und telefonierte den Befehl des Kapitäns an den Bootsmeister.
"Die Zeit drängt schon", sagte sich Josie, "aber ohne alle zu beleidigen, kann ich nichts tun. Ich kann doch jetzt den Onkel nicht verlassen, nachdem er mich kaum wiedergefunden hat. Der Kapitän ist zwar höflich, aber das ist auch alles. Bei der Disziplin hört seine Höflichkeit auf und der Onkel hat ihm sicher aus der Seele gesprochen. Mit Schubal will ich nicht reden, es tut mir sogar leid, dass ich ihm die Hand gereicht habe. Und alle andern Leute hier sind Spreu." Und er ging langsam in solchen Gedanken zum Heizer, zog dessen rechte Hand aus dem Gürtel und hielt sie spielend in der seinen. "Warum sagst du denn nichts?" fragte er. "Warum lässt du dir alles gefallen?"
Der Heizer legte nur die Stirn in Falten, als suche er den Ausdruck, für das, was er zu sagen habe. Im Übrigen sah er auf seine und Josies Hand hinab.
"Dir ist ja Unrecht geschehn, wie keinem auf dem Schiff, das weiß ich ganz genau." Und Josie zog seine Finger hin und her zwischen den Fingern des Heizers, der mit glänzenden Augen ringsumher schaute, als widerfahre ihm eine Wonne, die ihm aber niemand verübeln möge.
"Du musst dich aber zur Wehr setzen, Ja und Nein sagen, sonst haben ja die Leute keine Ahnung von der Wahrheit. Du musst mir versprechen, dass du mir folgen wirst, denn ich selbst, das fürchte ich mit vielem Grund, werde dir gar nicht mehr helfen können." Und nun weinte Josie, während er die Hand des Heizers küsste, und nahm die rissige, fast leblose Hand und drückte sie an seine Wangen, wie einen Schatz, auf den man verzichten muss. — Da war aber auch schon der Onkel Senator an seiner Seite und zog ihn, wenn auch nur mit dem leichtesten Zwange, fort. "Der Heizer scheint dich bezaubert zu haben", sagte er und sah verständnisinnig über Josies Kopf zum Kapitän hin. "Du hast dich verlassen gefühlt, da hast du den Heizer gefunden und bist ihm jetzt dankbar, das ist ja ganz löblich. Treibe das aber, schon mir zuliebe, nicht zu weit, und lerne deine Stellung begreifen."
Vor der Türe entstand ein Lärmen, man hörte Rufe und es war sogar, als werde jemand brutal gegen die Tür gestoßen.
Ein Matrose trat ein, etwas verwildert und hatte eine Mädchenschürze umgebunden. "Es sind Leute draußen", rief er und stieß einmal mit den Ellbogen herum, als sei er noch im Gedränge. Endlich fand er seine Besinnung und wollte vor dem Kapitän salutieren, da bemerkte er die Mädchenschürze, riss sie herunter, warf sie zu Boden und rief: "Das ist ja ekelhaft, da haben sie mir eine Mädchenschürze umgebunden." Dann aber klappte er die Hacken zusammen und salutierte. Jemand versuchte zu lachen, aber der Kapitän sagte streng: "Das nenne ich eine gute Laune. Wer ist denn draußen?" "Es sind meine Zeugen", sagte Schubal vortretend, "ich bitte ergebenst um Entschuldigung für ihr unpassendes Benehmen. Wenn die Leute die Seefahrt hinter sich haben, sind sie manchmal wie toll." — "Rufen Sie sie sofort herein", befahl der Kapitän und gleich sich zum Senator umwendend sagte er verbindlich, aber rasch: "Haben Sie jetzt die Güte, verehrter Herr Senator, mit ihrem Herrn Neffen diesem Matrosen zu folgen, der Sie ins Boot bringen wird. Ich muss wohl nicht erst sagen, welches Vergnügen und welche Ehre mir das persönliche Bekanntwerden mit Ihnen, Herr Senator, bereitet hat. Ich wünsche mir nur bald Gelegenheit zu haben, mit Ihnen, Herr Senator, unser unterbrochenes Gespräch über die amerikanischen Flottenverhältnisse wieder einmal aufnehmen zu können und dann vielleicht neuerdings auf so angenehme Weise wie heute unterbrochen zu werden." "Vorläufig genügt mir dieser eine Neffe", sagte der Onkel lachend. "Und nun nehmen Sie meinen besten Dank für ihre Liebenswürdigkeit und leben Sie wohl. Es wäre übrigens gar nicht so unmöglich, dass wir" — er drückte Josie herzlich an sich — "bei unserer nächsten Europareise vielleicht für längere Zeit zusammenkommen könnten." "Es würde mich herzlich freuen", sagte der Kapitän. Die beiden Herren schüttelten einander die Hände, Josie konnte nur noch stumm und flüchtig seine Hand dem Kapitän reichen, denn dieser war bereits von den vielleicht fünfzehn Leuten in Anspruch genommen, welche unter Führung Schubals zwar etwas betroffen, aber doch sehr laut, einzogen. Der Matrose bat den Senator, vorausgehen zu dürfen, und teilte dann die Menge für ihn und Josie, die leicht zwischen den sich verbeugenden Leuten durchkamen. Es schien, dass diese im Übrigen gutmütigen Leute, den Streit Schubals mit dem Heizer als einen Spaß auffassten, dessen Lächerlichkeit nicht einmal vor dem Kapitän aufhöre. Josie bemerkte unter ihnen auch das Küchenmädchen Line, welche, ihm lustig zuzwinkernd, die vom Matrosen hingeworfene Schürze umband, denn es war die ihrige.
Weiter dem Matrosen folgend, verließen sie das Büro und bogen in einen kleinen Gang ein, der sie nach paar Schritten zu einem Türchen brachte, von dem aus eine kurze Treppe in das Boot hinab führte, welches für sie vorbereitet war. Die Matrosen im Boot, in das ihr Führer gleich mit einem einzigen Satz hinunter sprang, erhoben sich und salutierten. Der Senator gab Josie gerade eine Ermahnung zu vorsichtigem Hinuntersteigen, als Josie noch auf der obersten Stufe in heftiges Weinen ausbrach. Der Senator legte die rechte Hand unter Josies Kinn, hielt ihn fest an sich gepresst und streichelte ihn mit der linken Hand. So gingen sie langsam Stufe für Stufe hinab und traten engverbunden ins Boot, wo der Senator für Josie gerade sich gegenüber einen guten Platz aussuchte. Auf ein Zeichen des Senators stießen die Matrosen vom Schiffe ab und waren gleich in voller Arbeit. Kaum waren sie paar Meter vom Schiff entfernt, machte Josie die unerwartete Entdeckung, dass sie sich gerade auf jener Seite des Schiffes befanden, wohin die Fenster der Hauptkasse gingen. Alle drei Fenster waren mit Zeugen Schubals besetzt, welche freundschaftlich grüßten und winkten, sogar der Onkel dankte und ein Matrose machte das Kunststück, ohne eigentlich das gleichmäßige Rudern zu unterbrechen eine Kusshand hinauf zu schicken. Es war wirklich, als gäbe es keinen Heizer mehr. Josie fasste den Onkel, mit dessen Knien sich seine fast berührten, genauer ins Auge und es kamen ihm Zweifel, ob dieser Mann ihm jemals den Heizer werde ersetzen können. Auch wich der Onkel seinem Blicke aus und sah auf die Wellen hin, von denen ihr Boot umschwankt wurde.

Kapitel II: Der Onkel
Im Hause des Onkels gewöhnte sich Josie bald an die neuen Verhältnisse. Der Onkel kam ihm aber auch in jeder Kleinigkeit freundlich entgegen und niemals musste Josie sich erst durch schlechte Erfahrungen belehren lassen, wie dies meist das erste Leben im Ausland so verbittert.
Josies Zimmer lag im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fünf untere Stockwerke, an welche sich in der Tiefe noch drei unterirdische anschlossen, von dem Geschäftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden. Das Licht, das in sein Zimmer durch zwei Fenster und eine Balkontüre eindrang, brachte Josie immer wieder zum Staunen, wenn er des Morgens aus seiner kleinen Schlafkammer hier eintrat. Wo hätte er wohl wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Einwanderer ans Land gestiegen wäre? Ja, vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach seiner Kenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für sehr wahrscheinlich hielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen, sondern ihn nach Hause geschickt, ohne sich weiter darum zu kümmern, dass er keine Heimat mehr hatte. Denn auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen, und es war ganz richtig, was Josie in dieser Hinsicht über Amerika gelesen hatte; nur die Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.
Ein schmaler Balkon zog sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach hin. Was aber in der Heimatstadt Josies wohl der höchste Aussichtspunkt gewesen wäre, gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick über eine Straße, die zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter Häuser gerade und darum wie fliehend in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgens wie abends und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der von oben gesehen, sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinander gestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue, vervielfältigte, wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfasst und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände zerstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.
Vorsichtig, wie der Onkel in allem war, riet er Josie, sich vorläufig ernsthaft nicht auf das Geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschauen, aber sich nicht gefangen nehmen lassen. Die ersten Tage eines Europäers in Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar und wenn man sich hier auch, damit nur Josie keine unnötige Angst habe, rascher eingewöhne, als wenn man vom Jenseits in die menschliche Welt eintrete, so müsse man sich doch vor Augen halten, dass das erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe und dass man sich dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit deren Hilfe man ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung bringen lassen dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die z.B. statt nach diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße herunter gesehen hätten. Das müsse unbedingt verwirren! Diese einsame Untätigkeit, die sich in einen arbeitsreichen New Yorker Tag verschaut, könne einem Vergnügungsreisenden gestattet und vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos, angeraten werden, für einen der hier bleiben wird, sei sie ein Verderben, man könne in diesem Fall ruhig dieses Wort anwenden, wenn es auch eine Übertreibung ist. Und tatsächlich verzog der Onkel immer ärgerlich das Gesicht, wenn er bei einem seiner Besuche, die immer nur einmal täglich und zwar immer zu den verschiedensten Tageszeiten erfolgten, Josie auf dem Balkone antraf. Josie merkte das bald und versagte sich infolgedessen das Vergnügen, auf dem Balkon zu stehen, nach Möglichkeit.
Es war ja auch bei weitem nicht das einzige Vergnügen, das er hatte. In seinem Zimmer stand ein amerikanischer Schreibtisch bester Sorte, wie sich ihn sein Vater seit Jahren gewünscht und auf den verschiedensten Versteigerungen um einen ihm erreichbaren, billigen Preis zu kaufen gesucht hatte, ohne dass es ihm bei seinen kleinen Mitteln jemals gelungen wäre. Natürlich war dieser Tisch mit jenen angeblich amerikanischen Schreibtischen, wie sie sich auf europäischen Versteigerungen herumtreiben, nicht zu vergleichen. Er hatte z.B. in seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe und selbst der Präsident der Union hätte für jeden seiner Akten einen passenden Platz gefunden, aber außerdem war an der Seite ein Regulator und man konnte durch Drehen an der Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz ein ganz anderes Aussehen und alles ging, je nachdem man die Kurbel drehte, langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es war eine neueste Erfindung, erinnerte aber Josie sehr lebhaft an die Krippenspiele, die zuhause auf dem Christmarkt den staunenden Kindern gezeigt wurden, und auch Josie war oft in seine Winterkleider eingepackt davor gestanden und hatte ununterbrochen die Kurbeldrehung, die ein alter Mann ausführte, mit den Wirkungen im Krippenspiel verglichen, mit dem stockenden Vorwärtskommen der heiligen drei Könige, dem Aufglänzen des Sternes und dem befangenen Leben im heiligen Stall. Und immer war es ihm erschienen, als ob die Mutter, die hinter ihm stand, nicht genau genug alle Ereignisse verfolge, er hatte sie zu sich hingezogen, bis er sie an seinem Rücken fühlte und hatte ihr solange mit lauten Ausrufen verborgenere Erscheinungen gezeigt, vielleicht ein Häschen, das vorn im Gras abwechselnd Männchen machte und sich dann wieder zum Lauf bereitete, bis die Mutter ihm den Mund zuhielt und wahrscheinlich in ihre frühere Unachtsamkeit verfiel. Der Tisch war freilich nicht dazu gemacht, um an solche Dinge zu erinnern, aber in der Geschichte der Erfindungen bestand wohl ein ähnlich undeutlicher Zusammenhang wie in Josies Erinnerungen. Der Onkel war zum Unterschied von Josie mit diesem Schreibtisch durchaus nicht einverstanden, nur hatte er eben für Josie einen ordentlichen Schreibtisch kaufen wollen und solche Schreibtische waren jetzt sämtlich mit dieser Neueinrichtung versehen, deren Vorzug nämlich auch darin bestand, bei älteren Schreibtischen ohne große Kosten angebracht werden zu können. Immerhin unterließ der Onkel nicht, Josie zu raten, den Regulator möglichst gar nicht zu verwenden; um die Wirkung des Rates zu verstärken, behauptete der Onkel, die Maschinerie sei sehr empfindlich, leicht zu verderben und die Wiederherstellung sehr kostspielig. Es war nicht schwer einzusehen, dass solche Bemerkungen nur Ausflüchte waren, wenn man sich auch andererseits sagen musste, dass der Regulator sehr leicht zu fixieren war, was der Onkel jedoch nicht tat.
In den ersten Tagen, an denen selbstverständlich zwischen Josie und dem Onkel häufigere Aussprachen stattgefunden hatten, hatte Josie auch erzählt, dass er zu Hause wenig zwar, aber gern Klavier gespielt habe, was er allerdings lediglich mit den Anfangskenntnissen hatte bestreiten können, die ihm die Mutter beigebracht hatte. Josie war sich dessen wohl bewusst, dass eine solche Erzählung gleichzeitig die Bitte um ein Klavier war, aber er hatte sich schon genügend umgesehen, um zu wissen, dass der Onkel auf keine Weise zu sparen brauchte. Trotzdem wurde ihm diese Bitte nicht gleich gewährt, aber etwa acht Tage später sagte der Onkel, fast in der Form eines widerwilligen Eingeständnisses, das Klavier sei eben angelangt und Josie könne, wenn er wolle, den Transport überwachen. Das war allerdings eine leichte Arbeit, aber dabei nicht einmal viel leichter als der Transport selbst, denn im Haus war ein eigener Möbelaufzug, in welchem ohne Gedränge ein ganzer Möbelwagen Platz finden konnte, und in diesem Aufzug schwebte auch das Piano zu Josies Zimmer hinauf. Josie selbst hätte zwar in dem gleichen Aufzug mit dem Piano und den Transportarbeitern fahren können, aber da gleich daneben ein Personenaufzug zur Benutzung frei stand, fuhr er in diesem, hielt sich mittels eines Hebels stets in gleicher Höhe mit dem andern Aufzug und betrachtete unverwandt durch die Glaswände das schöne Instrument, das jetzt sein Eigentum war. Als er es in seinem Zimmer hatte und die ersten Töne anschlug, bekam er eine so närrische Freude, dass er statt weiter zu spielen aufsprang und aus einiger Entfernung die Hände in den Hüften das Klavier lieber anstaunte. Auch die Akustik des Zimmers war ausgezeichnet und sie trug dazu bei, sein anfängliches, kleines Unbehagen, in einem Eisenhause zu wohnen, gänzlich verschwinden zu lassen. Tatsächlich merkte man auch im Zimmer, so eisenmäßig das Gebäude von außen erschien, von eisernen Baubestandteilen nicht das Geringste, und niemand hätte auch nur eine Kleinigkeit in der Einrichtung aufzeigen können, welche die vollständigste Gemütlichkeit irgendwie gestört hätte. Josie erhoffte sich in der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht, wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel zu denken. Es klang ja allerdings sonderbar, wenn er vor den in die Lärm erfüllte Luft geöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Heimat spielte, das die Soldaten am Abend, wenn sie in den Kasernenfenstern liegen und auf den finstern Platz hinaus schauen, von Fenster zu Fenster einander zusingen — aber sah er dann auf die Straße, so war sie unverändert und nur ein kleines Stück eines großen Kreislaufes, das man nicht an und für sich anhalten konnte, ohne alle Kräfte zu kennen, die in der Runde wirkten. Der Onkel duldete das Klavierspiel, sagte auch nichts dagegen, zumal Josie sich auch ohne Mahnung nur selten das Vergnügen des Spieles gönnte, ja, er brachte Josie sogar Noten amerikanischer Märsche und natürlich auch der Nationalhymne, aber allein aus der Freude an der Musik war es wohl nicht zu erklären, als er eines Tages, ohne allen Scherz, Josie fragte, ob er nicht auch das Spiel auf der Geige oder auf dem Waldhorn lernen wolle.
Natürlich war das Lernen des Englischen Josies erste und wichtigste Aufgabe. Ein junger Professor einer Handelshochschule erschien morgens um sieben Uhr in Josies Zimmer und fand ihn schon an seinem Schreibtisch bei den Heften sitzen oder memorierend im Zimmer auf und ab gehn. Josie sah wohl ein, dass zur Aneignung des Englischen keine Eile groß genug sei und dass er hier außerdem die beste Gelegenheit habe, seinem Onkel eine außerordentliche Freude durch rasche Fortschritte zu machen. Und tatsächlich gelang es bald, während zuerst das Englische in den Gesprächen mit dem Onkel sich auf Gruß und Abschiedsworte beschränkt hatte, immer größere Teile der Gespräche ins Englische hinüber zu spielen, wodurch gleichzeitig vertraulichere Themen sich einzustellen begannen. Das erste amerikanische Gedicht, die Darstellung einer Feuersbrunst, das Josie seinem Onkel an einem Abend rezitieren konnte, machte diesen tief ernst vor Zufriedenheit. Sie standen damals beide an einem Fenster in Josies Zimmer, der Onkel sah hinaus, wo alle Helligkeit des Himmels schon vergangen war, und schlug im Mitgefühl der Verse langsam und gleichmäßig in die Hände, während Josie aufrecht neben ihm stand und mit starren Augen das schwierige Gedicht sich entrang.
Je besser Josies Englisch wurde, desto größere Lust zeigte der Onkel, ihn mit seinen Bekannten zusammenzuführen und ordnete nur für jeden Fall an, dass bei solchen Zusammenkünften vorläufig der Englischprofessor sich immer in Josies Nähe zu halten habe. Der allererste Bekannte, dem Josie eines Vormittags vorgestellt wurde, war ein schlanker, junger, unglaublich biegsamer Mann, den der Onkel mit besonderen Komplimenten in Josies Zimmer führte. Es war offenbar einer jener vielen, vom Standpunkt der Eltern aus gesehen, missratenen Millionärssöhne, dessen Leben so verlief, dass ein gewöhnlicher Mensch auch nur einen beliebigen Tag im Leben dieses jungen Mannes nicht ohne Schmerz verfolgen konnte. Und als wisse oder ahne er dies und als begegne er dem, so weit es in seiner Macht stand, war um seine Lippen und Augen ein unaufhörliches Lächeln des Glückes, das ihm selbst, seinem Gegenüber und der ganzen Welt zu gelten schien.
Mit diesem jungen Mann, einem Herrn Mack, wurde unter unbedingter Zustimmung des Onkels, besprochen, gemeinsam um halb sechs Uhr früh, sei es in der Reitschule, sei es ins Freie zu reiten. Josie zögerte zwar zuerst seine Zusage zu geben, da er doch noch niemals auf einem Pferd gesessen war und das Reiten zuerst ein wenig lernen wolle, aber da ihm der Onkel und Mack so sehr zuredeten und das Reiten als bloßes Vergnügen und als gesunde Übung, aber gar nicht als Kunst, darstellten, sagte er schließlich zu. Nun musste er allerdings schon um halb fünf aus dem Bett und das tat ihm oft sehr Leid, denn er litt hier, wohl infolge der steten Aufmerksamkeit, die er während des Tages aufwenden musste, geradezu an Schlafsucht, aber in seinem Badezimmer verlor sich das Bedauern bald. Über die ganze Wanne, der Länge und Breite nach, spannte sich das Sieb der Dusche — welcher Mitschüler zuhause und war er noch so reich, besaß etwas Derartiges und gar noch allein für sich — und da lag nun Josie ausgestreckt, in dieser Wanne konnte er die Arme ausbreiten und ließ die Ströme des lauen, heißen, wieder lauen und endlich eisigen Wassers, nach Belieben teilweise oder über die ganze Fläche hin auf sich herab. Wie in dem noch ein wenig fortlaufenden Genusse des Schlafes lag er da und fing besonders gern mit den geschlossenen Augenlidern die letzten, einzeln fallenden Tropfen auf, die sich dann öffneten und über das Gesicht hin flossen.
In der Reitschule, wo ihn das hoch sich aufbauende Automobil des Onkels absetzte, erwartete ihn bereits der Englischprofessor, während Mack ausnahmslos erst später kam. Er konnte aber auch unbesorgt erst später kommen, denn das eigentliche, lebendige Reiten fing erst an, wenn er da war. Bäumten sich nicht die Pferde aus ihrem bisherigen Halbschlaf auf, wenn er eintrat, knallte die Peitsche nicht lauter durch den Raum, erschienen nicht plötzlich auf der umlaufenden Galerie einzelne Personen, Zuschauer, Pferdewärter, Reitschüler oder was sie sonst sein mochten? Josie aber nützte die Zeit vor der Ankunft Macks dazu aus, um doch ein wenig, wenn auch nur die primitivsten Vorübungen des Reitens, zu betreiben. Es war ein langer Mann da, der auf den höchsten Pferderücken mit kaum erhobenem Arm hinauf reichte und der Josie diesen immer kaum eine Viertelstunde dauernden Unterricht erteilte. Die Erfolge, die Josie hierbei hatte, waren nicht übergroß und er konnte sich viele englische Klagerufe dauernd aneignen, die er während dieses Lernens zu seinem Englischprofessor atemlos ausstieß, der immer am gleichen Türpfosten meist sehr schlafbedürftig lehnte. Aber fast alle Unzufriedenheit mit dem Reiten hörte auf, wenn Mack kam. Der lange Mann wurde weggeschickt und bald hörte man in dem noch immer halbdunklen Saal nichts anderes, als die Hufe der galoppierenden Pferde und man sah kaum etwas anderes als Macks erhobenen Arm, mit dem er Josie ein Kommando gab. Nach einer halben Stunde solchen wie Schlaf vergehenden Vergnügens, wurde Halt gemacht, Mack war in großer Eile, verabschiedete sich von Josie, klopfte ihm manchmal auf die Wange, wenn er mit seinem Reiten besonders zufrieden gewesen war und verschwand, ohne vor großer Eile mit Josie auch nur gemeinsam durch die Tür heraus zu gehen. Josie nahm dann den Professor mit ins Automobil und sie fuhren zu ihrer Englischstunde meist auf Umwegen, denn bei der Fahrt durch das Gedränge der großen Straße, die eigentlich direkt von dem Hause des Onkels zur Reitschule führte, wäre zu viel Zeit verloren gegangen. Im Übrigen hörte wenigstens diese Begleitung des Englischprofessors bald auf, denn Josie, der sich Vorwürfe machte, den müden Mann nutzlos in die Reitschule zu bemühen, zumal die englische Verständigung mit Mack eine sehr einfache war, bat den Onkel, den Professor von dieser Pflicht zu entheben. Nach einiger Überlegung gab der Onkel dieser Bitte auch nach.
Verhältnismäßig lange dauerte es, ehe sich der Onkel entschloss, Josie auch nur einen kleinen Einblick in sein Geschäft zu erlauben, trotzdem Josie öfters darum ersucht hatte. Es war eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäftes, wie sie, so weit sich Josie erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zu finden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwischenhandel, der aber die Waren nicht etwa von den Produzenten zu den Konsumenten oder vielleicht zu den Händlern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung aller Waren und Urprodukte für die großen Fabrikskartelle und zwischen ihnen besorgte. Es war daher ein Geschäft, welches in einem Käufe, Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfasste und ganz genaue, unaufhörliche telefonische und telegrafische Verbindungen mit den Klienten unterhalten musste. Der Saal der Telegrafen war nicht kleiner, sondern größer als das Telegrafenamt der Vaterstadt, durch das Josie einmal an der Hand eines dort bekannten Mitschülers gegangen war. Im Saal der Telefone gingen, wohin man schaute, die Türen der Telefonzellen auf und zu und das Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die nächste dieser Türen und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen Angestellten gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte. Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer und nur die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig und rasch. In den Worten, die er in den Sprechtrichter sagte, war er sehr sparsam und oft sah man sogar, dass er vielleicht gegen den Sprecher etwas einzuwenden hatte, ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse Worte, die er hörte, zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen konnte, die Augen zu senken und zu schreiben. Er musste auch nicht reden, wie der Onkel Josie leise erklärte, denn die gleichen Meldungen, wie sie dieser Mann aufnahm, wurden noch von zwei anderen Angestellten gleichzeitig aufgenommen und dann verglichen, so dass Irrtümer möglichst ausgeschlossen waren. In dem gleichen Augenblick, als der Onkel und Josie aus der Tür getreten waren, schlüpfte ein Praktikant hinein und kam mit dem inzwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten durch den Saal war ein beständiger Verkehr von hin und her gejagten Leuten. Keiner grüßte, das Grüßen war abgeschafft, jeder schloss sich den Schritten des ihm vorhergehenden an und sah auf den Boden, auf dem er möglichst rasch vorwärts kommen wollte oder fing mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von Papieren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt flatterten.
"Du hast es wirklich weit gebracht", sagte Josie einmal auf einem dieser Gänge durch den Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tage verwenden musste, selbst wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen haben wollte.
"Und alles habe ich vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, musst du wissen. Ich hatte damals im Hafenviertel ein kleines Geschäft, und wenn dort am Tag fünf Kisten abgeladen waren, so war es viel, und ich ging aufgeblasen nach Hause. Heute habe ich die drittgrößten Lagerhäuser im Hafen und jener Laden ist das Esszimmer und die Gerätekammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner Packträger.
"Das grenzt ja ans Wunderbare", sagte Josie.
"Alle Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich", sagte der Onkel, das Gespräch abbrechend.
Eines Tages kam der Onkel knapp vor der Zeit des Essens, das Josie wie gewöhnlich allein einzunehmen gedachte und forderte ihn auf, sich gleich schwarz anzuziehen und mit ihm zum Essen zu kommen, an welchem zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden. Während Josie sich im Nebenzimmer umkleidete, setzte sich der Onkel zum Schreibtisch und sah die gerade beendete Englischaufgabe durch, schlug mit der Hand auf den Tisch und rief laut: "Wirklich ausgezeichnet!"
Zweifellos gelang das Anziehen besser, als Josie dieses Lob hörte, aber er war auch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.
Im Speisezimmer des Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch in Erinnerung hatte, erhoben sich zwei große, dicke Herren zur Begrüßung, ein gewisser Green der eine, ein gewisser Pollunder der Zweite, wie sich während des Tischgespräches herausstellte. Der Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges Wort über irgendwelche Bekannten auszusprechen und überließ es immer Josie, durch eigene Beobachtung das Notwendige oder Interessante herauszufinden. Nachdem während des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche Angelegenheiten besprochen worden waren, was für Josie eine gute Lektion hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und man Josie still mit seinem Essen sich hatte beschäftigen lassen, als sei er ein Kind, das sich vor allem ordentlich satt essen müsse, beugte sich Herr Green zu Josie hin und fragte in dem unverkennbaren Bestreben, ein möglichst deutliches Englisch zu sprechen, im Allgemeinen nach Josies ersten amerikanischen Eindrücken. Josie antwortete unter einer Sterbensstille rings herum mit einigen Seitenblicken auf den Onkel ziemlich ausführlich und suchte sich zum Dank durch eine etwas new yorkisch gefärbte Redeweise angenehm zu machen. Bei einem Ausdruck lachten sogar alle drei Herren durcheinander und Josie fürchtete schon, einen groben Fehler gemacht zu haben, jedoch nein, er hatte, wie ihm Herr Pollunder erklärte, sogar etwas sehr Gelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunder schien überhaupt an Josie ein besonderes Gefallen zu finden und während der Onkel und Herr Green wieder zu den geschäftlichen Besprechungen zurückkehrten, ließ Herr Pollunder Josie seinen Sessel nahe zu sich hin schieben, fragte ihn zuerst vielerlei über seinen Namen, seine Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich, um Josie wieder ausruhen zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst von sich und seiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinen Landgut in der Nähe von New York wohnte, wo er aber allerdings nur die Abende verbringen konnte, denn er war Bankier und sein Beruf hielt ihn in New York den ganzen Tag. Josie wurde auch gleich herzlichst eingeladen, auf dieses Landgut herauszukommen, ein so frisch gebackener Amerikaner wie Josie habe ja auch sicher das Bedürfnis, sich von New York manchmal zu erholen.
Josie bat den Onkel sofort um die Erlaubnis, diese Einladung annehmen zu dürfen und der Onkel gab auch scheinbar freudig diese Erlaubnis, ohne aber ein bestimmtes Datum zu nennen oder auch nur in Erwägung ziehen zu lassen, wie es Josie und Herr Pollunder erwartet hatten.
Aber schon am nächsten Tag wurde Josie in ein Büro des Onkels beordert — der Onkel hatte zehn verschiedene Büros allein in diesem Hause — wo er den Onkel und Herrn Pollunder beide ziemlich einsilbig in den Fauteuils liegend antraf. "Herr Pollunder", sagte der Onkel, er war in der Abenddämmerung des Zimmers kaum zu erkennen, "Herr Pollunder ist gekommen, um dich auf sein Landgut mitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben." "Ich wusste nicht, dass es schon heute sein sollte", antwortete Josie, "sonst wäre ich schon vorbereitet." "Wenn du nicht vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch besser für nächstens", meinte der Onkel. "Was für Vorbereitungen!" rief Herr Pollunder. "Ein junger Mann ist immer vorbereitet." "Es ist nicht seinetwegen", sagte der Onkel zu seinem Gaste gewendet, "aber er müsste immerhin noch in sein Zimmer hinaufgehen und Sie wären aufgehalten." "Es ist auch dazu reichlich Zeit", sagte Herr Pollunder, "ich habe auch eine Verzögerung vorbedacht und früher Geschäftsschluss gemacht." "Du siehst", sagte der Onkel, "was für Unannehmlichkeiten dein Besuch schon jetzt veranlasst." "Es tut mir Leid", sagte Josie, "aber ich werde gleich wieder da sein" und wollte schon weg springen. "Übereilen Sie sich nicht", sagte Herr Pollunder. "Sie machen mir nicht die geringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir ihr Besuch eine reine Freude." "Du versäumst morgen deine Reitstunde, hast du sie schon abgesagt?" "Nein", sagte Josie, dieser Besuch, auf den er sich gefreut hatte, fing an eine Last zu werden, "ich wusste ja nicht-". "Und trotzdem willst du weg fahren?" fragte der Onkel weiter. Herr Pollunder, dieser freundliche Mensch, kam zur Hilfe. "Wir werden auf der Fahrt bei der Reitschule halten und die Sache in Ordnung bringen." "Das lässt sich hören", sagte der Onkel. "Aber Mack wird dich doch erwarten." "Erwarten wird er mich nicht", sagte Josie, "aber er wird allerdings hinkommen." "Nun also?" sagte der Onkel, als wäre Josies Antwort nicht die geringste Rechtfertigung gewesen. Wieder sagte Herr Pollunder das Entscheidende: "Aber Klara", sie war Herrn Pollunders Tochter, "erwartet ihn auch, und schon heute Abend, und sie hat wohl den Vorzug vor Mack?" "Allerdings", sagte der Onkel. "Also lauf schon in dein Zimmer", und er schlug mehrmals wie ohne Willen gegen die Armlehne des Fauteuils. Josie war schon bei der Tür, als ihn der Onkel noch mit der Frage zurückhielt: "Zur Englischstunde bist du doch wohl morgen früh wieder hier?" "Aber!" rief Herr Pollunder und drehte sich, so weit es seine Dicke erlaubte, in seinem Fauteuil vor Erstaunen. "Ja darf er denn nicht wenigstens den morgigen Tag draußen bleiben? Ich brächte ihn dann übermorgen früh wieder zurück." "Das geht auf keinen Fall", erwiderte der Onkel. "Ich kann sein Studium nicht so in Unordnung kommen lassen. Später, wenn er in einem an und für sich geregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm sehr gern auch für längere Zeit erlauben, einer so freundlichen und ehrenden Einladung zu folgen." "Was das für Widersprüche sind!" dachte Josie. Herr Pollunder war traurig geworden. "Für einen Abend und eine Nacht steht es aber wirklich fast nicht dafür." "Das war auch meine Meinung", sagte der Onkel. "Man muss nehmen, was man bekommt", sagte Herr Pollunder und lachte schon wieder. "Also, ich warte", rief er Josie zu, welcher, da der Onkel nichts mehr sagte, davon eilte. Als er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Büro nur noch Herrn Pollunder, der Onkel war fortgegangen. Herr Pollunder schüttelte Josie ganz glücklich beide Hände, als wolle er sich so stark als möglich dessen vergewissern, dass Josie nun doch mitfahre. Josie war noch ganz erhitzt von der Eile und schüttelte auch seinerseits Herrn Pollunders Hände, er freute sich, den Ausflug machen zu können. "Hat sich der Onkel nicht darüber geärgert, dass ich fahre?" "Aber nein! Das hat er ja alles nicht so ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt ihm eben am Herzen." "Hat er es Ihnen selbst gesagt, dass er das Frühere nicht so ernst gemeint hat?" "Oh ja", sagte Herr Pollunder gedehnt und bewies damit, dass er nicht lügen konnte. "Es ist merkwürdig, wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zu besuchen, trotzdem Sie doch sein Freund sind." Auch Herr Pollunder konnte, trotzdem er dies nicht offen eingestand, keine Erklärung dafür finden und beide dachten, als sie in Herrn Pollunders Automobil durch den warmen Abend fuhren, noch lange darüber nach, trotzdem sie gleich von andern Dingen sprachen.
Sie saßen eng beieinander und Herr Pollunder hielt Josies Hand in der seinen, während er erzählte. Josie wollte vieles über das Fräulein Klara hören, als sei er ungeduldig über die lange Fahrt und könne mit Hilfe der Erzählungen früher ankommen als in Wirklichkeit. Trotzdem er am Abend noch niemals durch die New Yorker Straßen gefahren war und über Trottoir und Fahrbahn, alle Augenblicke die Richtung wechselnd, wie in einem Wirbelwind, der Lärm jagte, nicht wie von Menschen verursacht, sondern wie ein fremdes Element, kümmerte sich Josie, während er Herrn Poilunders Worte genau aufzunehmen suchte, um nichts anderes, als um Herrn Pollunders dunkle Weste, über die quer eine goldene Kette ruhig hing. Aus den Straßen, wo das Publikum in großer, unverhüllter Furcht vor Verspätung im fliegenden Schritt und in Fahrzeugen, die zu möglichster Eile gebracht waren, zu den Theatern drängte, kamen sie durch Übergangsbezirke in die Vorstädte, wo ihr Automobil durch Polizeileute zu Pferd immer wieder in Seitenstraßen gewiesen wurde, da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern, die im Streik standen, besetzt waren und nur der notwendigste Wagenverkehr an den Kreuzungsstellen gestattet werden konnte. Durchquerte dann das Automobil aus dunkleren, dumpf hallenden Gassen kommend, eine dieser ganzen Plätzen gleichenden Straßen, dann erschienen nach beiden Seiten hin in Perspektiven, denen niemand bis zum Ende folgen konnte, die Trottoire angefüllt mit einer in winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren Gesang einheitlicher war, als der einer einzigen Menschenstimme. In der freigehaltenen Fahrbahn aber sah man hier und da einen Polizisten auf unbeweglichem Pferd oder Träger von Fahnen oder beschriebenen, über die Straße gespannten, Tüchern oder einen von Mitarbeitern und Ordonnanzen umgebenen Arbeiterführer oder einen Wagen der elektrischen Straßenbahn, der sich nicht rasch genug geflüchtet hatte und nun leer und dunkel dastand, während der Führer und der Schaffner auf der Plattform saßen. Kleine Trupps von Neugierigen standen weit entfernt von den wirklichen Demonstranten und verließen ihre Plätze nicht, trotzdem sie über die eigentlichen Ereignisse im Unklaren blieben. Josie aber lehnte froh in dem Arm, den Herr Pollunder um ihn gelegt hatte, die Überzeugung, dass er bald in einem beleuchteten, von Mauern umgebenen, von Hunden bewachten Landhause ein willkommener Gast sein werde; dies tat ihm über alle Maßen Wohl und wenn er auch wegen einer beginnenden Schläfrigkeit, nicht mehr alles, was Herr Pollunder sagte, fehlerlos oder wenigstens nicht ohne Unterbrechungen auffasste, so raffte er sich doch von Zeit zu Zeit auf und wischte sich die Augen, um wieder für eine Weile festzustellen, ob Herr Pollunder seine Schläfrigkeit bemerke, denn das wollte er um jeden Preis vermieden wissen.

Kapitel III: "Ein Landhaus bei New York"
"Wir sind angekommen", sagte Herr Pollunder gerade in einem von Josies verlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus, das, nach der Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung New Yorks, umfangreicher und höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer Familie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses beleuchtet war, konnte man gar nicht bemessen, wie weit es in die Höhe reichte. Vorne rauschten Kastanienbäume, zwischen denen — das Gitter war schon geöffnet — ein kurzer Weg zur Freitreppe des Hauses führte. An seiner Müdigkeit beim Aussteigen glaubte Josie zu bemerken, dass die Fahrt doch ziemlich lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte er eine Mädchenstimme neben sich sagen: "Da ist ja endlich der Herr Jakob." "Ich heiße Rossmann", sagte Josie und fasste die ihm hin gereichte Hand eines Mädchens, das er jetzt in Umrissen erkannte. "Er ist ja nur Jakobs Neffe", sagte Herr Pollunder erklärend, "und heißt selbst Josie Rossmann." "Das ändert nichts an unserer Freude, ihn hier zu haben", sagte das Mädchen, dem an Namen nicht viel lag. Trotzdem fragte Josie noch, während er zwischen Herrn Pollunder und dem Mädchen auf das Haus zuschritt: "Sie sind das Fräulein Klara?" "Ja", sagte sie und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht vom Hause her auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, "ich wollte mich aber hier in der Finsternis nicht vorstellen." "Ja hat sie uns denn am Gitter erwartet?" dachte Josie, der im Gehen allmählich aufwachte. "Wir haben übrigens noch einen Gast heute Abend", sagte Klara. "Nicht möglich!" rief Pollunder ärgerlich. "Herrn Green", sagte Klara. "Wann ist er gekommen?" fragte Josie wie in einer Ahnung befangen. "Vor einem Augenblick. Habt ihr denn sein Automobil nicht vor dem euren gehört?" Josie sah zu Pollunder auf, um zu erfahren, wie er die Sache beurteile, aber der hatte die Hände in den Hosentaschen und stampfte bloß etwas stärker im Gehn. "Es nützt nichts nur knapp außerhalb New Yorks zu wohnen, von Störungen bleibt man nicht verschont. Wir werden unsern Wohnsitz unbedingt noch weiter verlegen müssen. Und sollte ich die halbe Nacht durchfahren müssen, ehe ich nach Hause komme." Sie blieben an der Freitreppe stehn. "Aber Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier", sagte Klara, die offenbar mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber über sich heraus beruhigen wollte. "Warum kommt er dann gerade heute Abend", sagte Pollunder und die Rede rollte schon wütend über die wulstige Unterlippe, die als loses schweres Fleisch leicht in große Bewegung kam. "Allerdings!" sagte Klara. "Vielleicht wird er bald wieder weg gehn", bemerkte Josie und staunte selbst über das Einverständnis, in welchem er sich mit diesen noch gestern ihm gänzlich fremden Leuten befand. "Oh nein", sagte Klara, "er hat irgendein großes Geschäft für Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich lange dauern wird, denn er hat mir schon im Spaß gedroht, dass ich wenn ich eine höfliche Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werde zuhören müssen." "Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht", rief Pollunder, als sei damit endlich das Schlimmste erreicht. "Ich hätte wahrhaftig Lust", sagte er und wurde freundlicher durch den neuen Gedanken, "ich hätte wahrhaftig Lust, Sie Herr Rossmann wieder ins Automobil zu nehmen und zu ihrem Onkel zurückzubringen. Der heutige Abend ist schon von vornherein gestört und wer weiß, wann Sie uns nächstens ihr Herr Onkel wieder überlässt. Bringe ich Sie aber heute schon wieder zurück, so wird er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können." Und er fasste Josie schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen. Aber Josie rührte sich nicht und Klara bat, ihn hier zu lassen, denn zumindestens sie und Josie würden von Herrn Green nicht im Geringsten gestört werden können und schließlich merkte auch Pollunder, dass selbst sein Entschluss nicht der festeste war. Überdies — und dies war vielleicht das Entscheidende — hörte man plötzlich Herrn Green vom obersten Treppenaufsatz in den Garten hinunter rufen: "Wo bleibt ihr denn?" "Kommt", sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe ein. Hinter ihm gingen Josie und Klara, die einander jetzt im Licht studierten. "Die roten Lippen, die sie hat", sagte sich Josie und dachte an die Lippen des Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der Tochter verwandelt hatten. "Nach dem Nachtmahl", so sagte sie, "werden wir, wenn es ihnen recht ist, gleich in meine Zimmer gehn, damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind, wenn schon Papa sich mit ihm beschäftigen muss. Und Sie werden dann so freundlich sein mir Klavier vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt, wie gut Sie das treffen, ich aber bin leider ganz unfähig Musik auszuüben und rühre mein Klavier nicht an, so sehr ich die Musik eigentlich liebe." Mit dem Vorschlag Klaras war Josie ganz einverstanden, wenn er auch gern Herrn Pollunder mit in ihre Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigen Gestalt Greens — an Pollunders Größe hatte sich Josie eben schon gewöhnt — die sich vor ihnen, wie sie die Stufen hinauf stiegen, langsam entwickelte, wich allerdings von Josie jede Hoffnung, diesem Manne den Herrn Pollunder heute Abend irgendwie zu entlocken.
Herr Green empfing sie sehr eilig, als sei vieles einzuholen, nahm Herrn Pollunders Arm und schob Josie und Klara vor sich in das Speisezimmer, das besonders infolge der Blumen auf dem Tische, die sich aus Streifen frischen Laubes halb aufrichteten, sehr festlich aussah und doppelt die Anwesenheit des störenden Herrn Green bedauern ließ. Gerade freute sich noch Josie, der beim Tische wartete, bis die andern sich setzten, dass die große Glastüre zum Garten hin offen bleiben würde, denn ein starker Duft wehte herein wie in eine Gartenlaube, da machte sich gerade Herr Green unter Schnaufen daran, diese Glastüre zuzumachen, bückte sich nach den untersten Riegeln, streckte sich nach den obersten und alles so jugendlich rasch, dass der herbei eilende Diener nichts mehr zu tun fand. Die ersten Worte des Herrn Green bei Tische waren Ausdrücke des Staunens darüber, dass Josie die Erlaubnis des Onkels zu diesem Besuche bekommen hatte. Einen gefüllten Suppenlöffel nach dem andern hob er zum Mund und erklärte rechts zu Klara, links zu Herrn Pollunder, warum er so staune und wie der Onkel über Josie wache und wie die Liebe des Onkels zu Josie zu groß sei, als dass man sie noch die Liebe eines Onkels nennen könne. "Nicht genug, dass er sich hier unnötig einmischt, mischt er sich noch gleichzeitig zwischen mich und den Onkel ein", dachte Josie und konnte keinen Schluck der goldfarbigen Suppe hinunter bringen. Dann wollte er sich aber wieder nicht anmerken lassen, wie gestört er sich fühlte, und begann die Suppe stumm in sich hinein zu schütten. Das Essen verging langsam wie eine Plage. Nur Herr Green und höchstens noch Klara waren lebhaft und fanden mitunter Gelegenheit zu einem kurzen Lachen. Herr Pollunder verfing sich nur einige Mal in die Unterhaltung, wenn Herr Green von Geschäften zu sprechen anfing. Doch zog er sich auch von solchen Gesprächen bald zurück und Herr Green musste ihn nach einiger Zeit wieder unvermutet damit überraschen. Er legte übrigens Gewicht darauf — und da war es, dass Josie, der aufhorchte, als drohe etwas, von Klara darauf aufmerksam gemacht werden musste, dass der Braten vor ihm stand und er bei einem Abendessen war — dass er von vornherein nicht die Absicht gehabt habe, diesen unerwarteten Besuch zu machen. Denn wenn auch das Geschäft, von dem noch gesprochen werden solle, von besonderer Dringlichkeit sei, so hätte wenigstens das Wichtigste heute in der Stadt verhandelt und das Nebensächlichere für morgen oder später aufgespart werden können. Und so sei er auch tatsächlich noch lange vor Geschäftsschluss bei Herrn Pollunder gewesen, habe ihn aber nicht angetroffen, so dass er gezwungen gewesen sei, nach Hause zu telefonieren, dass er über Nacht ausbleibe, und heraus zu fahren. "Dann muss ich um Entschuldigung bitten", sagte Josie laut und ehe jemand Zeit zur Antwort hatte, "denn ich bin daran Schuld, dass Herr Pollunder sein Geschäft heute früher verließ und es tut mir sehr leid." Herr Pollunder bedeckte den größern Teil seines Gesichtes mit der Serviette, während Klara Josie zwar anlächelte, doch war es kein teilnehmendes Lächeln, sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen sollte. "Da braucht es keine Entschuldigung", sagte Herr Green, der gerade eine Taube mit scharfen Schnitten zerlegte, "ganz im Gegenteil, ich bin ja froh, den Abend in so angenehmer Gesellschaft zu verbringen, statt das Nachtmahl allein zuhause einzunehmen, wo mich meine alte Wirtschafterin bedient, die so alt ist, dass ihr schon der Weg von der Tür zu meinem Tisch schwer fällt und ich mich für lange in meinem Sessel zurück lehnen kann, wenn ich sie auf diesem Gang beobachten will. Erst vor Kurzem habe ich durchgesetzt, dass der Diener die Speisen bis zur Tür des Speisezimmers bringt, der Weg aber von der Tür zu meinem Tisch gehört ihr, so weit ich sie verstehe." "Mein Gott", rief Klara, "ist das eine Treue!" "Ja, es gibt noch Treue auf der Welt", sagte Herr Green und führte einen Bissen in den Mund, wo die Zunge, wie Josie zufällig bemerkte, mit einem Schwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand auf. Fast gleichzeitig griffen Herr Pollunder und Klara nach seinen Händen. "Sie müssen noch sitzen bleiben", sagte Klara. Und als er sich wieder gesetzt hatte, flüsterte sie ihm zu: "Wir werden bald zusammen verschwinden. Haben Sie Geduld." Herr Green hatte sich inzwischen ruhig mit seinem Essen beschäftigt, als sei es Herrn Pollunders und Klaras natürliche Aufgabe, Josie zu beruhigen, wenn er ihm Übelkeiten verursachte.
Das Essen zog sich besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der Herr Green jeden Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war, jeden neuen Gang ohne Ermüdung zu empfangen; es bekam wirklich den Anschein, als wolle er sich von seiner alten Wirtschafterin gründlich erholen. Hin und wieder lobte er Fräulein Klaras Kunst in der Führung des Hauswesens, was ihr sichtlich schmeichelte, während Josie versucht war ihn abzuwehren, als greife er sie an. Aber Herr Green begnügte sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte öfters, ohne vom Teller aufzusehn, die auffallende Appetitlosigkeit Josies. Herr Pollunder nahm Josies Appetit in Schutz, trotzdem er als Gastgeber Josie auch zum Essen hätte aufmuntern sollen. Und tatsächlich fühlte sich Josie durch den Zwang, unter dem er während des ganzen Nachtmahls litt, so empfindlich, dass er gegen die eigene bessere Einsicht diese Äußerung Herrn Pollunders als Unfreundlichkeit auslegte. Und es entsprach nur diesem seinem Zustand, dass er einmal ganz unpassend rasch und viel aß und dann wieder für lange Zeit müde Gabel und Messer sinken ließ und der unbeweglichste der Gesellschaft war, mit dem der Diener, der die Speisen reichte, oft nichts anzufangen wusste.
"Ich werde schon morgen dem Herrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein Klara durch ihr Nichtessen gekränkt haben", sagte Herr Green und beschränkte sich darauf, die spaßige Absicht dieser Worte durch die Art, wie er mit dem Besteck hantierte auszudrücken. "Sehen Sie nur das Mädchen an, wie traurig es ist", fuhr er fort und griff Klara unters Kinn. Sie ließ es geschehn und schloss die Augen. "Du Dingschen", rief er, lehnte sich zurück und lachte hochrot im Gesicht mit der Kraft des Gesättigten. Vergebens suchte sich Josie das Benehmen Herrn Pollunders zu erklären. Der saß vor seinem Teller und sah in ihn, als geschehe dort das eigentlich Wichtige. Er zog Josies Sessel nicht näher zu sich und wenn er einmal sprach, so sprach er zu allen, aber zu Josie hatte er nichts Besonderes zu reden. Dagegen duldete er, dass Green, dieser alte, ausgepichte New Yorker Junggeselle, mit deutlicher Absicht Klara berührte, dass er Josie, Pollunders Gast, beleidigte oder wenigstens als Kind behandelte und wer weiß zu welchen Taten sich stärkte und vordrang.
Nach Aufhebung der Tafel — als Green die allgemeine Stimmung merkte, war er der erste, der aufstand und gewissermaßen alle mit sich erhob — ging Josie allein abseits zu einem der großen, durch schmale, weiße Leisten geteilten Fenster, die zur Terrasse führten und die eigentlich, wie er beim Nähertreten merkte, richtige Türen waren. Was war von der Abneigung übrig geblieben, die Herr Pollunder und seine Tochter anfangs gegenüber Green gefühlt hatten und die damals Josie etwas unverständlich vorgekommen war. Jetzt standen sie mit Green beisammen und nickten ihm zu. Der Rauch aus Herrn Greens Zigarre, einem Geschenk Pollunders, die von jener Dicke war, von der der Vater zuhause hier und da als von einer Tatsache zu erzählen pflegte, die er wahrscheinlich selbst mit eigenen Augen niemals gesehen hatte, verbreitete sich in dem Saal und trug Greens Einfluss auch in Winkel und Nischen, die er persönlich niemals betreten würde. So weit entfernt Josie auch stand, noch er spürte von dem Rauch einen Kitzel in der Nase und das Benehmen Herrn Greens, nach welchem er sich von seinem Platz aus nur einmal schnell umsah, erschien ihm infam. Jetzt hielt er es gar nicht mehr für ausgeschlossen, dass ihm der Onkel die Erlaubnis zu diesem Besuch nur deshalb so lange verweigert hatte, weil er den schwachen Charakter Herrn Pollunders kannte und infolgedessen eine Kränkung Josies bei diesem Besuch wenn auch nicht genau voraussah, so doch im Bereich der Möglichkeit erblickte. Auch das amerikanische Mädchen gefiel ihm nicht, trotzdem er sich sie durchaus nicht etwa viel schöner vorgestellt hatte. Seitdem sich Herr Green mit ihr abgegeben hatte, war er sogar überrascht von der Schönheit, deren ihr Gesicht fähig war, und besonders von dem Glanz ihrer unbändig bewegten Augen. Einen Rock, der so fest wie der ihre den Körper umschlossen hätte, hatte er noch niemals gesehen: Kleine Falten in dem gelblichen, zarten und festen Stoff zeigten die Stärke der Spannung. Und doch lag Josie gar nichts an ihr und er hätte gern darauf verzichtet, auf ihre Zimmer geführt zu werden, wenn er statt dessen die Tür auf deren Klinke er für jeden Fall die Hände gelegt hatte, hätte öffnen, ins Automobil steigen oder wenn der Chauffeur schon schlief, nach New York allein hätte spazieren dürfen. Die klare Nacht mit dem ihm zugeneigten vollen Mond stand frei für jedermann, und draußen im Freien vielleicht Furcht zu haben, schien Josie sinnlos. Er stellte sich vor — und zum ersten Mal wurde ihm in diesem Saale wohl — wie er am Morgen — früher dürfte er kaum zu Fuß nach Hause kommen — den Onkel überraschen wollte. Er war zwar noch niemals in seinem Schlafzimmer gewesen, wusste auch gar nicht, wo es lag, aber er wollte es schon erfragen. Dann wollte er anklopfen und auf das förmliche "Herein!" ins Zimmer laufen und den lieben Onkel, den er bisher immer nur bis hoch hinauf angezogen und zugeknöpft kannte, aufrecht im Bette sitzend, die Augen erstaunt zur Tür gerichtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja an und für sich vielleicht noch nicht viel, aber man musste nur ausdenken, was das zur Folge haben konnte! Vielleicht würde er zum ersten Mal gemeinsam mit seinem Onkel frühstücken, der Onkel im Bett, er auf einem Sessel, das Frühstück auf einem Tischchen zwischen ihnen, vielleicht würde dieses gemeinsame Frühstück zu einer ständigen Einrichtung werden, vielleicht würden sie in Folge dieser Art Frühstück, was sogar kaum zu vermeiden war, öfters als wie bisher bloß einmal während des Tages zusammenkommen und dann natürlich auch offener miteinander reden können. Es lag ja schließlich nur an dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel gegenüber etwas unfolgsam oder besser starrköpfig gewesen war. Und wenn er auch heute über Nacht hier bleiben musste — es sah leider ganz danach aus, trotzdem man ihn hier beim Fenster stehn und auf eigene Faust sich unterhalten ließ — vielleicht wurde dieser unglückliche Besuch der Wendepunkt zum Bessern in dem Verhältnis zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem Schlafzimmer heute Abend ähnliche Gedanken.
Ein wenig getröstet wendete er sich um. Klara stand vor ihm und sagte: "Gefällt es Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig heimisch fühlen? Kommen Sie, ich will den letzten Versuch machen." Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe. An einem Seitentisch saßen die beiden Herren bei leicht schäumenden, in hohe Gläser gefüllten Getränken, die Josie unbekannt waren und die er zu verkosten Lust gehabt hätte. Herr Green hatte einen Ellbogen auf dem Tisch und sein ganzes Gesicht Herrn Pollunder möglichst nahe gerückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt hätte, hätte man ganz gut annehmen können, es werde hier etwas Verbrecherisches besprochen und kein Geschäft. Während Herr Pollunder mit freundlichem Blick Josie zur Türe folgte, sah sich Green, trotzdem man doch schon unwillkürlich sich den Blicken seines Gegenübers anzuschließen pflegt, auch nicht im Geringsten nach Josie um, welchem in diesem Benehmen der Ausdruck einer Art Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Josie für sich, und Green für sich solle hier mit seinen Fähigkeiten auszukommen versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischen ihnen werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung eines von beiden herstellen. "Wenn er das meint", sagte sich Josie, "dann ist er ein Narr. Ich will wahrhaftig nichts von ihm und er soll mich auch in Ruhe lassen." Kaum war er auf den Gang getreten, fiel ihm ein, dass er sich wahrscheinlich unhöflich benommen hatte, denn mit seinen auf Green gehefteten Augen hatte er sich von Klara aus dem Zimmer fast schleppen lassen. Desto williger ging er jetzt neben ihr her. Auf dem Wege durch die Gänge traute er zuerst seinen Augen nicht, als er alle zwanzig Schritte einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchter stehen sah, dessen dicken Schaft jener mit beiden Händen umschlossen hielt. "Die neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer eingeführt", erklärte Klara. "Wir haben dieses Haus erst vor Kurzem gekauft und es gänzlich umbauen lassen, so weit sich ein altes Haus mit seiner eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen lässt." "Da gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser", sagte Josie. "Natürlich", sagte Klara lachend und zog ihn weiter. "Sie haben merkwürdige Begriffe von Amerika." "Sie sollen mich nicht auslachen", sagte er ärgerlich. Schließlich kannte er schon Europa und Amerika, sie aber nur Amerika.
Im Vorübergehn stieß Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine Tür auf und sagte ohne anzuhalten: "Hier werden Sie schlafen." Josie wollte natürlich das Zimmer sich gleich anschauen, aber Klara erklärte ungeduldig und fast schreiend, das habe doch Zeit und er solle nur vorher mitkommen. Sie zogen sich auf dem Gang ein wenig hin und her, schließlich meinte Josie, er müsse sich nicht in allem nach Klara richten, riss sich los und trat in das Zimmer. Ein überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch einen Baumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörte Vögelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht war, konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. Josie bedauerte die elektrische Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt bekommen hatte, nicht mitgenommen zu haben. In diesem Hause war ja eine Taschenlampe unentbehrlich, hätte man ein paar solcher Lampen gehabt, hätte man die Diener schlafen schicken können. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah und horchte hinaus. Ein aufgestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk des alten Baumes zu drängen. Die Pfeife eines New Yorker Vorortzuges erklang irgendwo im Land. Sonst war es still.
Aber nicht lange, denn Klara kam eilends herein. Sichtlich bös rief sie: "Was soll denn das?" und klatschte auf ihren Rock. Josie wollte erst antworten, bis sie höflicher war. Aber sie ging mit großen Schritten auf ihn zu, rief: "Also wollen Sie mit mir kommen oder nicht?" und stieß ihn mit Absicht oder bloß in der Erregung derartig an die Brust, dass er aus dem Fenster gestürzt wäre, hätte er nicht noch im letzten Augenblick vom Fensterbrett gleitend mit den Füßen den Zimmerboden berührt. "Jetzt wäre ich bald heraus gefallen", sagte er vorwurfsvoll. "Schade, dass es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig. Ich stoße Sie noch einmal hinunter." Und wirklich umfasste sie ihn und trug ihn, der verblüfft sich zuerst schwer zu machen vergaß, mit ihrem vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aber dort besann er sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und umfasste nun sie. "Ach, Sie tun mir weh", sagte sie gleich. Aber nun glaubte sie Josie nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ ihr zwar Freiheit, Schritte nach Belieben zu machen, folgte ihr aber und ließ sie nicht los. Es war auch so leicht, sie in ihrem engen Kleid zu umfassen. "Lassen Sie mich", flüsterte sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem; er musste sich anstrengen sie zu sehn, so nahe war sie ihm, "lassen Sie mich, ich werde ihnen etwas Schönes geben." "Warum seufzt sie so", dachte Josie, "es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja nicht", und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich, nach einem Augenblick unachtsamen, schweigenden Dastehns fühlte er wieder ihre wachsende Kraft an seinem Leib und sie hatte sich ihm entwunden, fasste ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit Fußstellungen einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich mit großartiger Regelmäßigkeit Atem holend gegen die Wand. Dort war aber ein Kanapee, auf das legte sie Josie hin und sagte, ohne sich allzu sehr zu ihm hinab zu beugen: "Jetzt rühr dich, wenn du kannst." "Katze, tolle Katze", konnte Josie gerade noch aus dem Durcheinander von Wut und Scham rufen, in dem er sich befand. "Du bist ja wahnsinnig, du tolle Katze." "Gib Acht auf deine Worte", sagte sie und ließ die eine Hand zu seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen anfing, dass Josie ganz unfähig war, etwas anderes zu tun, als Luft zu schnappen, während sie mit der andern Hand an seine Wange fuhr, wie probeweise sie berührte, sie wieder und zwar immer weiter in die Luft zurückzog und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfahren lassen konnte. "Wie wäre es", fragte sie dabei, "wenn ich dich zur Strafe für dein Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen Ohrfeige nach Hause schicken wollte. Vielleicht wäre es dir nützlich für deinen künftigen Lebensweg, wenn es auch keine schöne Erinnerung abgeben würde. Du tust mir ja leid und bist ein erträglich hübscher Junge und hättest du Jiu-Jitsu gelernt, hättest du wahrscheinlich mich durchgeprügelt. Trotzdem, trotzdem — es verlockt mich geradezu riesig dich zu ohrfeigen, so wie du jetzt daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern, wenn ich es aber tun sollte, so wisse schon jetzt, dass ich es fast gegen meinen Willen tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis dir die Backen anschwellen. Und vielleicht bist du ein Ehrenmann — ich möchte es fast glauben — und wirst mit den Ohrfeigen nicht weiterleben wollen und dich aus der Welt schaffen. Aber warum bist du auch so gegen mich gewesen. Gefalle ich dir vielleicht nicht? Lohnt es sich nicht auf mein Zimmer zu kommen? Achtung! Jetzt hätte ich dir schon fast unversehens die Ohrfeige aufgepelzt. Wenn du heute also noch so loskommen solltest, benimm dich nächstens feiner. Ich bin nicht dein Onkel, mit dem du trotzen kannst. Im Übrigen will ich dich noch darauf aufmerksam machen, dass wenn ich dich ungeohrfeigt loslasse, du nicht glauben musst, dass deine jetzige Lage und wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das Gleiche sind, solltest du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehn, dich wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm das alles erzähle." Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Josie los, in seinen undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wie ein Befreier. Er fühlte noch ein Weilchen Klaras Hand an seinem Hals, wand sich daher noch ein wenig und lag dann still.
Sie forderte ihn auf aufzustehen, er antwortete nicht und rührte sich nicht. Sie entzündete irgendwo eine Kerze, das Zimmer bekam Licht, ein blaues Zickzackmuster erschien auf dem Deckengetäfel, aber Josie lag, den Kopf aufs Sofapolster aufgestützt, so wie ihn Klara gebettet hatte, und wendete ihn nicht einen Finger breit. Klara ging im Zimmer herum, ihr Rock rauschte um ihre Beine, wahrscheinlich beim Fenster blieb sie eine lange Weile stehn. "Ausgetrotzt?" hörte man sie dann fragen. Josie empfand es schwer, in diesem Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunder für diese Nacht zugedacht war, keine Ruhe bekommen zu können. Da wanderte dieses Mädchen herum, blieb stehn und redete und er hatte sie doch so unaussprechlich satt. Rasch schlafen und von hier fort gehn war sein einziger Wunsch. Er wollte gar nicht mehr ins Bett, sondern nur hier auf dem Kanapee bleiben. Er lauerte nur darauf, dass sie wegginge, um hinter ihr her zur Tür zu springen, sie zu verriegeln und dann wieder zurück auf das Kanapee sich zu werfen. Er hatte ein solches Bedürfnis sich zu strecken und zu gähnen, aber vor Klara wollte er das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte sein Gesicht immer unbeweglicher werden und eine ihn umkreisende Fliege flimmerte ihm vor den Augen, ohne dass er recht wusste, was es war.
Klara trat wieder zu ihm, beugte sich in die Richtung seiner Blicke und hätte er sich nicht bezwungen, hätte er sie schon anschauen müssen. "Ich gehe jetzt", sagte sie. "Vielleicht bekommst du später Lust zu mir zu kommen. Die Tür zu meinen Zimmern ist die vierte von dieser Tür aus gerechnet, auf dieser Seite des Ganges. Du gehst also an drei weiteren Türen vorüber und die, zu welcher du dann kommst, ist die richtige. Ich gehe nicht mehr hinunter in den Saal, sondern bleibe schon in meinem Zimmer. Du hast mich aber auch ordentlich müde gemacht. Ich werde nicht gerade auf dich warten, aber wenn du kommen willst, so komm. Erinnere dich, dass du versprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen. Aber vielleicht habe ich dich ganz entnervt und du kannst dich nicht mehr rühren, dann bleib und schlaf dich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von unserer Rauferei kein Wort; ich bemerke das für den Fall, dass dir das Sorge machen sollte." Darauf lief sie trotz ihrer angeblichen Müdigkeit mit zwei Sprüngen aus dem Zimmer.
Sofort setzte sich Josie aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich geworden. Um ein wenig Bewegung zu machen, ging er zur Tür und sah auf den Gang hinaus. War dort aber eine Finsternis! Er war froh, als er die Tür zugemacht und abgesperrt hatte, und wieder bei seinem Tisch im Schein der Kerze stand. Sein Entschluss war, nicht länger in diesem Haus zu bleiben, sondern hinunter zu Herrn Pollunder zu gehn, ihm offen zu sagen, wie ihn Klara behandelt hatte — am Eingeständnis seiner Niederlage lag ihm gar nichts — und mit dieser wohl genügenden Begründung um die Erlaubnis zu bitten, nach Hause fahren oder gehn zu dürfen. Sollte Herr Pollunder etwas gegen diese sofortige Heimkehr einzuwenden haben, dann wollte ihn Josie wenigstens bitten, ihn durch einen Diener zum nächsten Hotel führen zu lassen. In dieser Weise, wie sie Josie plante, ging man zwar sonst in der Regel nicht mit freundlichen Gastgebern um, aber noch seltener ging man mit einem Gaste derartig um wie es Klara getan hatte. Sie hatte sogar noch ihr Versprechen, dem Herrn Pollunder von der Rauferei vorläufig nichts zu sagen, für eine Freundlichkeit gehalten, das war aber schon Himmel schreiend. Ja war denn Josie zu einem Ringkampf eingeladen worden, so dass es für ihn beschämend gewesen wäre, von einem Mädchen geworfen zu werden, das wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens mit dem Lernen von Ringkämpferkniffen verbracht hatte. Am Ende hatte sie gar von Mack Unterricht bekommen. Mochte sie ihm nur alles erzählen, der war sicher einsichtig, das wusste Josie, trotzdem er niemals Gelegenheit gehabt hatte, das im Einzelnen zu erfahren. Josie wusste aber auch, dass wenn Mack ihn unterrichten würde, er noch viel größere Fortschritte als Klara machen würde; dann käme er eines Tages wieder hierher, höchstwahrscheinlich uneingeladen, untersuchte natürlich zuerst die Örtlichkeit, deren genaue Kenntnis ein großer Vorteil Klaras gewesen war, packte dann diese gleiche Klara und klopfte mit ihr das gleiche Kanapee aus, auf das sie ihn heute geworfen hatte.
Jetzt handelte es sich nur darum, den Weg zum Saal zurück zu finden, wo er ja wahrscheinlich auch seinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf einen unpassenden Platz gelegt hatte. Die Kerze wollte er natürlich mitnehmen, aber selbst bei Licht war es nicht leicht sich auszukennen. Er wusste z.B. nicht einmal, ob dieses Zimmer in der gleichen Ebene, wie der Saal gelegen war. Klara hatte ihn auf dem Herweg immer so gezogen, dass er sich gar nicht hatte umsehn können, Herr Green und die Leuchter tragenden Diener hatten ihm auch zu denken gegeben, kurz, er wusste jetzt tatsächlich nicht einmal ob sie eine oder zwei oder vielleicht gar keine Treppe passiert hatten. Nach der Aussicht zu schließen lag das Zimmer ziemlich hoch und er suchte sich deshalb einzubilden, dass sie über Treppen gekommen waren, aber schon zum Hauseingang hatte man ja über Treppen steigen müssen, warum konnte nicht auch diese Seite des Hauses erhöht sein. Aber wenn wenigstens auf dem Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer Tür zu sehen oder eine Stimme aus der Ferne auch noch so leise zu hören gewesen wäre.
Seine Taschenuhr, ein Geschenk des Onkels, zeigte elf Uhr, er nahm die Kerze und ging auf den Gang hinaus. Die Tür ließ er offen, um für den Fall, dass sein Suchen vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer wiederzufinden und danach für den äußersten Notfall die Tür zu Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit sich die Türe nicht von selbst schließe, verstellte er sie mit einem Sessel. Auf dem Gange zeigte sich der Übelstand, dass gegen Josie — er ging natürlich von Klaras Türe weg nach links zu — ein Luftzug strich, der zwar ganz schwach war, aber immerhin leicht die Kerze hätte auslöschen können, so dass Josie die Flamme mit der Hand schützen und überdies öfters stehen bleiben musste, damit die niedergedrückte Flamme sich erhole. Es war ein langsames Vorwärtskommen und der Weg schien dadurch doppelt lang.
Josie war schon an großen Strecken der Wände vorüber gekommen, die gänzlich ohne Türen waren, man konnte sich nicht vorstellen, was dahinter war. Dann kam wieder Tür an Tür, er versuchte mehrere zu öffnen, sie waren versperrt und die Räume offenbar unbewohnt. Es war eine Raumverschwendung sondergleichen und Josie dachte an die östlichen New Yorker Quartiere, die ihm der Onkel zu zeigen versprochen hatte, wo angeblich in einem kleinen Zimmer mehrere Familien wohnten und das Heim einer Familie in einem Zimmerwinkel bestand, in dem sich die Kinder um ihre Eltern scharten. Und hier standen so viele Zimmer leer und waren nur dazu da, um hohl zu klingen, wenn man an die Türe schlug. Herr Pollunder schien Josie irregeführt zu sein von falschen Freunden, und vernarrt in seine Tochter und dadurch verdorben. Der Onkel hatte ihn sicher richtig beurteilt und nur sein Grundsatz, auf die Menschenbeurteilung Josies keinen Einfluss zu nehmen, war schuld an diesem Besuch und an diesen Wanderungen auf den Gängen. Josie wollte das morgen dem Onkel ohne weiters sagen, denn nach seinem Grundsatz würde der Onkel auch das Urteil des Neffen über ihn gerne und ruhig anhören. Überdies war dieser Grundsatz vielleicht das einzige, was Josie an seinem Onkel nicht gefiel und selbst dieses Nichtgefallen war nicht unbedingt.
Plötzlich hörte die Wand an der einen Gangseite auf und ein eiskaltes, marmornes Geländer trat an ihre Stelle. Josie stellte die Kerze neben sich und beugte sich vorsichtig hinüber. Dunkle Leere wehte ihm entgegen. Wenn das die Haupthalle des Hauses war — im Schimmer der Kerze erschien ein Stück einer gewölbeartig geführten Decke — warum war man nicht durch diese Halle eingetreten? Wozu diente nur dieser große tiefe Raum? Man stand ja hier oben wie auf der Galerie einer Kirche. Josie bedauerte fast, nicht bis morgen in diesem Hause bleiben zu können, er hätte gern bei Tageslicht von Herrn Pollunder sich überall herumführen und über alles unterrichten lassen.
Das Geländer war übrigens nicht lang und bald wurde Josie wieder vom geschlossenen Gang aufgenommen. Bei einer plötzlichen Wendung des Ganges stieß Josie mit ganzer Wucht an die Mauer und nur die ununterbrochene Sorgfalt, mit der er die Kerze krampfhaft hielt, bewahrte sie glücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen. Da der Gang kein Ende nehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick gab, weder in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas rührte, dachte Josie schon daran, er gehe immerfort im gleichen Kreisgang in der Runde und hoffte schon, die offene Türe seines Zimmers vielleicht wieder zu finden, aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder. Bis jetzt hatte sich Josie von lautem Rufen zurückgehalten, denn er wollte in einem fremden Haus zu so später Stunde keinen Lärm machen, aber jetzt sah er ein, dass es in diesem unbeleuchteten Hause kein Unrecht war und machte sich gerade daran, nach beiden Seiten des Ganges ein lautes Hallo zu schreien, als er in der Richtung, aus der er gekommen war, ein kleines sich näherndes Licht bemerkte. Jetzt konnte er erst die Länge des geraden Ganges abschätzen, das Haus war eine Festung, keine Villa. Josies Freude über dieses rettende Licht war so groß, dass er alle Vorsicht vergaß, und darauf zulief, schon bei den ersten Sprüngen löschte seine Kerze aus. Er achtete nicht darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hier kam ihm ein alter Diener mit einer Laterne entgegen, der ihm den richtigen Weg schon zeigen würde.
"Wer sind Sie?" fragte der Diener und hielt Josie die Laterne ans Gesicht, wodurch er gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein Gesicht erschien etwas steif durch einen großen, weißen Vollbart, der erst auf der Brust in seidenartige Ringel ausging.
Es muss ein treuer Diener sein, dem man das Tragen eines solchen Bartes erlaubt, dachte Josie und sah diesen Bart unverwandt der Länge und Breite nach an, ohne sich dadurch behindert zu fühlen, dass er selbst beobachtet wurde. Im Übrigen antwortete er sofort, dass er der Gast des Herrn Pollunder sei, aus seinem Zimmer in das Speisezimmer gehen wolle und es nicht finden könne. "Ach so", sagte der Diener, "wir haben das elektrische Licht noch nicht eingeführt." "Ich weiß", sagte Josie. "Wollen Sie sich nicht ihre Kerze an meiner Lampe anzünden?" fragte der Diener. "Bitte", sagte Josie und tat es. "Es zieht hier so auf den Gängen", sagte der Diener, "die Kerze löscht leicht aus, darum habe ich eine Laterne." "Ja, eine Laterne ist viel praktischer", sagte Josie. "Sie sind auch schon von der Kerze ganz betropft", sagte der Diener und leuchtete mit der Kerze Josies Anzug ab. "Das habe ich ja gar nicht bemerkt", rief Josie und es tat ihm sehr leid, da es ein schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm am besten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch nicht genützt haben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig genug, den Anzug zu reinigen, so gut es in der Eile ging; immer wieder drehte sich Josie vor ihm herum und zeigte ihm noch hier und dort einen Flecken, den der Diener folgsam entfernte. "Warum zieht es denn hier eigentlich so?" fragte Josie, als sie schon weiter gingen. "Es ist hier eben noch viel zu bauen", sagte der Diener, "man hat zwar mit dem Umbau schon angefangen, aber es geht sehr langsam. Jetzt streiken auch noch die Bauarbeiter, wie Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärger mit so einem Bau. Jetzt sind da paar große Durchbrüche gemacht worden, die niemand vermauert und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nicht die Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehn." "Da muss ich wohl lauter reden?" fragte Josie. "Nein, Sie haben eine klare Stimme", sagte der Diener. "Aber um auf diesen Bau zurückzukommen, besonders hier in der Nähe der Kapelle, die später unbedingt von dem übrigen Haus abgesperrt werden muss, ist die Zugluft gar nicht auszuhalten." "Die Brüstung, an der man in diesem Gang vorüber kommt, geht also in eine Kapelle hinaus?" "Ja." "Das habe ich mir gleich gedacht", sagte Josie. "Sie ist sehr sehenswert", sagte der Diener, "wäre sie nicht gewesen, hätte wohl Herr Mack das Haus nicht gekauft." "Herr Mack?" fragte Josie, "ich dachte, das Haus gehöre Herrn Pollunder." "Allerdings", sagte der Diener, "aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?" "Oh ja", sagte Josie. "Aber in welcher Verbindung ist er denn mit Herrn Pollunder?" "Er ist der Bräutigam des Fräuleins", sagte der Diener. "Das wusste ich freilich nicht", sagte Josie und blieb stehn. "Setzt Sie das in solches Erstaunen?" fragte der Diener. "Ich will es nur mir zurechtlegen. Wenn man solche Beziehungen nicht kennt, kann man ja die größten Fehler machen", antwortete Josie. "Es wundert mich nur, dass man Ihnen davon nichts gesagt hat", sagte der Diener. "Ja wirklich", sagte Josie beschämt. "Wahrscheinlich dachte man, Sie wüssten es", sagte der Diener, "es ist ja keine Neuigkeit. Hier sind wir übrigens", und er öffnete eine Tür, hinter der sich eine Treppe zeigte, die senkrecht zu der Hintertüre des ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchteten Speisezimmers führte. Ehe Josie in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die Stimmen Herrn Pollunders und Herrn Greens unverändert wie vor nun wohl schon zwei Stunden hörte, sagte der Diener: "Wenn Sie wollen, erwarte ich Sie hier und führe Sie dann in Ihr Zimmer. Es macht immerhin Schwierigkeiten, sich gleich am ersten Abend hier auszukennen." "Ich werde nicht mehr in mein Zimmer zurück gehn", sagte Josie und wusste nicht, warum er bei dieser Auskunft traurig wurde. "Es wird nicht so arg sein", sagte der Diener ein wenig überlegen lächelnd und klopfte ihm auf den Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Josies Worte dahin erklärt, dass Josie beabsichtige, während der ganzen Nacht im Speisezimmer zu bleiben, sich mit den Herren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken. Josie wollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdem dachte er, der Diener, der ihm besser gefiel als die andern hiesigen Diener, könne ihm ja dann die Wegrichtung nach New York zeigen und sagte deshalb: "Wenn Sie hier warten wollen, so ist das sicherlich eine große Freundlichkeit von Ihnen und ich nehme sie dankbar an. Jedenfalls werde ich in einer kleinen Weile herauskommen und Ihnen dann sagen, was ich weiter tun werde. Ich denke schon, dass mir ihre Hilfe noch nötig sein wird." "Gut", sagte der Diener, stellte die Laterne auf den Boden und setzte sich auf ein niedriges Postament, dessen Leere wahrscheinlich auch mit dem Umbau des Hauses zusammenhing, "ich werde also hier warten." "Die Kerze können Sie auch bei mir lassen", sagte der Diener noch, als Josie mit der brennenden Kerze in den Saal gehen wollte. "Ich bin aber zerstreut", sagte Josie und reichte die Kerze dem Diener hin, welcher ihm bloß zunickte, ohne dass man wusste, ob er es mit Absicht tat oder ob es eine Folge dessen war, dass er mit der Hand seinen Bart strich.
Josie öffnete die Tür, die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn sie bestand aus einer einzigen Glasplatte, die sich fast bog, wenn die Tür rasch geöffnet und nur an der Klinke fest gehalten wurde. Josie ließ die Tür erschrocken los, denn er hatte gerade besonders still eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehn, merkte er noch, wie hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem Postament herabgestiegen war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch die Türe schloss. "Verzeihen Sie, dass ich störe", sagte er zu den beiden Herren, die ihn mit ihren großen, erstaunten Gesichtern ansahen. Gleichzeitig aber überflog er mit einem Blick den Saal, ob er nicht irgendwo schnell seinen Hut finden könne. Er war aber nirgends zu sehn, der Esstisch war völlig abgeräumt, vielleicht war der Hut unangenehmer Weise irgendwie in die Küche fort getragen worden. "Wo haben Sie denn Klara gelassen?" fragte Herr Pollunder, dem übrigens die Störung nicht unlieb schien, denn er setzte sich gleich anders in seinem Fauteuil und kehrte Josie seine ganze Front zu. Herr Green spielte den Unbeteiligten, zog eine Brieftasche heraus, die an Größe und Dicke ein Ungeheuer ihrer Art war, schien in den vielen Taschen ein bestimmtes Stück zu suchen, las aber während des Suchens auch andere Papiere, die ihm gerade in die Hand kamen. "Ich hätte eine Bitte, die Sie nicht missverstehen dürfen", sagte Josie, ging eiligst zu Herrn Pollunder hin und legte, um ihm recht nahe zu sein, die Hand auf die Armlehne des Fauteuils. "Was soll denn das für eine Bitte sein?" fragte Herr Pollunder und sah Josie mit offenem, rückhaltlosem Blicke an. "Sie ist natürlich schon erfüllt." Und er legte den Arm um Josie und zog ihn zu sich zwischen seine Beine. Josie duldete das gerne, trotzdem er sich im Allgemeinen doch für eine solche Behandlung allzu erwachsen fühlte. Aber das Aussprechen seiner Bitte wurde natürlich schwieriger. "Wie gefällt es Ihnen denn eigentlich bei uns?" fragte Herr Pollunder. "Scheint es Ihnen nicht auch, dass man auf dem Lande sozusagen befreit wird, wenn man aus der Stadt herkommt. Im allgemeinen" — und ein nicht misszuverstehender, durch Josie etwas verdeckter Seitenblick ging auf Herrn Green — "im Allgemeinen habe ich dieses Gefühl immer wieder, jeden Abend." "Er spricht", dachte Josie, "als wüsste er nicht von dem großen Haus, den endlosen Gängen, der Kapelle, den leeren Zimmern, dem Dunkel überall." "Nun!" sagte Herr Pollunder. "Die Bitte!" und er schüttelte Josie freundschaftlich, der stumm dastand. "Ich bitte", sagte Josie und so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ sich nicht vermeiden, dass der daneben sitzende Green alles hörte, vor dem Josie die Bitte, die möglicherweise als eine Beleidigung Pollunders aufgefasst werden konnte, so gern verschwiegen hätte — "ich bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in der Nacht, nach Hause." Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte alles andere umso schneller nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu gebrauchen, Dinge an die er gar nicht eigentlich vorher gedacht hatte. "Ich möchte um alles gerne nach Hause. Ich werde gerne wiederkommen, denn wo Sie, Herr Pollunder, sind, dort bin ich auch gerne. Nur heute kann ich nicht hier bleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis zu diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine guten Gründe gehabt, wie für alles, was er tut, und ich habe es mir herausgenommen, gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen. Ich habe seine Liebe zu mir einfach missbraucht. Was für Bedenken er gegen diesen Besuch hatte, ist ja jetzt gleichgültig, ich weiß bloß ganz bestimmt, dass nichts in diesen Bedenken war, was Sie, Herr Pollunder, kränken könnte, der Sie der beste, der allerbeste Freund meines Onkels sind. Kein anderer kann sich in der Freundschaft meines Onkels auch nur im Entferntesten mit Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzige Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie haben vielleicht keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem Onkel und mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen. Solange meine Englischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im praktischen Handel nicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich auf die Güte meines Onkels angewiesen, die ich allerdings als Blutsverwandter genießen darf. Sie dürfen nicht glauben, dass ich schon jetzt irgendwie mein Brot anständig — und vor allem andern soll mich Gott bewahren — verdienen könnte. Dazu ist leider meine Erziehung zu unpraktisch gewesen. Ich habe vier Klassen eines europäischen Gymnasiums als Durchschnittsschüler durchgemacht und das bedeutet für den Gelderwerb viel weniger als nichts, denn unsere Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich. Sie würden lachen, wenn ich Ihnen erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wenn man weiter studiert, das Gymnasium zu Ende macht, an die Universität geht, dann gleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie aus und man hat zum Schluss eine geordnete Bildung, mit der sich etwas anfangen lässt und die einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich aber bin aus diesem zusammenhängenden Studium leider herausgerissen worden, manchmal glaube ich, ich weiß gar nichts, und schließlich wäre auch alles, was ich wissen könnte, für Amerika noch immer zu wenig. Jetzt werden in meiner Heimat neuestens hier und da Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch moderne Sprachen und vielleicht auch Handelswissenschaften lernt, als ich aus der Volksschule trat, gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich zwar im Englischen unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals nicht ahnen, was für ein Unglück über mich kommen wird, und wie ich das Englische brauchen werde, und zweitens musste ich für das Gymnasium viel lernen, so dass ich für andere Beschäftigungen nicht besonders viel Zeit hatte. — Ich erwähne das alles, um Ihnen zu zeigen, wie abhängig ich von meinem Onkel bin und wie verpflichtet infolgedessen ich ihm gegenüber auch bin. Sie werden sicher zugeben, dass ich es mir bei solchen Verhältnissen nicht erlauben darf, auch nur das geringste gegen seinen auch nur geahnten Willen zu tun. Und darum muss ich, um den Fehler den ich ihm gegenüber begangen habe, nur halbwegs wieder gut zu machen, sofort nachhause gehn." Während dieser langen Rede Josies hatte Herr Pollunder aufmerksam zugehört, öfters, besonders wenn der Onkel erwähnt wurde, Josie wenn auch unmerklich an sich gedrückt und einige Male ernst und wie erwartungsvoll zu Green hinüber gesehn, der sich weiterhin mit seiner Brieftasche beschäftigte. Josie aber war, je deutlicher ihm seine Stellung zum Onkel im Laufe seiner Rede zu Bewusstsein kam, immer unruhiger geworden, hatte sich unwillkürlich aus dem Arm Pollunders zu drängen gesucht, alles beengte ihn hier, der Weg zum Onkel durch die Glastüre, über die Treppe, durch die Allee, über die Landstraßen, durch die Vorstädte zur großen Verkehrsstraße, einmündend in des Onkels Haus, erschien ihm als etwas streng Zusammengehöriges, das leer, glatt und für ihn vorbereitet da lag und mit einer starken Stimme nach ihm verlangte. Herrn Pollunders Güte und Herrn Greens Abscheulichkeit verschwammen und er wollte aus diesem rauchigen Zimmer nichts anderes für sich haben, als die Erlaubnis zum Abschied nehmen. Zwar fühlte er sich gegen Herrn Pollunder abgeschlossen, gegen Herrn Green kampfbereit und doch erfüllte ihn rings herum eine unbestimmte Furcht, deren Stöße seine Augen trübten.
Er trat einen Schritt zurück und stand nun gleich weit von Herrn Pollunder und von Herrn Green entfernt. "Wollten Sie ihm nicht etwas sagen?" fragte Herr Pollunder Herrn Green und fasste wie bittend Herrn Greens Hand. "Ich wüsste nichts, was ich ihm sagen sollte?" sagte Herr Green, der endlich einen Brief aus seiner Tasche gezogen und vor sich auf den Tisch gelegt hatte. "Es ist recht lobenswert, dass er zu seinem Onkel zurückkehren will, und nach menschlicher Voraussicht sollte man glauben, dass er dem Onkel eine besondere Freude damit machen wird. Es müsste denn sein, dass er durch seine Unfolgsamkeit den Onkel schon allzu böse gemacht hat, was ja auch möglich ist. Dann allerdings wäre es besser, er bliebe hier. Es ist eben schwer, etwas Bestimmtes zu sagen, wir sind zwar beide Freunde des Onkels und es dürfte Mühe machen zwischen meiner und Herrn Pollunders Freundschaft Rangunterschiede zu erkennen, aber in das Innere des Onkels können wir nicht hineinschauen und ganz besonders nicht über die vielen Kilometer hinweg, die uns hier von New York trennen." "Bitte, Herr Green", sagte Josie und näherte sich mit Selbstüberwindung Herrn Green, "ich höre aus ihren Worten heraus, dass Sie es auch für das Beste halten, wenn ich gleich zurückkehre." "Das habe ich durchaus nicht gesagt", meinte Herr Green und vertiefte sich in das Anschauen des Briefes, an dessen Rändern er mit zwei Fingern hin und her fuhr. Er schien damit andeuten zu wollen, dass er von Herrn Pollunder gefragt worden sei, ihm auch geantwortet habe, während er mit Josie eigentlich nichts zu tun habe.
Inzwischen war Herr Pollunder zu Josie getreten und hatte ihn sanft von Herrn Green weg zu einem der großen Fenster gezogen. "Lieber Herr Rossmann", sagte er zu Josies Ohr herab gebeugt und wischte zur Vorbereitung mit dem Taschentuch über sein Gesicht und bei der Nase innehaltend schnäuzte er, "Sie werden doch nicht glauben, dass ich Sie gegen ihren Willen hier zurückhalten will. Davon ist ja keine Rede. Das Automobil kann ich Ihnen zwar nicht zur Verfügung stellen, denn es steht weit von hier in einer öffentlichen Garage, da ich noch keine Zeit hatte, hier, wo alles erst im Werden ist, eine eigene Garage einzurichten. Der Chauffeur wiederum schläft nicht hier im Haus, sondern in der Nähe der Garage, ich weiß wirklich selbst nicht wo. Außerdem ist es gar nicht seine Pflicht, jetzt zuhause zu sein, seine Pflicht ist es nur, früh zur rechten Zeit hier vorzufahren. Aber das alles wären keine Hindernisse für ihre augenblickliche Heimkehr, denn wenn Sie darauf bestehn, begleite ich Sie sofort zur nächsten Station der Stadtbahn, die allerdings so weit entfernt ist, dass Sie nicht viel früher zuhause ankommen dürften, als wenn Sie früh — wir fahren ja schon um sieben Uhr — mit mir in meinem Automobil fahren wollen." "Da möchte ich, Herr Pollunder, doch lieber mit der Stadtbahn fahren", sagte Josie. "An die Stadtbahn habe ich gar nicht gedacht. Sie sagen selbst, dass ich mit der Stadtbahn früher ankomme, als früh mit dem Automobil." "Es ist aber ein ganz kleiner Unterschied." "Trotzdem, trotzdem, Herr Pollunder", sagte Josie, "ich werde in Erinnerung an ihre Freundlichkeit immer gerne herkommen, vorausgesetzt natürlich, dass Sie mich nach meinem heutigen Benehmen noch einladen wollen, und vielleicht werde ich es nächstens besser ausdrücken können, warum heute jede Minute, um die ich meinen Onkel früher sehe, für mich so wichtig ist." Und als hätte er bereits die Erlaubnis zum Weggehn erhalten, fügte er hinzu: "Aber keinesfalls dürfen Sie mich begleiten. Es ist auch ganz unnötig. Draußen ist ein Diener, der mich gern zur Station begleiten wird. Jetzt muss ich nur noch meinen Hut suchen." Und bei den letzten Worten durchschritt er schon das Zimmer, um noch in Eile einen letzten Versuch zu machen, ob sein Hut doch vielleicht zu finden wäre. "Könnte ich Ihnen nicht mit einer Mütze aushelfen", sagte Herr Green und zog eine Mütze aus der Tasche, "vielleicht passt sie ihnen zufällig." Verblüfft blieb Josie stehn und sagte: "Ich werde Ihnen doch nicht ihre Mütze wegnehmen. Ich kann ja ganz gut mit unbedecktem Kopf gehn. Ich brauche gar nichts." "Es ist nicht meine Mütze. Nehmen Sie nur!" "Dann danke ich", sagte Josie, um sich nicht aufzuhalten, und nahm die Mütze. Er zog sie an und lachte zuerst, da sie ganz genau passte, nahm sie wieder in die Hand und betrachtete sie, konnte aber das Besondere, das er an ihr suchte, nicht finden; es war eine vollkommen neue Mütze. "Sie passt so gut!" sagte er. "Also, sie passt!" rief Herr Green und schlug auf den Tisch.
Josie ging schon zur Tür zu, um den Diener zu holen, da erhob sich Herr Green, streckte sich nach dem reichlichen Mahl und der vielen Ruhe, klopfte stark gegen seine Brust und sagte in einem Ton zwischen Rat und Befehl: "Ehe Sie weg gehn, müssen Sie von Fräulein Klara Abschied nehmen." "Das müssen Sie", sagte auch Herr Pollunder, der ebenfalls aufgestanden war. Ihm hörte man es an, dass die Worte nicht aus seinem Herzen kamen, schwach ließ er die Hände an die Hosennaht schlagen und knöpfte immer wieder seinen Rock auf und zu, der nach der augenblicklichen Mode ganz kurz war und kaum zu den Hüften ging, was so dicke Leute wie Herrn Pollunder schlecht kleidete. Übrigens hatte man, wenn er so neben Herrn Green stand, den deutlichen Eindruck, dass es bei Herrn Pollunder keine gesunde Dicke war, der Rücken war in seiner ganzen Masse etwas gekrümmt, der Bauch sah weich und unhaltbar aus, eine wahre Last, und das Gesicht erschien bleich und geplagt. Dagegen stand hier Herr Green, vielleicht noch etwas dicker als Herr Pollunder, aber es war eine zusammenhängende, einander gegenseitig tragende Dicke, die Füße waren soldatisch zusammengeklappt, den Kopf trug er aufrecht und schaukelnd, er schien ein großer Turner, ein Vorturner, zu sein. "Gehen Sie also vorerst", fuhr Herr Green fort, "zu Fräulein Klara. Das dürfte Ihnen sicher Vergnügen machen und passt auch sehr gut in meine Zeiteinteilung. Ich habe Ihnen nämlich tatsächlich, ehe Sie von hier fort gehn, etwas Interessantes zu sagen, was wahrscheinlich auch für ihre Rückkehr entscheidend sein kann. Nur bin ich leider durch höheren Befehl gebunden, Ihnen vor Mitternacht nichts zu verraten. Sie können sich vorstellen, dass mir das selbst Leid tut, denn es stört meine Nachtruhe, aber ich halte mich an meinen Auftrag. Jetzt ist Viertel zwölf, ich kann also meine Geschäfte noch mit Herrn Pollunder zu Ende besprechen, wobei ihre Gegenwart nur stören würde und Sie können ein hübsches Weilchen mit Fräulein Klara verbringen. Punkt zwölf Uhr stellen Sie sich dann hier ein, wo Sie das Nötige erfahren werden."
Konnte Josie diese Forderung ablehnen, die von ihm wirklich nur das Geringste an Höflichkeit und Dankbarkeit gegenüber Herrn Pollunder verlangte und die überdies ein sonst unbeteiligter, roher Mann stellte, während Herr Pollunder, den es anging, sich mit Worten und Blicken möglichst zurückhielt? Und was war jenes Interessante, das er erst um Mitternacht erfahren durfte? Wenn es seine Heimkehr nicht wenigstens um die dreiviertel Stunde beschleunigte, um die es sie jetzt verschob, interessierte es ihn wenig. Aber sein größter Zweifel war, ob er überhaupt zu Klara gehn konnte, die doch seine Feindin war. Wenn er wenigstens das Schlageisen bei sich gehabt hätte, das ihm sein Onkel als Briefbeschwerer geschenkt hatte. Das Zimmer Klaras mochte ja eine recht gefährliche Höhle sein. Aber nun war es ja ganz und gar unmöglich, hier gegen Klara das Geringste zu sagen, da sie Pollunders Tochter und wie er jetzt gehört hatte gar Macks Braut war. Sie hätte ja nur um eine Kleinigkeit anders sich zu ihm verhalten müssen und er hätte sie wegen ihrer Beziehungen offen bewundert. Noch überlegte er das alles, aber schon merkte er, dass man keine Überlegungen von ihm verlangte, denn Green öffnete die Tür und sagte zum Diener, der vom Postamente sprang: "Führen Sie diesen jungen Mann zu Fräulein Klara."
"So führt man Befehle aus", dachte Josie, als ihn der Diener fast laufend, stöhnend vor Altersschwäche, auf einem besonders kurzen Weg zu Klaras Zimmer zog. Als Josie an seinem Zimmer vorüber kam, dessen Tür noch immer offen stand, wollte er, vielleicht zu seiner Beruhigung, für einen Augenblick eintreten. Der Diener ließ das aber nicht zu. "Nein", sagte er, "Sie müssen zu Fräulein Klara. Sie haben es ja selbst gehört." "Ich würde mich nur einen Augenblick drin aufhalten", sagte Josie und er dachte daran, sich zur Abwechslung ein wenig auf das Kanapee zu werfen, damit ihm die Zeit rascher gegen Mitternacht vorrücke. "Erschweren Sie mir die Ausführung meines Auftrages nicht", sagte der Diener. "Er scheint es für eine Strafe zu halten, dass ich zu Fräulein Klara gehn muss", dachte Josie und machte ein paar Schritte, blieb aber aus Trotz wieder stehn. "Kommen Sie doch, junger Herr", sagte der Diener, "wenn Sie nun schon einmal hier sind. Ich weiß, Sie wollten noch in der Nacht weg gehn, es geht eben nicht alles nach Wunsch, ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, dass es kaum möglich sein wird." "Ja, ich will weg gehn und werde auch weg gehn", sagte Josie, "und will jetzt nur von Fräulein Klara Abschied nehmen." "So", sagte der Diener und Josie sah ihm wohl an, dass er kein Wort davon glaubte, "warum zögern Sie also Abschied zu nehmen, kommen Sie doch."
"Wer ist auf dem Gang?" ertönte Klaras Stimme und man sah sie aus einer nahen Tür sich vorbeugen, eine große Tischlampe mit rotem Schirm in der Hand. Der Diener eilte zu ihr hin und erstattete die Meldung; Josie ging ihm langsam nach. "Sie kommen spät", sagte Klara. Ohne ihr vorläufig zu antworten, sagte Josie zum Diener leise, aber, da er seine Natur schon kannte, im Ton strengen Befehles: "Sie warten auf mich knapp vor dieser Tür!" "Ich wollte schon schlafen gehen", sagte Klara und stellte die Lampe auf den Tisch. Wie unten im Speisezimmer schloss auch hier wieder der Diener vorsichtig von außen die Tür. "Es ist ja schon halb zwölf vorüber." "Halb zwölf vorüber", wiederholte Josie fragend, wie erschrocken über diese Zahlen. "Dann muss ich mich aber sofort verabschieden", sagte Josie, "denn Punkt zwölf muss ich schon unten im Speisesaal sein." "Was Sie für eilige Geschäfte haben", sagte Klara und ordnete zerstreut die Falten ihres losen Nachtkleides, ihr Gesicht glühte und immerfort lächelte sie. Josie glaubte zu erkennen, dass keine Gefahr bestand, mit Klara wieder in Streit zu geraten. "Könnten Sie nicht doch noch ein wenig Klavier spielen, wie es mir gestern Papa und heute Sie selbst versprochen haben?" "Ists nicht aber schon zu spät?" fragte Josie. Er hätte ihr gern gefällig sein wollen, denn sie war ganz anders als vorher, so als wäre sie irgendwie aufgestiegen, in die Kreise Pollunders und weiterhin Macks. "Ja, spät ist es schon", sagte sie und es schien ihr die Lust zur Musik schon vergangen zu sein. "Dann widerhallt hier auch jeder Ton im ganzen Hause, ich bin überzeugt, wenn Sie spielen, wacht noch oben in den Dachkammern die Dienerschaft auf." "Dann lasse ich also das Spiel, ich hoffe ja bestimmt noch wiederzukommen, übrigens, wenn es Ihnen keine besondere Mühe macht, besuchen Sie doch einmal meinen Onkel und schauen bei der Gelegenheit auch in mein Zimmer. Ich habe ein prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir geschenkt. Dann spiele ich Ihnen, wenn es Ihnen recht ist, alle meine Stückchen vor, es sind leider nicht viele, und sie passen auch gar nicht zu so einem großen Instrument, auf dem nur Virtuosen sich hören lassen sollten. Aber auch dieses Vergnügen werden Sie haben können, wenn Sie mich von ihrem Besuch vorher verständigen, denn der Onkel will nächstens einen berühmten Lehrer für mich engagieren — Sie können sich denken, wie ich mich darauf freue — und dessen Spiel wird allerdings dafür stehn, mir während der Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich sein soll, froh, dass es für das Spiel schon zu spät ist, denn ich kann noch gar nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und nun erlauben Sie, dass ich mich verabschiede, schließlich ist ja doch schon Schlafenszeit. Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm wegen der Rauferei gar nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd hinzu, während er ihr die Hand reichte: "In meiner Heimat pflegt man zu sagen: Schlafe wohl und träume süß."
"Warten Sie", sagte sie, ohne seine Hand anzunehmen, "vielleicht sollten Sie doch spielen." Und sie verschwand durch eine kleine Seitentür, neben der das Piano stand. "Was ist denn?" dachte Josie, "lange kann ich nicht warten, so lieb sie auch ist." Es klopfte an die Gangtüre und der Diener, der die Türe nicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte durch einen kleinen Spalt: "Verzeihen Sie, ich wurde soeben abberufen und kann nicht mehr warten." "Gehen Sie nur", sagte Josie, der sich nun getraute, den Weg ins Speisezimmer allein zu finden, "lassen Sie mir nur die Laterne vor der Tür. Wie spät ist es übrigens?" "Bald dreiviertel zwölf", sagte der Diener. "Wie langsam die Zeit vergeht", sagte Josie. Der Diener wollte schon die Türe schließen, da erinnerte sich Josie, dass er ihm noch kein Trinkgeld gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche — er trug jetzt immer Münzengeld nach amerikanischer Sitte lose klingelnd in der Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westentasche — und reichte ihn dem Diener mit den Worten: "Für ihre guten Dienste."
Klara war schon wieder eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als es Josie einfiel, dass er den Diener doch nicht hätte wegschicken sollen, denn wer würde ihn jetzt zur Station der Stadtbahn führen? Nun, da würde wohl schon Herr Pollunder einen Diener noch auftreiben können, vielleicht war übrigens dieser Diener ins Speisezimmer gerufen worden und würde dann zur Verfügung stehn. "Ich bitte Sie also doch ein wenig zu spielen. Man hört hier so selten Musik, dass man sich keine Gelegenheit sie zu hören entgehen lassen will." "Dann ist es aber höchste Zeit", sagte Josie, ohne weitere Überlegung und setzte sich gleich zum Klavier. "Wollen Sie Noten haben?" fragte Klara. "Danke, ich kann ja Noten nicht einmal vollkommen lesen", antwortete Josie und spielte schon. Es war ein kleines Lied, das wie Josie wohl wusste, ziemlich langsam hätte gespielt werden müssen, um besonders für Fremde auch nur verständlich zu sein, aber er hudelte es im ärgsten Marschtempo hinunter. Nach der Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses wie in großem Gedränge wieder an ihren Platz. Man saß wie benommen da und rührte sich nicht. "Ganz schön", sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsformel, die Josie nach diesem Spiel hätte schmeicheln können. "Wie spät ist es?" fragte er. "Dreiviertel zwölf." "Dann habe ich noch ein Weilchen Zeit", sagte er und dachte bei sich: "Entweder oder. Ich muss ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eines kann ich nach Möglichkeit gut spielen." Und er fing sein geliebtes Soldatenlied an. So langsam, dass das aufgestörte Verlangen des Zuhörers sich nach der nächsten Note streckte, die Josie zurückhielt und nur schwer hergab. Er musste ja tatsächlich wie bei jedem Lied die nötigen Tasten mit den Augen erst zusammensuchen, aber außerdem fühlte er in sich ein Leid entstehn, das über das Ende des Liedes hinaus, ein anderes Ende suchte und es nicht finden konnte. "Ich kann ja nichts", sagte Josie nach Schluss des Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen an.
Da ertönte aus dem Nebenzimmer lautes Hände klatschen. "Es hört noch jemand zu!" rief Josie aufgerüttelt. "Mack", sagte Klara leise. Und schon hörte man Mack rufen: "Josie Rossmann, Josie Rossmann!"
Josie schwang sich mit beiden Füßen zugleich über die Klavierbank und öffnete die Tür. Er sah dort Mack in einem großen Himmelbett halb liegend sitzen, die Bettdecke war lose über die Beine geworfen. Der Baldachin aus blauer Seide war die einzige ein wenig mädchenhafte Pracht des sonst einfachen, aus schwerem Holz eckig gezimmerten Bettes. Auf dem Nachttischchen brannte nur eine Kerze, aber die Bettwäsche und Macks Hemd waren so weiß, dass das auf sie fallende Kerzenlicht in fast blendendem Widerschein von ihnen strahlte; auch der Baldachin leuchtete wenigstens am Rande mit seiner leicht gewellten, nicht ganz fest gespannten Seide. Gleich hinter Mack versank aber das Bett und alles in vollständigem Dunkel. Klara lehnte sich an den Bettpfosten und hatte nur noch Augen für Mack. "Servus", sagte Mack und reichte Josie die Hand. "Sie spielen ja recht gut, bisher habe ich bloß ihre Reitkunst gekannt." "Ich kann das eine so schlecht wie das andere", sagte Josie. "Wenn ich gewusst hätte, dass Sie zuhören, hätte ich bestimmt nicht gespielt. Aber ihr Fräulein" — er unterbrach sich, er zögerte "Braut" zu sagen, da Mack und Klara offenbar schon miteinander schliefen. "Ich ahnte es ja", sagte Mack, "darum musste Sie Klara aus New York hierher locken, sonst hätte ich ihr Spiel gar nicht zu hören bekommen. Es ist ja reichlich anfängerhaft und selbst in diesen Liedern, die Sie doch eingeübt hatten und die sehr primitiv gesetzt sind, haben Sie einige Fehler gemacht, aber immerhin hat es mich sehr gefreut, ganz abgesehen davon, dass ich das Spiel keines Menschen verachte. Wollen Sie sich aber nicht setzen und noch ein Weilchen bei uns bleiben. Klara gib ihm doch einen Sessel." "Ich danke", sagte Josie stockend. "Ich kann nicht bleiben, so gern ich hier bliebe. Zu spät erfahre ich, dass es so wohnliche Zimmer in diesem Hause gibt." "Ich baue alles in dieser Art um", sagte Mack.
In diesem Augenblick erklangen zwölf Glockenschläge, rasch hintereinander, einer in den Lärm des andern drein schlagend, Josie fühlte das Wehen der großen Bewegung dieser Glocken an den Wangen. Was war das für ein Dorf, das solche Glocken hatte!
"Höchste Zeit", sagte Josie, streckte Mack und Klara nur die Hände hin, ohne sie zu fassen, und lief auf den Gang hinaus. Dort fand er die Laterne nicht und bedauerte dem Diener zu bald das Trinkgeld gegeben zu haben. Er wollte sich an der Wand zu der offenen Türe seines Zimmers hin tasten, war aber kaum in der Hälfte des Weges, als er Herrn Green mit erhobener Kerze eilig heran schwanken sah. In der Hand, in der er die Kerze hielt, trug er auch einen Brief. "Rossmann, warum kommen Sie denn nicht? Warum lassen Sie mich warten? Was haben Sie denn bei Fräulein Klara getrieben?" "Viele Fragen!" dachte Josie, "und jetzt drückt er mich noch an die Wand", denn tatsächlich stand er dicht vor Josie, der mit dem Rücken an der Wand lehnte. Green nahm in diesem Gang eine schon lächerliche Größe an und Josie stellte sich zum Spaß die Frage, ob er nicht etwa den guten Herrn Pollunder aufgefressen habe. "Sie sind tatsächlich kein Mann von Wort. Versprechen um zwölf Uhr hinunterzukommen und umschleichen statt dessen die Tür Fräulein Klaras. Ich dagegen habe Ihnen für Mitternacht etwas Interessantes versprochen und bin damit schon da." Und damit reichte er Josie den Brief. Auf dem Umschlag stand "An Josie Rossmann. Um Mitternacht persönlich abzugeben, wo immer er angetroffen wird." "Schließlich", sagte Herr Green, während Josie den Brief öffnete, "ist es, glaube ich, schon anerkennenswert, dass ich ihretwegen aus New York hierher gefahren bin, so dass Sie mich durchaus nicht noch auf den Gängen Ihnen nachlaufen lassen müssten." "Vom Onkel!" sagte Josie kaum, dass er in den Brief hinein geschaut hatte. "Ich habe es erwartet", sagte er zu Herrn Green gewendet. "Ob Sie es erwartet haben oder nicht, ist mir kolossal gleichgültig. Lesen Sie nur schon", sagte dieser und hielt Josie die Kerze hin.
Josie las bei ihrem Licht: "Geliebter Neffe! Wie du während unseres leider viel zu kurzen Zusammenlebens schon erkannt haben wirst, bin ich durchaus ein Mann von Prinzipien. Das ist nicht nur für meine Umgebung, sondern auch für mich sehr unangenehm und traurig, aber ich verdanke meinen Prinzipien alles, was ich bin, und niemand darf verlangen, dass ich mich vom Erdboden weg leugne, niemand, auch du nicht, mein geliebter Neffe, wenn auch du gerade der erste in der Reihe wärest, wenn es mir einmal einfallen sollte, jenen allgemeinen Angriff gegen mich zuzulassen. Dann würde ich am liebsten gerade dich mit diesen beiden Händen, mit denen ich das Papier halte und beschreibe, auffangen und hoch heben. Da aber vorläufig gar nichts darauf hindeutet, dass dies einmal geschehen könnte, muss ich dich nach dem heutigen Vorfall unbedingt von mir fort schicken und ich bitte dich dringend, mich weder selbst aufzusuchen, noch brieflich oder durch Zwischenträger Verkehr mit mir zu suchen. Du hast dich gegen meinen Willen dafür entschieden, heute Abend von mir fort zu gehn, dann bleibe aber auch bei diesem Entschluss dein Leben lang, nur dann war es ein männlicher Entschluss. Ich erwählte zum Überbringer dieser Nachricht Herrn Green, meinen besten Freund, der sicherlich für dich genug schonende Worte finden wird, die mir im Augenblick tatsächlich nicht zur Verfügung stehn. Er ist ein einflussreicher Mann und wird dich schon mir zu Liebe in deinen ersten selbstständigen Schritten mit Rat und Tat unterstützen. Um unsere Trennung zu begreifen, die mir jetzt am Schlusse dieses Briefes wieder unfasslich scheint, muss ich mir immer wieder neuerlich sagen: Von deiner Familie, Josie, kommt nichts Gutes. Sollte Herr Green vergessen, dir deinen Koffer und deinen Regenschirm auszuhändigen, so erinnere ihn daran. Mit besten Wünschen für dein weiteres Wohlergehn,
dein treuer Onkel Jakob."
"Sind Sie fertig?" fragte Green. "Ja", sagte Josie, "haben Sie mir den Koffer und den Regenschirm mitgebracht?" fragte Josie. "Hier ist er", sagte Green und stellte Josies alten Reisekoffer, den er bisher mit der linken Hand hinter dem Rücken versteckt hatte, neben Josie auf den Boden. "Und den Regenschirm?" fragte Josie weiter. "Alles hier", sagte Green und zog auch den Regenschirm hervor, den er in einer Hosentasche hängen hatte. "Die Sachen hat ein gewisser Schubal, ein Obermaschinist der Hamburg-Amerikalinie gebracht, er hat behauptet, sie auf dem Schiff gefunden zu haben. Sie können ihm bei Gelegenheit danken." "Nun habe ich wenigstens meine alten Sachen wieder", sagte Josie und legte den Schirm auf den Koffer. "Sie sollen aber besser in Zukunft auf sie Acht geben, lässt Ihnen der Herr Senator sagen", bemerkte Herr Green und fragte dann offenbar aus privater Neugierde: "Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger Koffer?" "Es ist ein Koffer, mit dem die Soldaten in meiner Heimat zum Militär einrücken", antwortete Josie, "es ist der alte Militärkoffer meines Vaters. Er ist sonst ganz praktisch." Lächelnd fügte er hinzu: "Vorausgesetzt dass man ihn nicht irgendwo stehn lässt." "Schließlich sind Sie ja belehrt genug", sagte Herr Green, "und einen zweiten Onkel haben Sie in Amerika wohl nicht. Hier gebe ich ihnen noch eine Karte Dritter nach San Francisco. Ich habe diese Reise für Sie beschlossen, weil erstens die Erwerbsmöglichkeiten im Westen für Sie viel bessere sind und weil zweitens hier in allen Dingen, die für Sie in Betracht kommen könnten, ihr Onkel seine Hände im Spiele hat und ein Zusammentreffen unbedingt vermieden werden muss. In Frisco können Sie ganz ungestört arbeiten, fangen Sie nur ruhig ganz unten an und versuchen Sie, sich allmählich herauf zu arbeiten."
Josie konnte keine Bosheit aus diesen Worten heraushören, die schlimme Nachricht, welche den ganzen Abend in Green gesteckt hatte, war überbracht und von nun an schien Green ein ungefährlicher Mann, mit dem man vielleicht offener reden konnte, als mit jedem andern. Der beste Mensch, der ohne eigene Schuld zum Boten einer so geheimen und quälenden Entschließung auserwählt wird, muss, solange er sie bei sich hält, verdächtig scheinen. "Ich werde", sagte Josie, die Bestätigung eines erfahrenen Mannes erwartend, "dieses Haus sofort verlassen, denn ich bin nur als Neffe meines Onkels aufgenommen, während ich als Fremder hier nichts zu suchen habe. Würden Sie so liebenswürdig sein, mir den Ausgang zu zeigen und mich dann auf den Weg zu führen, auf dem ich zur nächsten Gastwirtschaft komme." "Aber rasch", sagte Green. "Sie machen mir nicht wenig Scherereien." Beim Anblick des großen Schrittes, den Green gleich gemacht hatte, stockte Josie, das war doch eine verdächtige Eile, und er fasste Green unten beim Rock und sagte in einem plötzlichen Erkennen des wahren Sachverhaltes: "Eines müssen Sie mir noch erklären. Auf dem Umschlag des Briefes, den Sie mir zu übergeben hatten, steht bloß, dass ich ihn um Mitternacht erhalten soll, wo immer ich angetroffen werde. Warum haben Sie mich also mit Berufung auf diesen Brief hier zurückgehalten, als ich um Viertel zwölf von hier fort wollte? Sie gingen dabei über ihren Auftrag hinaus." Green leitete seine Antwort mit einer Handbewegung ein, welche das Unnütze von Josies Bemerkung übertrieben darstellte, und sagte dann: "Steht vielleicht auf dem Umschlag, dass ich mich ihretwegen zu Tode hetzen soll und lässt vielleicht der Inhalt des Briefes darauf schließen, dass die Aufschrift so aufzufassen ist? Hätte ich Sie nicht zurückgehalten, hätte ich Ihnen den Brief eben um Mitternacht auf der Landstraße übergeben müssen." "Nein", sagte Josie unbeirrt, "es ist nicht ganz so. Auf dem Umschlag steht, 'zu übergeben nach Mitternacht'. Wenn Sie zu müde waren, hätten Sie mir vielleicht gar nicht folgen können, oder ich wäre, was allerdings selbst Herr Pollunder geleugnet hat, schon um Mitternacht bei meinem Onkel angekommen oder es wäre schließlich ihre Pflicht gewesen, mich in ihrem Automobil, von dem plötzlich nicht mehr die Rede war, zu meinem Onkel zurückzubringen, da ich so danach verlangte zurückzukehren. Besagt nicht die Überschrift ganz deutlich, dass die Mitternacht für mich noch der letzte Termin sein soll? Und Sie sind es, der die Schuld trägt, dass ich ihn versäumt habe." Josie sah Green mit scharfen Augen an und erkannte wohl wie in Green die Beschämung über diese Entlarvung mit der Freude über das Gelingen seiner Absicht kämpfte. Endlich nahm er sich zusammen, sagte in einem Tone, als wäre er Josie, der doch schon lange schwieg, mitten in die Rede gefallen: "Kein Wort weiter!" und schob ihn, der den Koffer und Schirm wieder aufgenommen hatte, durch eine kleine Tür, die er vor ihm aufstieß, hinaus.
Josie stand erstaunt im Freien. Eine an das Haus angebaute Treppe ohne Geländer führte vor ihm hinab. Er musste nur hinunter gehn und dann sich ein wenig rechts zur Allee wenden, die auf die Landstraße führte. In dem hellen Mondschein konnte man sich gar nicht verirren. Unten im Garten hörte er das vielfache Bellen von Hunden, die losgelassen rings herum im Dunkel der Bäume liefen. Man hörte in der sonstigen Stille ganz genau, wie sie nach ihren großen Sprüngen ins Gras schlugen.
Ohne von diesen Hunden belästigt zu werden, kam Josie glücklich aus dem Garten. Er konnte nicht mit Bestimmtheit feststellen, in welcher Richtung New York lag, er hatte bei der Herfahrt zu wenig auf die Einzelheiten geachtet, die ihm jetzt hätten nützlich sein können. Schließlich sagte er sich, dass er ja nicht unbedingt nach New York müsse, wo ihn niemand erwarte und einer sogar mit Bestimmtheit nicht erwarte. Er wählte also eine beliebige Richtung und machte sich auf den Weg.

Kapitel IV: "Der Marsch nach Ramses"
In dem kleinen Wirtshaus, in das Josie nach kurzem Marsche kam, und das eigentlich nur eine kleine letzte Station des New Yorker Fuhrwerkverkehrs bildete und deshalb kaum für Nachtlager benützt zu werden pflegte, verlangte Josie die billigste Bettstelle, die zu haben war, denn er glaubte mit dem Sparen sofort anfangen zu müssen. Er wurde seiner Forderung entsprechend vom Wirt mit einem Wink, als sei er ein Angestellter, die Treppe hinauf gewiesen, wo ihn ein zerrauftes altes Frauenzimmer, ärgerlich über den gestörten Schlaf, empfing und fast ohne ihn anzuhören, mit ununterbrochenen Ermahnungen leise aufzutreten, in ein Zimmer führte, dessen Tür sie, nicht ohne ihn vorher mit einem Pst! angehaucht zu haben, schloss.
Josie wusste zuerst nicht recht, ob die Fenstervorhänge bloß herabgelassen waren oder ob vielleicht das Zimmer überhaupt keine Fenster habe, so finster war es; schließlich bemerkte er eine kleine verhängte Luke, deren Tuch er weg zog, wodurch einiges Licht hereinkam. Das Zimmer hatte zwei Betten, die aber beide schon besetzt waren. Josie sah dort zwei junge Leute, die in schwerem Schlafe dalagen und vor allem deshalb wenig vertrauenswürdig erschienen, weil sie ohne verständlichen Grund angezogen schliefen; der eine hatte sogar seine Stiefel an.
In dem Augenblick, als Josie die Luke freigelegt hatte, hob einer der Schläfer die Arme und Beine ein wenig in die Höhe, was einen derartigen Anblick bot, dass Josie trotz seiner Sorgen in sich hinein lachte.
Er sah bald ein, dass er, abgesehen davon, dass auch keine andere Schlafgelegenheit, weder Kanapee noch Sofa, vorhanden war, zu keinem Schlafe werde kommen können, denn er durfte seinen erst wiedergewonnenen Koffer und das Geld, das er bei sich trug, keiner Gefahr aussetzen. Weg gehn aber wollte er auch nicht, denn er getraute sich nicht, an der Zimmerfrau und dem Wirt vorüber das Haus wieder gleich zu verlassen. Schließlich war es ja hier doch vielleicht nicht unsicherer als auf der Landstraße. Auffallend war freilich, dass im ganzen Zimmer, so weit sich das bei dem halben Licht feststellen ließ, kein einziges Gepäckstück zu entdecken war. Aber vielleicht und höchstwahrscheinlich waren die zwei jungen Leute die Hausdiener, die der Gäste wegen bald aufstehen mussten und deshalb angezogen schliefen. Dann war es allerdings nicht besonders ehrenvoll, mit ihnen zu schlafen, aber desto ungefährlicher. Nur durfte er sich aber, solange das wenigstens nicht außer jedem Zweifel war, auf keinen Fall zum Schlafe niederlegen.
Unten vor dem einen Bett stand eine Kerze mit Zündhölzchen, die sich Josie mit schleichenden Schritten holte. Er hatte keine Bedenken, Licht zu machen, denn das Zimmer gehörte nach Auftrag des Wirtes ihm ebenso gut wie den zwei andern, die überdies den Schlaf der halben Nacht schon genossen hatten und durch den Besitz der Betten ihm gegenüber in unvergleichlichem Vorteil waren. Im Übrigen gab er sich natürlich durch Vorsicht beim Herumgehn und Hantieren alle Mühe, sie nicht zu wecken.
Zunächst wollte er seinen Koffer untersuchen, um einmal einen Überblick über seine Sachen zu bekommen, an die er sich schon nur undeutlich erinnerte und von denen sicher das Wertvollste schon verloren gegangen sein dürfte. Denn wenn der Schubal seine Hand auf etwas legt, dann ist wenig Hoffnung, dass man es unbeschädigt zurückbekommt. Allerdings hatte er vom Onkel ein großes Trinkgeld erwarten können, während er aber anderseits wieder beim Fehlen einzelner Objekte sich auf den eigentlichen Kofferwächter, den Herrn Butterbaum, hätte ausreden können.
Über den ersten Anblick beim Öffnen des Koffers war Josie entsetzt. Wie viele Stunden hatte er während der Überfahrt darauf verwendet, den Koffer zu ordnen und wieder neu zu ordnen und jetzt war alles so wild durcheinander hinein gestopft, dass der Deckel beim Öffnen des Schlosses von selbst in die Höhe sprang. Bald aber erkannte Josie zu seiner Freude, dass diese Unordnung nur darin ihren Grund hatte, dass man seinen Anzug, den er während der Fahrt getragen hatte, und für den der Koffer natürlich nicht mehr berechnet gewesen war, nachträglich mit eingepackt hatte. Nicht das geringste fehlte. In der Geheimtasche des Rockes befand sich nicht nur der Pass, sondern auch das von zu Hause mitgenommene Geld, so dass Josie, wenn er jenes, das er bei sich hatte, dazu legte, mit Geld für den Augenblick reichlich versehen war. Auch die Wäsche, die er bei seiner Ankunft auf dem Leib getragen hatte, fand sich vor, rein gewaschen und gebügelt. Er legte auch sofort Uhr und Geld in die bewährte Geheimtasche. Das einzig Bedauerliche war, dass die Veroneser Salami, die auch nicht fehlte, allen Sachen ihren Geruch mitgeteilt hatte. Wenn sich das nicht durch irgendein Mittel beseitigen ließ, hatte Josie die Aussicht, monatelang in diesen Geruch eingehüllt herum zu gehn.
Beim Hervorsuchen einiger Gegenstände, die zu unterst lagen, es waren dies eine Taschenbibel, Briefpapier und die Fotografien der Eltern, fiel ihm die Mütze vom Kopf und in den Koffer. In ihrer alten Umgebung erkannte er sie sofort, es war seine Mütze, die Mütze, die ihm die Mutter als Reisemütze mitgegeben hatte. Er hatte jedoch aus Vorsicht diese Mütze auf dem Schiff nicht getragen, da er wusste, dass man in Amerika allgemein Mützen statt Hüten trägt, weshalb er seine nicht schon vor der Ankunft hatte abnützen wollen. Nun hatte sie allerdings Herr Green dazu benützt, um sich auf Josies Kosten zu belustigen. Ob ihm dazu vielleicht der Onkel auch den Auftrag gegeben hatte? Und in einer unabsichtlichen, wütenden Bewegung fasste er den Kofferdeckel, der laut zuklappte.
Nun war keine Hilfe mehr, die beiden Schläfer waren geweckt. Zuerst streckte sich und gähnte der eine, ihm folgte gleich der andere. Dabei war fast der ganze Kofferinhalt auf dem Tisch ausgeschüttet, wenn es Diebe waren, brauchten sie nur heranzutreten und auszuwählen. Nicht nur um dieser Möglichkeit zuvorzukommen, sondern um auch sonst gleich Klarheit zu schaffen, ging Josie mit der Kerze in der Hand zu den Betten und erklärte, mit welchem Rechte er hier sei. Sie schienen diese Erklärung gar nicht erwartet zu haben, denn noch viel zu verschlafen, um reden zu können, sahen sie ihn bloß ohne jedes Erstaunen an. Sie waren beide sehr junge Leute, aber schwere Arbeit oder Not hatten ihnen vorzeitig die Knochen aus den Gesichtern vor getrieben, unordentliche Bärte hingen ihnen ums Kinn, ihr schon lange nicht geschnittenes Haar lag ihnen zerfahren auf dem Kopf und ihre tief liegenden Augen rieben und drückten sie nun noch vor Verschlafenheit mit den Fingerknöcheln.
Josie wollte ihren augenblicklichen Schwächezustand ausnützen und sagte deshalb: "Ich heiße Josie Rossmann und bin ein Deutscher. Bitte sagen Sie mir, da wir doch ein gemeinsames Zimmer haben, auch ihren Namen und ihre Nationalität. Ich erkläre nur noch gleich, dass ich keinen Anspruch auf ein Bett erhebe, da ich so spät gekommen bin und überhaupt nicht die Absicht habe zu schlafen. Außerdem müssen Sie sich nicht an meinem schönen Kleid stoßen, ich bin vollständig arm und ohne Aussichten."
Der Kleinere von beiden — es war jener, der die Stiefel an hatte — deutete mit Armen, Beinen und Mienen an, dass ihn das alles gar nicht interessiere und dass jetzt überhaupt keine Zeit für derartige Redensarten sei, legte sich nieder und schlief sofort; der andere, ein dunkelhäutiger Mann, legte sich auch wieder nieder, sagte aber noch vor dem Einschlafen, mit lässig ausgestreckter Hand: "Der da heißt Robinson und ist Irländer, ich heiße Delamarche, bin Franzose und bitte jetzt um Ruhe." Kaum hatte er das gesagt, blies er mit großem Atemaufwand Josies Kerze aus und fiel auf das Kissen zurück.
"Diese Gefahr ist also vorläufig abgewehrt", sagte sich Josie und kehrte zum Tisch zurück. Wenn ihre Schläfrigkeit nicht Vorwand war, war ja alles gut. Unangenehm war bloß, dass der eine ein Irländer war. Josie wusste nicht mehr genau, in was für einem Buch er einmal zuhause gelesen hatte, dass man sich in Amerika vor den Irländern hüten solle. Während seines Aufenthaltes beim Onkel hätte er freilich die beste Gelegenheit gehabt, der Frage nach der Gefährlichkeit der Irländer auf den Grund zu gehn, hatte dies aber, weil er sich für immer gut aufgehoben geglaubt hatte, völlig versäumt. Nun wollte er wenigstens mit der Kerze, die er wieder angezündet hatte, diesen Irländer genauer ansehn, wobei er fand, dass gerade dieser erträglicher aussah, als der Franzose. Er hatte sogar noch eine Spur von runden Wangen und lächelte im Schlaf ganz freundlich, so weit das Josie aus einiger Entfernung, auf den Fußspitzen stehend, feststellen konnte. Trotz allem fest entschlossen, nicht zu schlafen, setzte sich Josie auf den einzigen Sessel des Zimmers, verschob vorläufig das Packen des Koffers, da er ja dafür die ganze Nacht noch verwenden konnte und blätterte ein wenig in der Bibel, ohne etwas zu lesen. Dann nahm er die Fotografie der Eltern zur Hand, auf der der kleine Vater hoch aufgerichtet stand, während die Mutter in dem Fauteuil vor ihm ein wenig eingesunken dasaß. Die eine Hand hielt der Vater auf der Rückenlehne des Fauteuils, die andere zur Faust geballt, auf einem illustrierten Buch, das aufgeschlagen auf einem schwachen Schmucktischchen ihm zur Seite lag. Es gab auch eine Fotografie, auf welcher Josie mit seinen Eltern abgebildet war, Vater und Mutter sahen ihn dort scharf an, während er nach dem Auftrag des Fotografen den Apparat hatte anschauen müssen. Diese Fotografie hatte er aber auf die Reise nicht mitbekommen.
Desto genauer sah er die vor ihm liegende an und suchte von verschiedenen Seiten den Blick des Vaters aufzufangen. Aber der Vater wollte, wie er auch den Anblick durch verschiedene Kerzenstellungen änderte, nicht lebendiger werden, sein waagerechter, starker Schnurrbart sah der Wirklichkeit auch gar nicht ähnlich, es war keine gute Aufnahme. Die Mutter dagegen war schon besser abgebildet, ihr Mund war so verzogen, als sei ihr ein Leid angetan worden und als zwinge sie sich zu lächeln. Josie schien es, als müsse dies jedem, der das Bild ansah, so sehr auffallen, dass es ihm im nächsten Augenblick wieder schien, die Deutlichkeit dieses Eindrucks sei zu stark und fast widersinnig. Wie könne man von einem Bild so sehr die unumstößliche Überzeugung eines verborgenen Gefühls des Abgebildeten erhalten. Und er sah vom Bild ein Weilchen lang weg. Als er mit den Blicken wieder zurückkehrte, fiel ihm die Hand der Mutter auf, die ganz vorn an der Lehne des Fauteuils herab hing, zum Küssen nahe. Er dachte, ob es nicht vielleicht doch gut wäre, den Eltern zu schreiben, wie sie es ja tatsächlich beide und der Vater zuletzt sehr streng in Hamburg von ihm verlangt hatten. Er hatte sich freilich, damals, als ihm die Mutter am Fenster an einem schrecklichen Abend die Amerika-Reise angekündigt hatte, unabänderlich zugeschworen, niemals zu schreiben, aber was galt ein solcher Schwur eines unerfahrenen Jungen hier in den neuen Verhältnissen. Ebenso gut hätte er damals schwören können, dass er nach zwei Monaten amerikanischen Aufenthaltes General der amerikanischen Miliz sein werde, während er tatsächlich in einer Dachkammer mit zwei Lumpen beisammen war, in einem Wirtshaus vor New York und außerdem zugeben musste, dass er hier wirklich an seinem Platze war. Und lächelnd prüfte er die Gesichter der Eltern, als könne man aus ihnen erkennen, ob sie noch immer das Verlangen hatten, eine Nachricht von ihrem Sohn zu bekommen.
In diesem Anschauen merkte er bald, dass er doch sehr müde war und kaum die Nacht werde durchwachen können. Das Bild entfiel seinen Händen, dann legte er das Gesicht auf das Bild, dessen Kühle seiner Wange wohl tat und mit einem angenehmen Gefühle schlief er ein.
Geweckt wurde er früh durch ein Kitzeln unter der Achsel. Es war der Franzose, der sich diese Zudringlichkeit erlaubte. Aber auch der Irländer stand schon vor Josies Tisch und beide sahen ihn mit keinem geringem Interesse an, als es Josie in der Nacht ihnen gegenüber getan hatte. Josie wunderte sich nicht darüber, dass ihn ihr Aufstehen nicht schon geweckt hatte; sie mussten durchaus nicht aus böser Absicht besonders leise aufgetreten sein, denn er hatte tief geschlafen und außerdem hatte ihnen das Anziehen und offenbar auch das Waschen nicht viel Arbeit gemacht.
Nun begrüßten sie einander ordentlich und mit einer gewissen Förmlichkeit und Josie erfuhr, dass die zwei Maschinenschlosser waren, die in New York schon lange Zeit keine Arbeit hatten bekommen können und infolgedessen ziemlich heruntergekommen waren. Robinson öffnete zum Beweise dessen seinen Rock und man konnte sehen, dass kein Hemd da war, was man allerdings auch schon an dem lose sitzenden Kragen hätte erkennen können, der hinten am Rock befestigt war. Sie hatten die Absicht, in das zwei Tagereisen von New York entfernte Städtchen Butterford zu marschieren, wo angeblich Arbeitsstellen frei waren. Sie hatten nichts dagegen, dass Josie mitkomme und versprachen ihm erstens zeitweilig seinen Koffer zu tragen und zweitens, falls sie selbst Arbeit bekommen sollten, ihm eine Lehrlingsstelle zu verschaffen, was, wenn nur überhaupt Arbeit vorhanden sei, eine Leichtigkeit wäre. Josie hatte noch kaum zugestimmt, als sie ihm schon freundschaftlich den Rat gaben, das schöne Kleid auszuziehen, da es ihm bei jeder Bewerbung um eine Stelle hinderlich sein werde. Gerade in diesem Hause sei eine gute Gelegenheit, das Kleid los zu werden, denn die Zimmerfrau betreibe einen Kleiderhandel. Sie halfen Josie, der auch rücksichtlich des Kleides noch nicht ganz entschlossen war, aus dem Kleid heraus und trugen es davon. Als Josie, allein gelassen und noch ein wenig schlaftrunken, sein altes Reisekleid langsam anzog, machte er sich Vorwürfe, das Kleid verkauft zu haben, das ihm vielleicht bei der Bewerbung um eine Lehrlingsstelle schaden, um einen bessern Posten aber nur nützen konnte und er öffnete die Tür, um die zwei zurück zu rufen, stieß aber schon mit ihnen zusammen, die einen halben Dollar als Erlös auf den Tisch legten, dabei aber so fröhliche Gesichter machten, dass man sich unmöglich dazu überreden konnte, sie hätten bei dem Verkauf nicht auch ihren Verdienst gehabt und zwar einen ärgerlich großen.
Es war übrigens keine Zeit sich darüber auszusprechen, denn die Zimmerfrau kam herein, genau so verschlafen, wie in der Nacht, und trieb alle drei auf den Gang hinaus mit der Erklärung, dass das Zimmer für neue Gäste hergerichtet werden müsse. Davon war aber natürlich keine Rede, sie handelte nur aus Bosheit. Josie, der seinen Koffer gerade hatte ordnen wollen, musste zusehen, wie die Frau seine Sachen mit beiden Händen packte und mit einer Kraft in den Koffer warf, als seien es irgendwelche Tiere, die man zum Kuschen bringen musste. Die beiden Schlosser machten sich zwar um sie zu schaffen, zupften sie an ihrem Rock, beklopften ihren Rücken, aber wenn sie die Absicht hatten, Josie damit zu helfen, so war das ganz verfehlt. Als die Frau den Koffer zugeklappt hatte, drückte sie Josie den Halter in die Hand, schüttelte die Schlosser ab, und jagte alle drei mit der Drohung aus dem Zimmer, dass sie, wenn sie nicht folgten, keinen Kaffee bekommen würden. Die Frau musste offenbar gänzlich daran vergessen haben, dass Josie nicht von allem Anfang an zu den Schlossern gehört hatte, denn sie behandelte sie als eine einzige Bande. Allerdings hatten die Schlosser Josies Kleid ihr verkauft und damit eine gewisse Gemeinsamkeit erwiesen.
Auf dem Gange mussten sie lange hin und her gehen und besonders der Franzose, der sich in Josie eingehängt hatte, schimpfte ununterbrochen, drohte den Wirt, wenn er sich vorwagen sollte, nieder zu boxen und es schien eine Vorbereitung dazu zu sein, dass er die geballten Fäuste rasend aneinander rieb. Endlich kam ein unschuldiger kleiner Junge, der sich strecken musste, als er dem Franzosen die Kaffeekanne reichte. Leider war nur eine Kanne vorhanden und man konnte dem Jungen nicht begreiflich machen, dass noch Gläser erwünscht wären. So konnte immer nur einer trinken und die zwei andern standen vor ihm und warteten. Josie hatte keine Lust zu trinken, wollte aber die anderen nicht kränken und stand also, wenn er an der Reihe war, untätig da, die Kanne an den Lippen.
Zum Abschied warf der Irländer die Kanne auf die steinernen Fliesen hin, sie verließen von niemandem gesehen das Haus und traten in den dichten, gelblichen Morgennebel. Sie marschierten im Allgemeinen still nebeneinander am Rande der Straße, Josie musste seinen Koffer tragen, die andern würden ihn wahrscheinlich erst auf seine Bitte ablösen, hier und da schoss ein Automobil aus dem Nebel und die drei drehten ihre Köpfe nach den meist riesenhaften Wagen, die so auffällig in ihrem Bau und so kurz in ihrer Erscheinung waren, dass man nicht Zeit hatte, auch nur das Vorhandensein von Insassen zu bemerken. Später begannen die Kolonnen der Fuhrwerke, welche Lebensmittel nach New York brachten, und die in fünf die ganze Breite der Straße einnehmenden Reihen so ununterbrochen dahin zogen, dass niemand die Straße hätte überqueren können. Von Zeit zu Zeit verbreiterte sich die Straße zu einem Platz, in dessen Mitte auf einer turmartigen Erhöhung ein Polizist auf und ab schritt, um alles übersehen und mit einem Stöckchen den Verkehr auf der Hauptstraße sowie den von den Seitenstraßen hier einmündenden Verkehr ordnen zu können, der dann bis zum nächsten Platze und zum nächsten Polizisten unbeaufsichtigt blieb, aber von den schweigenden und aufmerksamen Kutschern und Chauffeuren freiwillig in genügender Ordnung gehalten wurde. Über die allgemeine Ruhe staunte Josie am meisten. Wäre nicht das Geschrei der sorglosen Schlachttiere gewesen, man hätte vielleicht nichts gehört, als das Klappern der Hufe und das Sausen der Antiderapants. Dabei war die Fahrtschnelligkeit natürlich nicht immer die gleiche. Wenn auf einzelnen Plätzen infolge allzu großen Andranges von den Seiten große Umstellungen vorgenommen werden mussten, stockten die ganzen Reihen und fuhren nur Schritt für Schritt, dann aber kam es auch wieder vor, dass für ein Weilchen alles blitzschnell vorbei jagte, bis es wie von einer einzigen Bremse regiert sich wieder besänftigte. Dabei stieg von der Straße nicht der geringste Staub auf; alles bewegte sich in der klarsten Luft. Fußgänger gab es keine, hier wanderten keine einzelnen Marktweiber zur Stadt, wie in Josies Heimat, aber doch erschienen hier und da große flache Automobile, auf denen an zwanzig Frauen mit Rückenkörben, also doch vielleicht Marktweiber, standen und die Hälse streckten, um den Verkehr zu überblicken und sich Hoffnung auf raschere Fahrt zu holen. Dann sah man ähnliche Automobile, auf denen einzelne Männer die Hände in den Hosentaschen herum spazierten. Auf einem dieser Automobile, die verschiedene Aufschriften trugen, las Josie unter einem kleinen Aufschrei "Hafenarbeiter für die Spedition Jakob aufgenommen". Der Wagen fuhr gerade ganz langsam und ein auf der Wagentreppe stehender, kleiner, gebückter, lebhafter Mann lud die drei Wanderer zum Einsteigen ein. Josie flüchtete sich hinter die Schlosser, als könne sich auf dem Wagen der Onkel befinden und ihn sehen. Er war froh, dass auch die zwei die Einladung ablehnten, wenn ihn auch der hochmütige Gesichtsausdruck gewissermaßen kränkte, mit dem sie das taten. Sie mussten durchaus nicht glauben, dass sie zu gut waren, um in die Dienste des Onkels zu treten. Er gab es ihnen, wenn auch natürlich nicht ausdrücklich, sofort zu verstehen. Darauf bat ihn Delamarche, sich gefälligst nicht in Sachen einzumischen, die er nicht verstehe, diese Art Leute aufzunehmen sei ein schändlicher Betrug und die Firma Jakob sei berüchtigt in den ganzen Vereinigten Staaten. Josie antwortete nicht, hielt sich aber von nun an mehr an den Irländer, er bat ihn auch, ihm jetzt ein wenig den Koffer zu tragen, was dieser, nachdem Josie seine Bitte mehrmals wiederholt hatte, auch tat. Nur klagte er ununterbrochen über die Schwere des Koffers, bis sich zeigte, dass er nur die Absicht hatte, den Koffer um die Veroneser Salami zu erleichtern, die ihm wohl schon im Hotel angenehm aufgefallen war. Josie musste sie auspacken, der Franzose nahm sie zu sich, um sie mit seinem dolchartigen Messer zu behandeln und fast ganz allein auf zu essen. Robinson bekam nur hier und da eine Schnitte, Josie dagegen, der wieder den Koffer tragen musste, wenn er ihn nicht auf der Landstraße stehen lassen wollte, bekam nichts, als hätte er seinen Anteil schon im Voraus sich genommen. Es schien ihm zu kleinlich, um ein Stückchen zu betteln, aber die Galle regte sich ihm.
Aller Nebel war schon verschwunden, in der Ferne erglänzte ein hohes Gebirge, das mit welligem Kamm in noch ferneren Sonnendunst führte. An der Seite der Straße lagen schlecht bebaute Felder, die sich um große Fabriken hinzogen, die dunkel angeraucht im freien Lande standen. In den wahllos hingestellten, einzelnen Mietskasernen zitterten die vielen Fenster in der mannigfaltigsten Bewegung und Beleuchtung und auf allen den kleinen, schwachen Balkonen hatten Frauen und Kinder vielerlei zu tun, während um sie herum, sie verdeckend und enthüllend, aufgehängte und hingelegte Tücher und Wäschestücke im Morgenwind flatterten und mächtig sich bauschten. Glitten die Blicke von den Häusern ab, dann sah man Lerchen hoch am Himmel fliegen und unten wieder die Schwalben nicht allzu weit über den Köpfen der Fahrenden.
Vieles erinnerte Josie an seine Heimat und er wusste nicht, ob er gut daran tue, New York zu verlassen und in das Innere des Landes zu gehen. In New York war das Meer und zu jeder Zeit die Möglichkeit der Rückkehr in die Heimat. Und so blieb er stehn und sagte zu seinen beiden Begleitern, er habe doch wieder Lust in New York zu bleiben. Und als Delamarche ihn einfach weiter treiben wollte, ließ er sich nicht treiben und sagte, dass er doch wohl noch das Recht habe, über sich zu entscheiden. Der Irländer musste erst vermitteln und erklären, dass Butterford viel schöner als New York sei und beide mussten ihn noch sehr bitten, ehe er wieder weiter ging. Und selbst dann wäre er noch nicht gegangen, wenn er sich nicht gesagt hätte, dass es für ihn vielleicht besser sei, an einen Ort zu kommen, wo die Möglichkeit der Rückkehr in die Heimat keine so leichte sei. Gewiss werde er dort besser arbeiten und vorwärts kommen, da ihn keine unnützen Gedanken hindern werden.
Und nun war er es, der die beiden andern zog und sie freuten sich so sehr über seinen Eifer, dass sie ohne sich erst bitten zu lassen, den Koffer abwechselnd trugen und Josie gar nicht recht verstand, womit er ihnen eigentlich diese große Freude verursache. Sie kamen in eine ansteigende Gegend und wenn sie hier und da stehen blieben, konnten sie beim Rückblick das Panorama New Yorks und seines Hafens immer ausgedehnter sich entwickeln sehen. Die Brücke, die New York mit Boston verbindet, hing zart über den Hudson und sie erzitterte, wenn man die Augen klein machte. Sie schien ganz ohne Verkehr zu sein und unter ihr spannte sich das unbelebte, glatte Wasserband. Alles in beiden Riesenstädten schien leer und nutzlos aufgestellt. Unter den Häusern gab es kaum einen Unterschied zwischen den großen und den kleinen. In der unsichtbaren Tiefe der Straßen ging wahrscheinlich das Leben fort nach seiner Art, aber über ihnen war nichts zu sehen, als leichter Dunst, der sich zwar nicht bewegte, aber ohne Mühe zu verjagen schien. Selbst in dem Hafen, dem größten der Welt, war Ruhe eingekehrt und nur hier und da glaubte man, wohl beeinflusst von der Erinnerung an einen früheren Anblick aus der Nähe, ein Schiff zu sehen, das eine kurze Strecke sich fort schob. Aber man konnte ihm auch nicht lange folgen, es entging den Augen und war nicht mehr zu finden.
Aber Delamarche und Robinson sahen offenbar viel mehr, sie zeigten rechts und links und überwölbten mit den ausgestreckten Händen Plätze und Gärten, die sie mit Namen benannten. Sie konnten es nicht begreifen, dass Josie über zwei Monate in New York gewesen war und kaum etwas anderes von der Stadt gesehen hatte, als eine Straße. Und sie versprachen ihm, wenn sie in Butterford genug verdient hätten, mit ihm nach New York zu gehen und ihm alles Sehenswerte zu zeigen und ganz besonders natürlich jene Örtlichkeiten, wo man sich bis zum Seligwerden unterhielt. Und Robinson begann im Anschluss daran mit vollem Mund ein Lied zu singen, das Delamarche mit Händeklatschen begleitete, das Josie als eine Operettenmelodie aus seiner Heimat erkannte, die ihm hier mit dem englischen Text viel besser gefiel, als sie ihm je zuhause gefallen hatte. So gab es eine kleine Vorstellung im Freien, an der alle Anteil nahmen, nur die Stadt unten, die sich angeblich bei dieser Melodie unterhielt, schien gar nichts davon zu wissen.
Einmal fragte Josie, wo denn die Spedition Jakob liege, und sofort sah er Delamarches und Robinsons ausgestreckte Zeigefinger, vielleicht auf den gleichen, vielleicht auf meilenweit entfernte Punkte gerichtet. Als sie dann weitergingen, fragte Josie, wann sie frühestens mit genügendem Verdienst nach New York zurückkehren könnten. Delamarche sagte, das könne schon ganz gut in einem Monat sein, denn in Butterford sei Arbeitermangel und die Löhne seien hoch. Natürlich würden sie ihr Geld in eine gemeinsame Kasse legen, damit zufällige Unterschiede im Verdienst unter ihnen als Kameraden ausgeglichen würden. Die gemeinsame Kasse gefiel Josie nicht, trotzdem er als Lehrling natürlich weniger verdienen würde, als ausgelernte Arbeiter. Überdies erwähnte Robinson, dass sie natürlich, wenn in Butterford keine Arbeit wäre, weiter wandern müssten, entweder um als Landarbeiter irgendwo unterzukommen oder vielleicht nach Kalifornien in die Goldwäschereien zu gehen, was nach Robinsons ausführlichen Erzählungen zu schließen sein liebster Plan war. "Warum sind Sie denn Schlosser geworden, wenn Sie jetzt in die Goldwäschereien wollen?" fragte Josie, der ungern von der Notwendigkeit solcher weiter, unsicherer Reisen hörte. "Warum ich Schlosser geworden bin?" sagte Robinson. "Doch gewiss nicht deshalb, damit meiner Mutter Sohn dabei verhungert. In den Goldwäschereien ist ein feiner Verdienst." "War einmal", sagte Delamarche. "Ist noch immer", sagte Robinson und erzählte von vielen dabei reich gewordenen Bekannten, die noch immer dort waren, natürlich keinen Finger mehr rührten, ihm aber aus alter Freundschaft und selbstverständlich auch seinen Kameraden zu Reichtum verhelfen würden. "Wir werden schon in Butterford Stellen erzwingen", sagte Delamarche und sprach damit Josie aus der Seele, aber eine zuversichtliche Ausdrucksweise war es nicht.
Während des Tages machten sie nur einmal in einem Wirtshaus Halt und aßen davor im Freien an einem, wie es Josie schien, eisernen Tisch fast rohes Fleisch, das man mit Messer und Gabel nicht zerschneiden, sondern nur zerreißen konnte. Das Brot hatte eine walzenartige Form und in jedem Brotlaib steckte ein langes Messer. Zu diesem Essen wurde eine schwarze Flüssigkeit gereicht, die im Halse brannte. Delamarche und Robinson schmeckte sie aber, sie erhoben oft auf die Erfüllung verschiedener Wünsche ihre Gläser und stießen miteinander an, wobei sie ein Weilchen lang in der Höhe Glas an Glas hielten. An Nebentischen saßen Arbeiter in kalkbespritzten Blusen und alle tranken die gleiche Flüssigkeit. Automobile, die in Mengen vorüber fuhren, warfen Schwaden von Staub über die Tische hin. Große Zeitungsblätter wurden herumgereicht, man sprach erregt vom Streik der Bauarbeiter, der Name Mack wurde öfters genannt, Josie erkundigte sich über ihn und erfuhr, dass dies der Vater des ihm bekannten Mack und der größte Bauunternehmer von New York war. Der Streik kostete ihn Millionen und bedrohte vielleicht seine geschäftliche Stellung. Josie glaubte kein Wort von diesem Gerede schlecht unterrichteter, Übel wollender Leute.
Verbittert wurde das Essen für Josie außerdem dadurch, dass es sehr fraglich war, wie das Essen gezahlt werden sollte. Das Natürliche wäre gewesen, dass jeder seinen Teil gezahlt hätte, aber Delamarche wie auch Robinson hatten gelegentlich bemerkt, dass für das letzte Nachtlager ihr letztes Geld aufgegangen war. Uhr, Ring oder sonst etwas Veräußerbares war an keinem zu sehen. Und Josie konnte ihnen doch nicht vorhalten, dass sie an dem Verkauf seiner Kleider etwas verdient hätten, das wäre doch Beleidigung und Abschied für immer gewesen. Das Erstaunliche aber war, dass weder Delamarche noch Robinson irgendwelche Sorgen wegen der Bezahlung hatten, vielmehr hatten sie gute Laune genug, möglichst oft Anknüpfungen mit der Kellnerin zu versuchen, die stolz und mit schwerem Gang zwischen den Tischen hin- und herging. Ihr Haar ging ihr von den Seiten ein wenig lose in Stirn und Wangen und sie strich es immer wieder zurück, indem sie mit den Händen darunter hinfuhr. Schließlich, als man vielleicht das erste freundliche Wort von ihr erwartete, trat sie zum Tisch, legte beide Hände auf ihn und fragte: "Wer zahlt?" Nie waren Hände rascher aufgeflogen, als jetzt jene von Delamarche und Robinson, die auf Josie zeigten. Josie erschrak darüber nicht, denn er hatte es ja vorausgesehen und sah nichts Schlimmes darin, dass die Kameraden, von denen er ja auch Vorteile erwartete, einige Kleinigkeiten von ihm bezahlen ließen, wenn es auch anständiger gewesen wäre, diese Sache vor dem entscheidenden Augenblick ausdrücklich zu besprechen. Peinlich war bloß, dass er das Geld erst aus der Geheimtasche herauf befördern musste. Seine ursprüngliche Absicht war es gewesen, das Geld für die letzte Not aufzuheben und sich also vorläufig mit seinen Kameraden gewissermaßen in eine Reihe zu stellen. Der Vorteil, den er durch dieses Geld und vor allem durch das Verschweigen des Besitzes gegenüber den Kameraden erlangte, wurde für diese mehr als reichlich dadurch aufgewogen, dass sie schon seit ihrer Kindheit in Amerika waren, dass sie genügende Kenntnisse und Erfahrungen für Gelderwerb hatten und dass sie schließlich an bessere Lebensverhältnisse, als ihre gegenwärtigen, nicht gewöhnt waren. Diese bisherigen Absichten, die Josie rücksichtlich seines Geldes hatte, mussten an und für sich durch diese Bezahlung nicht gestört werden, denn ein Viertelpfund konnte er schließlich entbehren und deshalb also ein Viertelpfundstück auf den Tisch legen und erklären, dies sei sein einziges Eigentum und er sei bereit, es für die gemeinsame Reise nach Butterford zu opfern. Für die Fußreise genügte auch ein solcher Betrag vollkommen. Nun aber wusste er nicht, ob er genügendes Kleingeld hatte und überdies lag dieses Geld sowie die zusammengelegten Banknoten irgendwo in der Tiefe der Geheimtasche, in der man eben am besten etwas fand, wenn man den ganzen Inhalt auf den Tisch schüttete. Außerdem war es höchst unnötig, dass die Kameraden von dieser Geheimtasche überhaupt etwas erfuhren. Nun schien es zum Glück, dass die Kameraden sich noch immer mehr für die Kellnerin interessierten, als dafür, wie Josie das Geld für die Bezahlung zusammen brächte. Delamarche lockte die Kellnerin durch die Aufforderung, die Rechnung aufzustellen, zwischen sich und Robinson und sie konnte die Zudringlichkeiten der beiden nur dadurch abwehren, dass sie einem oder dem andern die ganze Hand auf das Gesicht legte und ihn weg schob. Inzwischen sammelte Josie, heiß vor Anstrengung, unter der Tischplatte in der einen Hand das Geld, das er mit der andern Stück für Stück in der Geheimtasche herum jagte und herausholte. Endlich glaubte er, trotzdem er das amerikanische Geld noch nicht genau kannte, er hätte wenigstens der Menge der Stücke nach eine genügende Summe und legte sie auf den Tisch. Der Klang des Geldes unterbrach sofort die Scherze. Zu Josies Ärger und zu allgemeinem Erstaunen zeigte sich, dass da fast ein ganzes Pfund da lag. Keiner fragte zwar, warum Josie von dem Gelde, das für eine bequeme Eisenbahnfahrt nach Butterford gereicht hätte, früher nichts gesagt hatte, aber Josie war doch in großer Verlegenheit. Langsam strich er, nachdem das Essen bezahlt worden war, das Geld wieder ein, noch aus seiner Hand nahm Delamarche ein Geldstück, das er für die Kellnerin als Trinkgeld brauchte, die er umarmte und an sich drückte, um ihr dann von der andern Seite her das Geld zu überreichen.
Josie war ihnen auch dankbar, dass sie auf dem Weitermarsch über das Geld keine Bemerkungen machten und er dachte sogar eine Zeit lang daran, ihnen sein ganzes Vermögen einzugestehen, unterließ das aber doch, da sich keine rechte Gelegenheit fand. Gegen Abend kamen sie in eine mehr ländliche, fruchtbare Gegend. Rings herum sah man ungeteilte Felder, die sich in ihrem ersten Grün über sanfte Hügel legten; reiche Landsitze umgrenzten die Straße und stundenlang ging man zwischen den vergoldeten Gittern der Gärten, mehrmals kreuzten sie den gleichen langsam fließenden Strom und viele mal hörten sie über sich die Eisenbahnzüge auf den hoch sich schwingenden Viadukten donnern.
Eben ging die Sonne an dem geraden Rande ferner Wälder nieder, als sie sich auf einer Anhöhe inmitten einer kleinen Baumgruppe ins Gras hin warfen, um sich von den Strapazen auszuruhen. Delamarche und Robinson lagen da und streckten sich nach Kräften, Josie saß aufrecht und sah auf die paar Meter tiefer führende Straße, auf der immer wieder Automobile, wie schon während des ganzen Tages, leicht aneinander vorüber eilten, als würden sie in genauer Anzahl immer wieder von der Ferne abgeschickt und in der gleichen Anzahl in der andern Ferne erwartet. Während des ganzen Tages, seit dem frühesten Morgen, hatte Josie kein Automobil halten, keinen Passagier aussteigen gesehn.
Robinson machte den Vorschlag, die Nacht hier zu verbringen, da sie alle genug müde wären, da sie dann desto eher ausmarschieren könnten und da sie schließlich kaum ein billigeres und besser gelegenes Nachtlager vor Einbruch völliger Dunkelheit finden könnten. Delamarche war einverstanden und nur Josie glaubte zu der Bemerkung verpflichtet zu sein, dass er genug Geld habe, um das Nachtlager für alle auch in einem Hotel zu bezahlen. Delamarche sagte, sie würden das Geld noch brauchen, er solle es nur gut aufheben. Delamarche verbarg nicht im Geringsten, dass man mit Josies Gelde schon rechnete. Da sein erster Vorschlag angenommen war, erklärte nun Robinson weiter, nun müssten sie aber vor dem Schlafen, um sich für morgen zu kräftigen, etwas Tüchtiges essen und einer solle das Essen für alle aus dem Hotel holen, das in nächster Nähe an der Landstraße mit der Aufschrift "Hotel Occidental" leuchtete. Als der Jüngste und da sich auch sonst niemand meldete, zögerte Josie nicht, sich für diese Besorgung anzubieten und ging, nachdem er eine Bestellung auf Speck, Brot und Bier erhalten hatte, ins Hotel hinüber.
Es musste eine große Stadt in der Nähe sein, denn gleich der erste Saal des Hotels, den Josie betrat, war von einer lauten Menge erfüllt und an dem Buffet, das sich an einer Längswand und an den zwei Seitenwänden hinzog, liefen unaufhörlich viele Kellner mit weißen Schürzen vor der Brust und konnten doch die ungeduldigen Gäste nicht zufrieden stellen, denn immer wieder hörte man an den verschiedensten Stellen Flüche und Fäuste, die auf den Tisch schlugen. Josie wurde von niemandem beachtet; es gab auch im Saale selbst keine Bedienung, die Gäste, die an winzigen, bereits zwischen drei Tischnachbarn verschwindenden Tischen saßen, holten alles, was sie wünschten, beim Buffet. Auf allen Tischchen stand eine große Flasche mit Öl, Essig oder dergleichen und alle Speisen, die vom Büffet geholt wurden, wurden vor dem Essen aus dieser Flasche übergossen. Wollte Josie überhaupt erst zum Buffet kommen, wo ja dann wahrscheinlich, besonders bei seiner großen Bestellung, die Schwierigkeiten erst beginnen würden, musste er sich zwischen vielen Tischen durchdrängen, was natürlich bei aller Vorsicht nicht ohne grobe Belästigung der Gäste durchzuführen war, die jedoch alles wie gefühllos hinnahmen, selbst als Josie einmal allerdings gleichfalls von einem Gast gegen ein Tischchen gestoßen worden war, das er fast umgeworfen hätte. Er entschuldigte sich zwar, wurde aber offenbar nicht verstanden, verstand übrigens auch nicht das Geringste von dem, was man ihm zurief.
Beim Buffet fand er mit Mühe ein kleines, freies Plätzchen, auf dem ihm eine lange Weile die Aussicht durch die aufgestützten Ellbogen seiner Nachbarn genommen war. Es schien hier überhaupt eine Sitte, die Ellbogen aufzustützen und die Faust an die Schläfe zu drücken; Josie musste daran denken, wie der Lateinprofessor Dr. Krumpal gerade diese Haltung gehasst hatte und wie er immer heimlich und unversehens herangekommen war und mittels eines plötzlich erscheinenden Lineals mit schmerzhaftem Ruck die Ellbogen von den Tischen gestreift hatte.
Josie stand eng ans Büffet gedrängt, denn kaum hatte er sich angestellt, war hinter ihm ein Tisch aufgestellt worden, und der eine der dort sich niederlassenden Gäste streifte schon, wenn er sich nur ein wenig beim Reden zurück bog, mit seinem großen Hut Josies Rücken. Und dabei war so wenig Hoffnung, vom Kellner etwas zu bekommen, selbst als die beiden plumpen Nachbarn befriedigt weggegangen waren. Einige Mal hatte Josie einen Kellner über den Tisch hin bei der Schürze gefasst, aber immer hatte sich der mit verzerrtem Gesicht losgerissen. Keiner war zu halten, sie liefen nur und liefen nur. Wenn wenigstens in der Nähe Josies etwas Passendes zum Essen und Trinken gewesen wäre, er hätte es genommen, sich nach dem Preis erkundigt, das Geld hingelegt und wäre mit Freude weg gegangen. Aber gerade vor ihm lagen nur Schüsseln mit heringsartigen Fischen, deren schwarze Schuppen am Rande goldig glänzten. Die konnten sehr teuer sein und würden wahrscheinlich niemanden sättigen. Außerdem waren kleine Fässchen mit Rum erreichbar, aber Rum wollte er seinen Kameraden nicht bringen, sie schienen schon sowieso bei jeder Gelegenheit nur auf den konzentriertesten Alkohol auszugehn und darin wollte er sie nicht noch unterstützen.
Es blieb also Josie nichts übrig, als einen andern Platz zu suchen und mit seinen Bemühungen von vorne anzufangen. Nun war aber auch schon die Zeit sehr vorgerückt. Die Uhr am andern Ende des Saales, deren Zeiger man beim scharfen Hinsehen durch den Rauch gerade noch erkennen konnte, zeigte schon neun vorüber. Anderswo am Buffet war aber das Gedränge noch größer, als an dem früheren, ein wenig abgelegenen Platz. Außerdem füllte sich der Saal desto mehr, je später es wurde. Immer wieder zogen durch die Haupttüre mit großem Hallo neue Gäste ein. An manchen Stellen räumten Gäste selbstherrlich das Buffet ab, setzten sich aufs Pult und tranken einander zu; es waren die besten Plätze, man übersah den ganzen Saal.
Josie drängte sich zwar noch weiter durch, aber eine eigentliche Hoffnung, etwas zu erreichen, hatte er nicht mehr. Er machte sich Vorwürfe darüber, dass er, der die hiesigen Verhältnisse nicht kannte, sich zu dieser Besorgung angeboten hatte. Seine Kameraden würden ihn mit vollem Recht auszanken und gar noch denken, dass er, nur um Geld zu sparen, nichts mitgebracht hatte. Nun stand er gar in einer Gegend, wo ringsherum an den Tischen warme Fleischspeisen mit schönen, gelben Kartoffeln gegessen wurden, es war ihm unbegreiflich, wie sich das die Leute verschafft hatten.
Da sah er paar Schritte vor sich eine ältere, offenbar zum Hotelpersonal gehörige Frau, die lachend mit einem Gast redete. Dabei arbeitete sie fortwährend mit einer Haarnadel in ihrer Frisur herum. Sofort war Josie entschlossen, seine Bestellung bei dieser Frau vorzubringen, schon weil sie ihm als die einzige Frau im Saal eine Ausnahme vom allgemeinen Lärm und Jagen bedeutete und dann auch aus dem einfachen Grunde, weil sie die einzige Hotelangestellte war, die man erreichen konnte, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht beim ersten Wort, das er an sie richten würde, in Geschäften fortlief. Aber ganz das Gegenteil trat ein. Josie hatte sie noch gar nicht angeredet, sondern nur ein wenig belauert, als sie, wie man eben manchmal mitten im Gespräch beiseite schaut, zu Josie hinsah und ihn, ihre Rede unterbrechend, freundlich und in einem Englisch klar wie die Grammatik fragte, ob er etwas suche. "Allerdings", sagte Josie, "ich kann hier gar nichts bekommen." "Dann kommen Sie mit mir, Kleiner", sagte sie, verabschiedete sich von ihrem Bekannten, der seinen Hut abnahm, was hier wie unglaubliche Höflichkeit erschien, fasste Josie bei der Hand, ging zum Buffet, schob einen Gast beiseite, öffnete eine Klapptür im Pult, durchquerte mit Josie den Gang hinter dem Pult, wo man sich vor den unermüdlich laufenden Kellnern in Acht nehmen musste, öffnete eine zweifache Tapetentüre, und schon befanden sie sich in großen, kühlen Vorratskammern. "Man muss eben den Mechanismus kennen", sagte sich Josie. "Also was wollen Sie denn?" fragte sie und beugte sich dienstbereit zu ihm herab. Sie war sehr dick, ihr Leib schaukelte sich, aber ihr Gesicht hatte eine, natürlich im Verhältnis, fast zarte Bildung. Josie war versucht, im Anblick der vielen Esswaren, die hier sorgfältig in Regalen und auf Tischen aufgeschichtet lagen, für seine Bestellung rasch ein feineres Nachtessen auszudenken, besonders da er erwarten konnte, von dieser einflussreichen Frau billig bedient zu werden, schließlich aber nannte er doch wieder, da ihm nichts Passendes einfiel, nur Speck, Brot und Bier. "Nichts weiter?" fragte die Frau. "Nein danke", sagte Josie, "aber für drei Personen." Auf die Frage der Frau nach den zwei andern, erzählte Josie in paar kurzen Worten von seinen Kameraden, es machte ihm Freude, ein wenig ausgefragt zu werden.
"Aber das ist ja ein Essen für Sträflinge", sagte die Frau und erwartete nun offenbar weitere Wünsche Josies. Dieser aber fürchtete nun, sie werde ihn beschenken und kein Geld annehmen wollen und schwieg deshalb. "Das werden wir gleich zusammengestellt haben", sagte die Frau, ging mit einer bei ihrer Dicke bewunderungswerten Beweglichkeit zu einem Tisch hin, schnitt mit einem langen dünnen, sägeblattartigen Messer ein großes Stück mit viel Fleisch durchwachsenen Specks ab, nahm aus einem Regal ein Laib Brot, hob vom Boden drei Flaschen Bier auf und legte alles in einen leichten Strohkorb, den sie Josie reichte. Zwischendurch erklärte sie Josie, sie habe ihn deshalb hierher geführt, weil die Esswaren draußen im Buffet im Rauch und in den vielen Ausdünstungen trotz des schnellen Verbrauches immer die Frische verlieren. Für die Leute draußen sei aber alles gut genug. Josie sagte nun gar nichts mehr, denn er wusste nicht, wodurch er diese auszeichnende Behandlung verdiene. Er dachte an seine Kameraden, die vielleicht, so gute Kenner Amerikas sie auch waren, doch nicht bis in diese Vorratskammern gedrungen wären und sich mit den verdorbenen Esswaren auf dem Büffet hätten begnügen müssen. Man hörte hier keinen Laut aus dem Saal, die Mauern mussten sehr dick sein, um diese Gewölbe genügend kühl zu erhalten. Josie hatte schon den Strohkorb ein Weilchen lang in der Hand, dachte aber nicht an Zahlen und rührte sich auch nicht. Nur als die Frau noch nachträglich eine Flasche, ähnlich denen, die draußen auf den Tischen standen, in den Korb legen wollte, dankte er schaudernd.
"Haben Sie noch einen weiten Marsch?" fragte die Frau. "Bis nach Butterford", antwortete Josie. "Das ist noch sehr weit", sagte die Frau. "Noch eine Tagereise", sagte Josie. "Nicht weiter?" fragte die Frau. "Oh nein", sagte Josie.
Die Frau rückte einige Sachen auf den Tischen zurecht, ein Kellner kam herein, schaute suchend herum, wurde dann von der Frau auf eine große Schüssel hingewiesen, in der ein breiter, mit ein wenig Petersilie bestreuter Haufen von Sardinen lag, und trug dann diese Schüssel in den erhobenen Händen in den Saal hinaus.
"Warum wollen Sie denn eigentlich im Freien übernachten?" fragte die Frau. "Wir haben hier genug Platz. Schlafen Sie bei uns im Hotel." Das war für Josie sehr verlockend, besonders da er die vorige Nacht so schlecht verbracht hatte. "Ich habe mein Gepäck draußen", sagte er zögernd und nicht ganz ohne Eitelkeit. "Das bringen Sie nur her", sagte die Frau, "das ist kein Hindernis." "Aber meine Kameraden!" sagte Josie und merkte sofort, dass die allerdings ein Hindernis waren. "Die dürfen natürlich auch hier übernachten", sagte die Frau. "Kommen Sie nur! Lassen Sie sich nicht so bitten." "Meine Kameraden sind im Übrigen brave Leute", sagte Josie, "aber sie sind nicht rein." "Haben Sie denn den Schmutz im Saal nicht gesehen?" fragte die Frau und verzog das Gesicht. "Zu uns kann wirklich der Ärgste kommen. Ich werde also gleich drei Betten vorbereiten lassen. Allerdings nur auf dem Dachboden, denn das Hotel ist vollbesetzt, ich bin auch auf den Dachboden übersiedelt, aber besser als im Freien ist es jedenfalls." "Ich kann meine Kameraden nicht mitbringen", sagte Josie. Er stellte sich vor, was für einen Lärm die zwei auf den Gängen dieses feinen Hotels machen wurden, und Robinson würde alles verunreinigen und Delamarche unfehlbar selbst diese Frau belästigen. "Ich weiß nicht, warum das unmöglich sein soll", sagte die Frau, "aber wenn Sie es so wollen, dann lassen Sie eben Ihre Kameraden draußen und kommen allein zu uns." "Das geht nicht, das geht nicht", sagte Josie, "es sind meine Kameraden und ich muss bei ihnen bleiben." "Sie sind starrköpfig", sagte die Frau und sah von ihm weg, "man meint es gut mit ihnen, möchte ihnen gern behilflich sein und Sie wehren sich mit allen Kräften." Josie sah das alles ein, aber er wusste keinen Ausweg, so sagte er nur noch: "Meinen besten Dank für Ihre Freundlichkeit", dann erinnerte er sich daran, dass er noch nicht gezahlt hatte, und fragte nach dem schuldigen Betrag. "Zahlen Sie das erst, bis Sie mir den Strohkorb zurückbringen", sagte die Frau. "Spätestens morgen früh muss ich ihn haben." "Bitte", sagte Josie. Sie öffnete eine Türe, die geradewegs ins Freie führte und sagte noch, während er mit einer Verbeugung hinaustrat: "Gute Nacht. Sie handeln aber nicht recht." Er war schon ein paar Schritte weit, da rief sie ihm noch nach: "Auf Wiedersehn, morgen!" Kaum war er draußen, hörte er auch schon wieder aus dem Saal den ungeschwächten Lärm, in den sich jetzt auch Klänge eines Blasorchesters mischten. Er war froh, dass er nicht durch den Saal hatte herausgehen müssen. Das Hotel war jetzt in allen seinen fünf Stockwerken beleuchtet und machte die Straße davor in ihrer ganzen Breite hell. Noch immer fuhren draußen, wenn auch schon in unterbrochener Folge, Automobile, rascher aus der Ferne her anwachsend als bei Tag, tasteten mit den weißen Strahlen ihrer Laternen den Boden der Straße ab, kreuzten mit erblassenden Lichtern die Lichtzone des Hotels und eilten aufleuchtend in das weitere Dunkel.
Die Kameraden fand Josie schon in tiefem Schlaf, er war aber auch zu lange ausgeblieben. Gerade wollte er das Mitgebrachte appetitlich auf Papieren ausbreiten, die er im Korbe vorfand, um erst wenn alles fertig wäre, die Kameraden zu wecken, als er zu seinem Schrecken seinen Koffer, den er abgesperrt zurückgelassen hatte und dessen Schlüssel er in der Tasche trug, vollständig geöffnet sah, während der halbe Inhalt ringsherum im Gras verstreut war. "Steht auf!" rief er. "Ihr schlaft und inzwischen waren Diebe da." "Fehlt denn etwas?" fragte Delamarche. Robinson war noch nicht ganz wach und griff schon nach dem Bier. "Ich weiß nicht", rief Josie, "aber der Koffer ist offen. Das ist doch eine Unvorsichtigkeit, sich schlafen zu legen und den Koffer hier frei stehen zu lassen." Delamarche und Robinson lachten und der erstere sagte: "Sie dürfen eben nächstens nicht so lange fortbleiben. Das Hotel ist zehn Schritte entfernt und Sie brauchen zum Hin- und Herweg drei Stunden. Wir haben Hunger gehabt, haben gedacht, dass Sie in ihrem Koffer etwas zum Essen haben könnten und haben das Schloss solange gekitzelt, bis es sich aufgemacht hat. Im Übrigen war ja gar nichts drin und Sie können alles wieder ruhig einpacken." "So", sagte Josie, starrte in den rasch sich leerenden Korb und horchte auf das eigentümliche Geräusch, das Robinson beim Trinken hervorbrachte, da ihm die Flüssigkeit zuerst weit in die Gurgel eindrang, dann aber mit einer Art Pfeifen wieder zurück schnellte, um erst dann in großem Erguss in die Tiefe zu rollen. "Haben Sie schon zu Ende gegessen?" fragte er, als sich die beiden einen Augenblick verschnauften. "Haben Sie denn nicht schon im Hotel gegessen?" fragte Delamarche, der glaubte, Josie beanspruche seinen Anteil. "Wenn Sie noch essen wollen, dann beeilen Sie sich", sagte Josie und ging zu seinem Koffer. "Der scheint Launen zu haben", sagte Delamarche zu Robinson. "Ich habe keine Launen", sagte Josie, "aber ist es vielleicht recht, in meiner Abwesenheit meinen Koffer aufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen. Ich weiß, man muss unter Kameraden manches dulden, und ich habe mich auch darauf vorbereitet, aber das ist zu viel. Ich werde im Hotel übernachten und gehe nicht nach Butterford. Essen Sie rasch auf, ich muss den Korb zurückgeben." "Siehst du, Robinson, so spricht man", sagte Delamarche, "das ist die feine Redeweise. Er ist eben ein Deutscher. Du hast mich früh vor ihm gewarnt, aber ich bin ein guter Narr gewesen und habe ihn doch mitgenommen. Wir haben ihm unser Vertrauen geschenkt, haben ihn einen ganzen Tag mit uns geschleppt, haben dadurch zumindest einen halben Tag verloren und jetzt — weil ihn dort im Hotel irgendjemand gelockt hat — verabschiedet er sich, verabschiedet sich einfach. Aber weil er ein falscher Deutscher ist, tut er dies nicht offen, sondern sucht sich den Vorwand mit dem Koffer und weil er ein grober Deutscher ist, kann er nicht weggehen, ohne uns in unserer Ehre zu beleidigen und uns Diebe zu nennen, weil wir mit seinem Koffer einen kleinen Scherz gemacht haben." Josie, der seine Sachen packte, sagte ohne sich umzuwenden: "Reden Sie nur so weiter und erleichtern Sie mir das Weggehn. Ich weiß ganz gut, was Kameradschaft ist. Ich habe in Europa auch Freunde gehabt und keiner kann mir vorwerfen, dass ich mich falsch oder gemein gegen ihn benommen hätte. Wir sind jetzt natürlich außer Verbindung, aber wenn ich noch einmal nach Europa zurückkommen sollte, werden mich alle gut aufnehmen und mich sofort als ihren Freund anerkennen. Und Sie, Delamarche, und Sie, Robinson, Sie hätte ich verraten sollen, da Sie doch, was ich niemals vertuschen werde, so freundlich waren, sich meiner anzunehmen und mir eine Lehrlingsstelle in Butterford in Aussicht zu stellen. Aber es ist etwas anderes. Sie haben nichts und das erniedrigt Sie in meinen Augen nicht im Geringsten, aber Sie missgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchen mich deshalb zu demütigen, das kann ich nicht aushalten. Und nun, nachdem Sie meinen Koffer aufgebrochen haben, entschuldigen Sie sich mit keinem Wort, sondern beschimpfen mich noch und beschimpfen weiter mein Volk — damit nehmen Sie mir aber auch jede Möglichkeit, bei Ihnen zu bleiben. Übrigens gilt das alles nicht eigentlich Ihnen, Robinson. Gegen ihren Charakter habe ich nur einzuwenden, dass Sie von Delamarche zu sehr abhängig sind." "Da sehen wir ja", sagte Delamarche, indem er zu Josie trat und ihm einen leichten Stoß gab, wie um ihn aufmerksam zu machen, "da sehen wir ja, wie Sie sich entpuppen. Den ganzen Tag sind Sie hinter mir gegangen, haben sich an meinem Rock gehalten, haben mir jede Bewegung nachgemacht und waren sonst still wie ein Mäuschen. Jetzt aber, da Sie im Hotel irgendeinen Rückhalt spüren, fangen Sie große Reden zu halten an. Sie sind ein kleiner Schlaumeier und ich weiß noch gar nicht, ob wir das so ruhig hinnehmen werden. Ob wir nicht das Lehrgeld für das verlangen werden, was Sie uns während des Tages abgeschaut haben. Du Robinson, wir beneiden ihn — meint er — um seinen Besitz. Ein Tag Arbeit in Butterford — von Kalifornien gar nicht zu reden — und wir haben zehnmal mehr, als Sie uns gezeigt haben und als Sie in ihrem Rockfutter noch versteckt haben mögen. Also nur immer Achtung aufs Maul!" Josie hatte sich vom Koffer erhoben und sah nun auch den verschlafenen, aber vom Bier ein wenig belebten Robinson herankommen. "Wenn ich noch lange hier bliebe", sagte er, "könnte ich vielleicht noch weitere Überraschungen erleben. Sie scheinen Lust zu haben, mich durch zu prügeln." "Alle Geduld hat ein Ende", sagte Robinson. "Sie schweigen besser, Robinson", sagte Josie, ohne Delamarche aus den Augen zu lassen, "im Innern geben Sie mir ja doch recht, aber nach außen müssen Sie es mit Delamarche halten." "Wollen Sie ihn vielleicht bestechen?" fragte Delamarche. "Fällt mir nicht ein", sagte Josie. "Ich bin froh, dass ich fortgehe und ich will mit keinem von Ihnen mehr etwas zu tun haben. Nur eines will ich noch sagen, Sie haben mir den Vorwurf gemacht, dass ich Geld besitze und es vor ihnen versteckt habe. Angenommen, dass es wahr ist, war es nicht sehr richtig, Leuten gegenüber gehandelt, die ich erst paar Stunden kannte und bestätigen Sie nicht noch durch ihr jetziges Benehmen die Richtigkeit einer derartigen Handlungsweise?" "Bleib ruhig", sagte Delamarche zu Robinson, trotzdem sich dieser nicht rührte. Dann fragte er Josie: "Da Sie so unverschämt aufrichtig sind, so treiben Sie doch, da wir ja so gemütlich beisammen stehen, diese Aufrichtigkeit noch weiter und gestehen Sie ein, warum Sie eigentlich ins Hotel wollen." Josie musste einen Schritt über den Koffer hinweg machen, so nahe war Delamarche an ihn herangetreten. Aber Delamarche ließ sich dadurch nicht beirren, schob den Koffer beiseite, machte einen Schritt vorwärts, wobei er den Fuß auf ein weißes Vorhemd setzte, das im Gras liegen geblieben war und wiederholte seine Frage.
Wie zur Antwort stieg von der Straße her ein Mann mit einer stark leuchtenden Taschenlampe zu der Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel. Kaum hatte er Josie erblickt, sagte er: "Ich suche Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle Böschungen auf beiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau Oberköchin lässt Ihnen nämlich sagen, dass sie den Strohkorb, den sie Ihnen geborgt hat, dringend braucht." "Hier ist er", sagte Josie, mit einer vor Aufregung unsichern Stimme. Delamarche und Robinson waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseite getreten, wie sie es vor fremden, gut gestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahm den Korb an sich und sagte: "Dann lässt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie es sich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotel übernachten wollten. Auch die beiden andern Herren wären willkommen, wenn Sie sie mitnehmen wollen. Die Betten sind schon vorbereitet. Die Nacht ist ja heute warm, aber hier auf der Lehne ist es durchaus nicht ungefährlich zu schlafen, man findet öfters Schlangen." "Da die Frau Oberköchin so freundlich ist, werde ich ihre Einladung doch annehmen", sagte Josie und wartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. Aber Robinson stand stumpf da und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute zu den Sternen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, dass Josie sie ohne weiteres mitnehmen werde. "Für diesen Fall", sagte der Kellner, "habe ich den Auftrag, Sie ins Hotel zu führen und ihr Gepäck zu tragen." "Dann warten Sie bitte noch einen Augenblick", sagte Josie und bückte sich, um die paar Sachen, die noch herum lagen, in den Koffer zu legen.
Plötzlich richtete er sich auf. Die Fotografie fehlte, sie hatte ganz oben im Koffer gelegen und war nirgends zu finden. Alles war vollständig, nur die Fotografie fehlte. "Ich kann die Fotografie nicht finden", sagte er bittend zu Delamarche. "Was für eine Fotografie?" fragte dieser. "Die Fotografie meiner Eltern", sagte Josie. "Wir haben keine Fotografie gesehen", sagte Delamarche. "Es war keine Fotografie drin, Herr Rossmann", bestätigte auch Robinson von seiner Seite. "Aber das ist doch unmöglich", sagte Josie und seine Hilfe suchenden Blicke zogen den Kellner näher. "Sie lag obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie doch lieber den Spaß mit dem Koffer nicht gemacht hätten." "Jeder Irrtum ist ausgeschlossen", sagte Delamarche, "in dem Koffer war keine Fotografie." "Sie war mir wichtiger, als alles, was ich sonst im Koffer habe", sagte Josie zum Kellner, der herum ging und im Grase suchte. "Sie ist nämlich unersetzlich, ich bekomme keine zweite." Und als der Kellner von dem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er noch: "Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß." Daraufhin sagte der Kellner laut, ohne jede Beschönigung: "Vielleicht könnten wir noch die Taschen der Herren untersuchen." "Ja", sagte Josie sofort, "ich muss die Fotografie finden. Aber ehe ich die Taschen durchsuche, sage ich noch, dass, wer mir die Fotografie freiwillig gibt, den ganzen gefüllten Koffer bekommt." Nach einem Augenblick allgemeiner Stille sagte Josie zum Kellner: "Meine Kameraden wollen also offenbar die Taschendurchsuchung. Aber selbst jetzt verspreche ich sogar demjenigen, in dessen Tasche die Fotografie gefunden wird, den ganzen Koffer. Mehr kann ich nicht tun." Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarche zu untersuchen, der ihm schwieriger zu behandeln schien, als Robinson, den er Josie überließ. Er machte Josie darauf aufmerksam, dass beide gleichzeitig untersucht werden müssten, da sonst einer unbeobachtet die Fotografie beiseite schaffen könnte. Gleich beim ersten Griff fand Josie in Robinsons Tasche eine ihm gehörige Krawatte, aber er nahm sie nicht an sich und rief dem Kellner zu: "Was Sie bei Delamarche auch finden mögen, lassen Sie ihm bitte alles. Ich will nichts als die Fotografie, nur die Fotografie." Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Josie mit der Hand an die heiße, fettige Brust Robinsons und da kam es ihm zu Bewusstsein, dass er an seinen Kameraden vielleicht ein großes Unrecht begehe. Er beeilte sich nun nach Möglichkeit. Im Übrigen war alles umsonst, weder bei Robinson noch bei Delamarche fand sich die Fotografie vor.
"Es hilft nichts", sagte der Kellner. "Sie haben wahrscheinlich die Fotografie zerrissen und die Stücke weggeworfen", sagte Josie, "ich dachte, sie wären meine Freunde, aber im Geheimen wollten sie mir nur schaden. Nicht eigentlich Robinson, der wäre gar nicht auf den Einfall gekommen, dass die Fotografie solchen Wert für mich hat, aber desto mehr Delamarche." Josie sah nur den Kellner vor sich, dessen Laterne einen kleinen Kreis beleuchtete, während alles sonst, auch Delamarche und Robinson, in tiefem Dunkel war.
Es war natürlich gar nicht mehr die Rede davon, dass die beiden in das Hotel mitgenommen werden könnten. Der Kellner schwang den Koffer auf die Achsel, Josie nahm den Strohkorb und sie gingen. Josie war schon auf der Straße, als er im Nachdenken sich unterbrechend stehen blieb und in das Dunkel hinauf rief: "Hören Sie einmal! Sollte doch einer von Ihnen die Fotografie noch haben und mir ins Hotel bringen wollen — er bekommt den Koffer noch immer und wird — ich schwöre es — nicht angezeigt." Es kam keine eigentliche Antwort herunter, nur ein abgerissenes Wort war zu hören, der Beginn eines Zurufes Robinsons, dem aber offenbar Delamarche sofort den Mund stopfte. Noch eine lange Weile wartete Josie, ob man sich oben nicht doch noch anders entscheiden würde. Zweimal rief er in Abständen: "Ich bin noch immer da." Aber kein Laut antwortete, nur einmal rollte ein Stein den Abhang herab, vielleicht durch Zufall, vielleicht in einem verfehlten Wurf.

Kapitel V: Im Hotel Occidental
Im Hotel wurde Josie gleich in eine Art Büro geführt, in welchem die Oberköchin, ein Vormerkbuch in der Hand, einer jungen Schreibmaschinistin einen Brief in die Schreibmaschine diktierte. Das äußerst präzise Diktieren, der beherrschte und elastische Tastenschlag jagten an dem nur hier und da merklichen Ticken der Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf Uhr zeigte. "So!" sagte die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu, die Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte den Holzdeckel über die Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Josie zu lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war sehr sorgfältig gebügelt, auf den Achseln z.B. gewellt, die Frisur recht hoch und man staunte ein wenig, wenn man nach diesen Einzelheiten ihr ernstes Gesicht sah. Nach Verbeugungen zuerst gegen die Oberköchin, dann gegen Josie entfernte sie sich und Josie sah unwillkürlich die Oberköchin mit einem fragenden Blicke an.
"Das ist aber schön, dass Sie nun doch gekommen sind", sagte die Oberköchin. "Und ihre Kameraden?" "Ich habe sie nicht mitgenommen", sagte Josie. "Die marschieren wohl sehr früh aus", sagte die Oberköchin, wie um sich die Sache zu erklären. "Muss sie denn nicht denken, dass ich auch mit marschiere?" fragte sich Josie und sagte deshalb, um jeden Zweifel auszuschließen: "Wir sind in Unfrieden auseinander gegangen." Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht aufzufassen. "Dann sind Sie also frei?" fragte sie. "Ja, frei bin ich", sagte Josie und nichts schien ihm wertloser.
"Hören Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?" fragte die Oberköchin. "Sehr gern", sagte Josie, "ich habe aber entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann z.B. nicht einmal auf der Schreibmaschine schreiben." "Das ist nicht das wichtigste", sagte die Oberköchin. "Sie bekämen eben vorläufig nur eine ganz kleine Anstellung und müssten dann zusehen, durch Fleiß und Aufmerksamkeit sich hinauf zu bringen. Jedenfalls aber glaube ich, dass es für Sie besser und passender wäre, sich irgendwo festzusetzen, statt so durch die Welt zu bummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht gemacht."
"Das würde alles auch der Onkel unterschreiben", sagte sich Josie und nickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, dass er, um den man so besorgt war, sich noch gar nicht vorgestellt hatte. "Entschuldigen Sie bitte", sagte er, "dass ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, ich heiße Josie Rossmann." "Sie sind ein Deutscher, nicht wahr?" "Ja", sagte Josie, "ich bin noch nicht lange in Amerika. "Von wo sind Sie denn?" "Aus Prag, in Böhmen", sagte Josie. "Sehn Sie einmal an", rief die Oberköchin, in einem stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, "dann sind wir ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur einmal!" "Wann ist das gewesen?" fragte Josie. "Das ist schon viele, viele Jahre her." "Die alte Goldene Gans", sagte Josie, "ist vor zwei Jahren niedergerissen worden." "Ja, freilich", sagte die Oberköchin, ganz in Gedanken an vergangene Zeiten.
Mit einem Male aber wieder lebhaft werdend, rief sie und fasste dabei Josies Hände: "Jetzt, da es sich herausgestellt hat, dass Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten Sie z.B. Lust Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur Ja und Sie sind es. Wenn Sie ein bisschen herum gekommen sind, werden Sie wissen, dass es nicht besonders leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste Anfang, den man sich denken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen, man sieht Sie immer, man gibt ihnen kleine Aufträge, kurz, Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Für alles Übrige lassen Sie mich sorgen!" "Liftjunge möchte ich ganz gerne sein", sagte Josie nach einer kleinen Pause. Es wäre ein großer Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf seine fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grund gewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen. Übrigens hatten die Liftjungen Josie immer gefallen, sie waren ihm wie der Schmuck der Hotels vorgekommen. "Sind nicht Sprachkenntnisse erforderlich?" fragte er noch. "Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen." "Englisch habe ich erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt", sagte Josie, er glaubte, seinen einzigen Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. "Das spricht schon genügend für Sie", sagte die Oberköchin. "Wenn ich daran denke, welche Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon gesprochen. Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag." Und sie suchte lächelnd den Eindruck von Josies Mienen abzulesen, den die Würde dieses Alters auf ihn machte. "Dann wünsche ich Ihnen viel Glück", sagte Josie. "Das kann man immer brauchen", sagte sie, schüttelte Josie die Hand und wurde wieder halb traurig, über diese alte Redensart aus der Heimat, die ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.
"Aber ich halte Sie hier auf", rief sie dann. "Und Sie sind gewiss sehr müde und wir können auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude einen Landsmann getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie, ich werde Sie in ihr Zimmer führen." "Ich habe noch eine Bitte, Frau Oberköchin", sagte Josie im Anblick des Telefonkastens, der auf einem Tische stand. "Es ist möglich, dass mir morgen, vielleicht sehr früh, meine früheren Kameraden eine Fotographie bringen, die ich dringend brauche. Wären Sie so freundlich und würden Sie dem Portier telefonieren, er möchte die Leute zu mir schicken oder mich holen lassen." "Gewiss", sagte die Oberköchin, "aber würde es nicht genügen, wenn er ihnen die Fotografie abnimmt? Was ist es denn für eine Fotografie, wenn man fragen darf?" "Es ist die Fotographie meiner Eltern", sagte Josie, "nein, ich muss mit den Leuten selbst sprechen." Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab telefonisch in die Portiersloge den entsprechenden Befehl, wobei sie 536 als Zimmernummer Josies nannte.
Sie gingen dann durch eine der Eingangstüre entgegengesetzte Tür auf einen kleinen Gang hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein kleiner Liftjunge schlafend lehnte. "Wir können uns selbst bedienen", sagte die Oberköchin leise und ließ Josie in den Aufzug eintreten. "Eine Arbeitszeit von zehn bis zwölf Stunden ist eben ein wenig zu viel für einen solchen Jungen", sagte sie dann, während sie aufwärts fuhren. "Aber es ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieser kleine Junge z.B., er ist auch erst vor einem halben Jahr mit seinen Eltern hier angekommen, er ist ein Italiener. Jetzt sieht es aus, als könne er die Arbeit unmöglich aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein, trotzdem er von Natur sehr bereitwillig ist — aber er muss nur noch ein halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält alles mit Leichtigkeit aus und in fünf Jahren wird er ein starker Mann sein. Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Dabei denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein kräftiger Junge. Sie sind siebzehn Jahre alt, nicht?" "Ich werde nächsten Monat siebzehn", antwortete Josie. "Sogar erst sechzehn!" sagte die Oberköchin. "Also nur Mut!"
Oben führte sie Josie in ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine schiefe Wand hatte, im Übrigen aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glühlampen sich sehr wohnlich zeigte. "Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung", sagte die Oberköchin, "es ist nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer meiner Wohnung, die aber aus drei Zimmern besteht, so dass Sie mich nicht im Geringsten stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so dass Sie ganz ungeniert bleiben. Morgen als neuer Hotelangestellter werden Sie natürlich ihr eigenes Zimmerchen bekommen. Wären Sie mit ihren Kameraden gekommen, dann hätte ich Ihnen in der gemeinsamen Schlafkammer der Hausdiener aufbetten lassen, aber da Sie allein sind, denke ich, dass es Ihnen hier besser passen wird, wenn Sie auch nur auf einem Sofa schlafen müssen. Und nun schlafen Sie wohl, damit Sie sich für den Dienst kräftigen. Er wird morgen noch nicht zu streng sein." "Ich danke Ihnen vielmals für ihre Freundlichkeit." "Warten Sie", sagte sie beim Ausgang stehen bleibend, "da wären Sie aber bald geweckt worden." Und sie ging zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte und rief: "Therese!" "Bitte, Frau Oberköchin", meldete sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin. "Wenn du mich früh wecken gehst, so musst du über den Gang gehen, hier im Zimmer schläft ein Gast. Er ist todmüde." Sie lächelte Josie zu, während sie das sagte. "Hast du verstanden?" "Ja, Frau Oberköchin." "Also dann gute Nacht!" "Gute Nacht wünsch ich."
"Ich schlafe nämlich", sagte die Oberköchin zur Erklärung, "seit einigen Jahren ungemein schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein und brauche eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meiner früheren Sorgen sein, die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei Uhr früh einschlafe, kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens um halb sechs wieder auf dem Platze sein muss, muss ich mich wecken lassen und zwar besonders vorsichtig, damit ich nicht noch nervöser werde, als ich schon bin. Und da weckt mich eben die Therese. Aber jetzt wissen Sie wirklich schon alles und ich komme gar nicht weg. Gute Nacht!" Und trotz ihrer Schwere huschte sie fast aus dem Zimmer.
Josie freute sich auf den Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen. Und behaglichere Umgebung konnte er für einen langen, ungestörten Schlaf gar nicht wünschen. Das Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein Wohnzimmer oder richtiger ein Repräsentationszimmer der Oberköchin und ein Waschtisch war ihm zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht, aber dennoch fühlte sich Josie nicht als Eindringling, sondern nur desto besser versorgt. Sein Koffer war richtig hergestellt und wohl schon lange nicht in größerer Sicherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern, über den eine großmaschige wollene Decke gezogen war, standen verschiedene Fotografien in Rahmen und unter Glas, bei der Besichtigung des Zimmers blieb Josie dort stehn und sah sie an. Es waren meist alte Fotografien und stellten in der Mehrzahl Mädchen dar, die in unmodernen, unbehaglichen Kleidern, mit locker aufgesetzten, kleinen aber hochgehenden Hüten, die rechte Hand auf einen Schirm gestützt, dem Beschauer zugewendet waren und doch mit den Blicken auswichen. Unter den Herrenbildnissen fiel Josie besonders das Bild eines jungen Soldaten auf, der das Käppi auf ein Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden schwarzen Haar dastand und voll von einem stolzen, aber unterdrückten Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Fotografie nachträglich vergoldet worden. Alle diese Fotografien stammten wohl noch aus Europa, man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen können, aber Josie wollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diese Fotografien hier standen, so hatte er auch die Fotografie seiner Eltern in seinem künftigen Zimmer aufstellen mögen.
Gerade streckte er sich nach einer gründlichen Waschung des ganzen Körpers, die er seiner Nachbarin wegen möglichst leise durchzuführen sich bemüht hatte, im Vorgenuss des Schlafes auf seinem Kanapee, da glaubte er ein schwaches Klopfen an einer Türe zu hören. Man konnte nicht gleich feststellen, an welcher Tür es war, es konnte auch bloß ein zufälliges Geräusch sein. Es wiederholte sich auch nicht gleich und Josie schlief schon fast, als es wieder erfolgte. Aber nun war kein Zweifel mehr, dass es ein Klopfen war und von der Tür der Schreibmaschinistin herkam. Josie lief auf den Fußspitzen zur Tür hin und fragte so leise, dass es, wenn man trotz allem nebenan doch schlief, niemanden hätte wecken können: "Wünschen Sie etwas?" Sofort und ebenso leise kam die Antwort: "Möchten Sie nicht die Tür öffnen? Der Schlüssel steckt auf ihrer Seite." "Bitte", sagte Josie, "ich muss mich nur zuerst anziehen." Es gab eine kleine Pause, dann hieß es: "Das ist nicht nötig. Machen Sie auf und legen Sie sich ins Bett, ich werde ein wenig warten." "Gut", sagte Josie und führte es auch so aus, nur drehte er außerdem noch das elektrische Licht auf. "Ich liege schon", sagte er dann etwas lauter. Da trat auch schon aus ihrem dunklen Zimmer die kleine Schreibmaschinistin, genau so angezogen wie unten im Büro; sie hatte wohl die ganze Zeit über nicht daran gedacht, schlafen zu gehen.
"Entschuldigen Sie vielmals", sagte sie und stand ein wenig gebückt vor Josies Lager, "und verraten Sie mich bitte nicht. Ich will Sie auch nicht lange stören, ich weiß, dass Sie todmüde sind." "Es ist nicht so arg", sagte Josie, "aber es wäre vielleicht doch besser gewesen, ich hätte mich angezogen." Er musste ausgestreckt daliegen, um bis an den Hals zugedeckt sein zu können, denn er besaß kein Nachthemd. "Ich bleibe ja nur einen Augenblick", sagte sie und griff nach einem Sessel, "kann ich mich zum Kanapee setzen?" Josie nickte. Da setzte sie sich so eng zum Kanapee, dass Josie an die Mauer rücken musste, um zu ihr aufschauen zu können. Sie hatte ein rundes, gleichmäßiges Gesicht, nur die Stirn war ungewöhnlich hoch, aber das konnte auch vielleicht nur an der Frisur liegen, die ihr nicht recht passte. Ihr Anzug war sehr rein und sorgfältig. In der linken Hand quetschte sie ein Taschentuch.
"Werden Sie lange hier bleiben?" fragte sie. "Es ist noch nicht ganz bestimmt", antwortete Josie, "aber ich denke, ich werde bleiben." "Das wäre nämlich sehr gut", sagte sie und fuhr mit dem Taschentuch über ihr Gesicht, "ich bin hier nämlich so allein." "Das wundert mich", sagte Josie, "die Frau Oberköchin ist doch sehr freundlich zu Ihnen. Sie behandelt Sie gar nicht wie eine Angestellte. Ich dachte schon, Sie wären verwandt." "Oh nein", sagte sie, "ich heiße Therese Berchtold, ich bin aus Pommern." Auch Josie stellte sich vor. Daraufhin sah sie ihn zum ersten Mal voll an, als sei er ihr durch die Namensnennung ein wenig fremder geworden. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte sie: "Sie dürfen nicht glauben, dass ich undankbar bin. Ohne die Frau Oberköchin stünde es ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchen hier im Hotel und schon in großer Gefahr entlassen zu werden, denn ich konnte die schwere Arbeit nicht leisten. Man stellt hier sehr große Ansprüche. Vor einem Monat ist ein Küchenmädchen nur vor Überanstrengung ohnmächtig geworden und vierzehn Tage im Krankenhaus gelegen. Und ich bin nicht sehr stark, ich habe früher viel zu leiden gehabt und bin dadurch in der Entwicklung ein wenig zurückgeblieben, Sie würden wohl gar nicht sagen, dass ich schon achtzehn Jahre alt bin. Aber jetzt werde ich schon stärker." "Der Dienst hier muss wirklich sehr anstrengend sein", sagte Josie. "Unten habe ich jetzt einen Liftjungen stehend schlafen gesehen." "Dabei haben es die Liftjungen noch am besten", sagte sie, "die verdienen ihr schönes Geld an Trinkgeldern und müssen sich schließlich doch bei weitem nicht so plagen, wie die Leute in der Küche. Aber da habe ich wirklich einmal Glück gehabt, die Frau Oberköchin hat einmal ein Mädchen gebraucht, um die Servietten für ein Bankett herzurichten, hat sie uns Küchenmädchen herunter geschickt, es gibt hier an fünfzig solcher Mädchen, ich war gerade bei der Hand und habe sie sehr zufrieden gestellt, denn im Aufbauen der Servietten habe ich mich immer ausgekannt. Und so hat sie mich von da an in ihrer Nähe behalten und allmählich zu ihrer Sekretärin ausgebildet. Dabei habe ich sehr viel gelernt." "Gibt es denn da so viel zu schreiben?" fragte Josie. "Ach, sehr viel", antwortete sie, "das können Sie sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Sie haben doch gesehen, dass ich heute bis halb zwölf gearbeitet habe und heute ist kein besonderer Tag. Allerdings schreibe ich nicht immerfort, sondern habe auch viele Besorgungen in der Stadt zu machen." "Wie heißt denn die Stadt?" fragte Josie. "Das wissen Sie nicht?" sagte sie: "Ramses." "Ist es eine große Stadt?" fragte Josie. "Sehr groß", antwortete sie, "ich gehe nicht gern hin. Aber wollen Sie nicht wirklich schon schlafen?" "Nein, nein", sagte Josie, "ich weiß ja noch gar nicht, warum Sie hereingekommen sind." "Weil ich mit niemandem reden kann. Ich bin nicht wehleidig, aber wenn wirklich niemand für einen da ist, so ist man schon glücklich, schließlich von jemandem angehört zu werden. Ich habe Sie schon unten im Saal gesehen, ich kam gerade um die Frau Oberköchin zu holen, als sie Sie in die Speisekammern wegführte." "Das ist ein schrecklicher Saal", sagte Josie. "Ich merke es schon gar nicht mehr", antwortete sie. "Aber ich wollte nur sagen, dass ja die Frau Oberköchin so freundlich zu mir ist, wie es nur meine selige Mutter war. Aber es ist doch ein zu großer Unterschied in unserer Stellung, als dass ich frei mit ihr reden könnte. Unter den Küchenmädchen habe ich früher gute Freundinnen gehabt, aber die sind schon längst nicht mehr hier und die neuen Mädchen kenne ich kaum. Schließlich kommt es mir manchmal vor, dass mich meine jetzige Arbeit mehr anstrengt, als die frühere, dass ich sie aber nicht einmal so gut verrichte, wie die und dass mich die Frau Oberköchin nur aus Mitleid in meiner Stellung hält. Schließlich muss man ja wirklich eine bessere Schulbildung gehabt haben, um Sekretärin zu werden. Es ist eine Sünde, das zu sagen, aber oft und oft fürchte ich, wahnsinnig zu werden. Um Gotteswillen", sagte sie plötzlich viel schneller und griff flüchtig nach Josies Schulter, da er die Hände unter der Decke hielt, "Sie dürfen aber der Frau Oberköchin kein Wort davon sagen, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich ihr jetzt außer den Umständen, die ich ihr durch meine Arbeit mache, auch noch Leid bereiten sollte, das wäre wirklich das Höchste." "Es ist selbstverständlich, dass ich ihr nichts sagen werde", antwortete Josie. "Dann ist es gut", sagte sie, "und bleiben Sie hier. Ich wäre froh, wenn Sie hier blieben und wir könnten, wenn es ihnen recht ist, zusammenhalten. Gleich wie ich Sie zum ersten Mal gesehn habe, habe ich Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und trotzdem — denken Sie, so schlecht bin ich — habe ich auch Angst gehabt, die Frau Oberköchin könnte Sie an meiner Stelle zum Sekretär machen und mich entlassen. Erst wie ich da lange allein gesessen bin, während Sie unten im Büro waren, habe ich mir die Sache so zurechtgelegt, dass es sogar sehr gut wäre, wenn Sie meine Arbeiten übernehmen würden, denn die würden Sie sicher besser verstehn. Wenn Sie die Besorgungen in der Stadt nicht machen wollten, könnte ich ja diese Arbeit behalten. Sonst aber wäre ich in der Küche gewiss viel nützlicher, besonders da ich auch schon etwas stärker geworden bin." "Die Sache ist schon geordnet", sagte Josie, "ich werde Liftjunge und Sie bleiben Sekretärin. Wenn Sie aber der Frau Oberköchin nur die geringste Andeutung von ihren Plänen machen, verrate ich auch das Übrige, was Sie mir heute gesagt haben, so leid es mir tun würde." Diese Tonart erregte Therese so sehr, dass sie sich beim Bett niederwarf und wimmernd das Gesicht ins Bettzeug drückte. "Ich verrate ja nichts", sagte Josie, "aber Sie dürfen auch nichts sagen." Nun konnte er nicht mehr ganz unter seiner Decke versteckt bleiben, streichelte ein wenig ihren Arm, fand nichts Rechtes, was er ihr sagen könne und dachte nur, dass hier ein bitteres Leben sei. Endlich beruhigte sie sich wenigstens so weit, dass sie sich ihres Weinens schämte, sah Josie dankbar an, redete ihm zu, morgen lange zu schlafen und versprach, wenn sie Zeit fände, gegen acht Uhr herauf zu kommen und ihn zu wecken. "Sie wecken ja so geschickt", sagte Josie. "Ja, einiges kann ich", sagte sie, fuhr mit der Hand zum Abschied sanft über seine Decke hin und lief in ihr Zimmer.
Am nächsten Tage bestand Josie darauf, gleich seinen Dienst anzutreten, trotzdem ihm die Oberköchin diesen Tag für die Besichtigung von Ramses freigeben wollte. Aber Josie erklärte offen, dafür werde sich noch Gelegenheit finden, jetzt sei es für ihn das Wichtigste, mit der Arbeit anzufangen, denn eine auf ein anderes Ziel gerichtete Arbeit habe er schon in Europa nutzlos abgebrochen und fange als Liftjunge in einem Alter an, in dem wenigstens die tüchtigen Jungen nahe daran seien, in natürlicher Folge eine höhere Arbeit zu übernehmen. Es sei ganz richtig, dass er als Liftjunge anfange, aber ebenso richtig sei, dass er sich besonders beeilen müsse. Bei diesen Umständen würde ihm die Besichtigung der Stadt gar kein Vergnügen machen. Nicht einmal zu einem kurzen Weg, zu dem ihn Therese aufforderte, konnte er sich entschließen. Immer schwebte ihm der Gedanke daran vor Augen, es könne schließlich mit ihm, wenn er nicht fleißig sei, so weit kommen wie mit Delamarche und Robinson.
Beim Hotelschneider wurde ihm die Liftjungenuniform anprobiert, die äußerlich sehr prächtig mit Goldknöpfen und Goldschnüren ausgestattet war, bei deren Anziehen es Josie aber doch ein wenig schauderte, denn besonders unter den Achseln war das Röckchen kalt, hart und dabei unaustrockbar nass von dem Schweiß der Liftjungen, die es vor ihm getragen hatten. Die Uniform musste auch vor allem über der Brust eigens für Josie erweitert werden, denn keine der zehn vorliegenden wollte auch nur beiläufig passen. Trotz dieser Näharbeit, die hier notwendig war und trotzdem der Meister sehr peinlich schien — zweimal flog die bereits abgelieferte Uniform aus seiner Hand in die Werkstatt zurück — war alles in kaum fünf Minuten erledigt und Josie verließ das Atelier schon als Liftjunge mit anliegenden Hosen und einem trotz der bestimmten, gegenteiligen Zusicherung des Meisters sehr beengenden Jäckchen, das immer wieder zu Atemübungen verlockte, da man sehen wollte, ob das Atmen noch immer möglich war.
Dann meldete er sich bei jenem Oberkellner, unter dessen Befehl er stehen sollte, einem schlanken, schönen Mann mit großer Nase, der wohl schon in den vierziger Jahren stehen konnte. Er hatte keine Zeit, sich auch nur auf das geringste Gespräch einzulassen und läutete bloß einen Liftjungen herbei, zufällig gerade jenen, den Josie gestern gesehen hatte. Der Oberkellner nannte ihn nur bei seinem Taufnamen Giacomo, was Josie erst später erfuhr, denn in der englischen Aussprache war der Name nicht zu erkennen. Dieser Junge bekam nun den Auftrag, Josie das für den Liftdienst Notwendige zu zeigen, aber er war so scheu und eilig, dass Josie von ihm, so wenig auch im Grunde zu zeigen war, kaum dieses Wenige erfahren konnte. Sicher war Giacomo auch deshalb verärgert, weil er den Liftdienst offenbar Josies halber verlassen musste und den Zimmermädchen zur Hilfeleistung zugeteilt war, was ihm nach bestimmten Erfahrungen, die er aber verschwieg, entehrend vorkam. Enttäuscht war Josie vor allem dadurch, dass ein Liftjunge mit der Maschinerie des Aufzugs nur insoferne etwas zu tun hatte, als er ihn durch einen einfachen Druck auf den Knopf in Bewegung setzte, während für Reparaturen am Triebwerk derartig ausschließlich die Maschinisten des Hotels verwendet wurden, dass z.B. Giacomo trotz halbjährigen Dienstes beim Lift weder das Triebwerk im Keller, noch die Maschinerie im Innern des Aufzugs mit eigenen Augen gesehen hatte, trotzdem ihn dies, wie er ausdrücklich sagte, sehr gefreut hätte. Überhaupt war es ein einförmiger Dienst und wegen der zwölfstündigen Arbeitszeit, abwechselnd bei Tag und Nacht, so anstrengend, dass er nach Giacomos Angaben überhaupt nicht auszuhalten war, wenn man nicht minutenweise im Stehen schlafen konnte. Josie sagte hierzu nichts, aber er begriff wohl, dass gerade diese Kunst Giacomo die Stelle gekostet hatte.
Sehr willkommen war es Josie, dass der Aufzug, den er zu besorgen hatte, nur für die obersten Stockwerke bestimmt war, weshalb er es nicht mit den anspruchsvollsten reichen Leuten zu tun haben würde. Allerdings konnte man hier auch nicht so viel lernen wie anderswo und es war nur für den Anfang gut.
Schon nach der ersten Woche sah Josie ein, dass er dem Dienst vollständig gewachsen war. Das Messing seines Aufzugs war am besten geputzt, keiner der dreißig anderen Aufzüge konnte sich darin vergleichen und es wäre vielleicht noch leuchtender gewesen, wenn der Junge, der bei dem gleichen Aufzug diente, auch nur annähernd so fleißig gewesen wäre und sich nicht in seiner Lässigkeit durch Josies Fleiß unterstützt gefühlt hätte. Es war ein geborener Amerikaner, namens Renell, ein eitler Junge mit dunklen Augen und glatten, etwas gehöhlten Wangen. Er hatte einen eleganten Privatanzug, in dem er an dienstfreien Abenden leicht parfümiert in die Stadt eilte; hier und da bat er auch Josie, ihn abends zu vertreten, da er in Familienangelegenheiten weggehen müsse und es kümmerte ihn wenig, dass sein Aussehen allen solchen Ausreden widersprach. Trotzdem konnte ihn Josie gut leiden und hatte es gern, wenn Renell an solchen Abenden vor dem Ausgehen in seinem Privatanzug unten beim Lift vor ihm stehen blieb, sich noch ein wenig entschuldigte, während er die Handschuhe über die Finger zog und dann durch den Korridor abging. Im Übrigen wollte ihm Josie mit diesen Vertretungen nur eine Gefälligkeit machen, wie sie ihm gegenüber einem älteren Kollegen am Anfang selbstverständlich schien, eine dauernde Einrichtung sollte es nicht werden. Denn ermüdend genug war dieses ewige Fahren im Lift allerdings und gar in den Abendstunden hatte es fast keine Unterbrechung.
Bald lernte Josie auch, die kurzen, tiefen Verbeugungen machen, die man von den Liftjungen verlangte und das Trinkgeld fing er im Fluge ab. Es verschwand in seiner Westentasche und niemand hätte nach seinen Mienen sagen können, ob es groß oder klein war. Vor Damen öffnete er die Tür mit einer kleinen Beigabe von Galanterie und schwang sich in den Aufzug langsam hinter ihnen, die in Sorge um ihre Röcke, Hüte und Behänge zögernder als Männer einzutreten pflegten. Während der Fahrt stand er, weil dies das unauffälligste war, knapp bei der Tür mit dem Rücken zu seinen Fahrgästen und hielt den Griff der Aufzugtüre, um sie im Augenblick der Ankunft plötzlich und doch nicht etwa erschreckend seitwärts weg zu stoßen. Selten nur klopfte ihm einer während der Fahrt auf die Schulter, um irgendeine kleine Auskunft zu bekommen, dann drehte er sich eilig um, als habe er es erwartet und gab mit lauter Stimme Antwort. Oft gab es trotz der vielen Aufzüge, besonders nach Schluss der Theater oder nach Ankunft bestimmter Expresszüge, ein solches Gedränge, dass er, kaum dass die Gäste oben entlassen waren, wieder hinunterrasen musste, um die dort Wartenden aufzunehmen. Er hatte auch die Möglichkeit, durch Ziehen an einem durch den Aufzugskasten hindurchgehenden Drahtseil, die gewöhnliche Schnelligkeit zu steigern, allerdings war dies durch die Aufzugsordnung verboten und sollte auch gefährlich sein. Josie tat es auch niemals, wenn er mit Passagieren fuhr, aber wenn er sie oben abgesetzt hatte und unten andere warteten, dann kannte er keine Rücksicht, und arbeitete an dem Seil mit starken, taktmäßigen Griffen, wie ein Matrose. Er wusste übrigens, dass dies die andern Liftjungen auch taten und er wollte seine Passagiere nicht an andere Jungen verlieren. Einzelne Gäste, die längere Zeit im Hotel wohnten, was hier übrigens ziemlich gebräuchlich war, zeigten hier und da durch ein Lächeln, dass sie Josie als ihren Liftjungen erkannten. Josie nahm diese Freundlichkeit mit ernstem Gesichte aber gerne an. Manchmal, wenn der Verkehr etwas schwächer war, konnte er auch besondere kleine Aufträge annehmen, z.B. einem Hotelgast, der sich nicht erst in sein Zimmer bemühen wollte, eine im Zimmer vergessene Kleinigkeit zu holen, dann flog er in seinem in solchen Augenblicken ihm besonders vertrauten Aufzug allein hinauf, trat in das fremde Zimmer, wo meistens sonderbare Dinge, die er nie gesehen hatte, herum lagen oder auf den Kleiderrechen hingen, fühlte den charakteristischen Geruch einer fremden Seife, eines Parfüms, eines Mundwassers und eilte, ohne sich im geringsten aufzuhalten, mit dem meist trotz undeutlicher Angaben gefundenen Gegenstand wieder zurück. Oft bedauerte er, größere Aufträge nicht übernehmen zu können, da hierfür eigene Diener und Botenjungen bestimmt waren, die ihre Wege auf Fahrrädern, ja sogar Motorrädern besorgten, nur zu Botengängen aus den Zimmern in die Speise- oder Spielsäle konnte sich Josie bei günstiger Gelegenheit verwenden lassen.
Wenn er nach der zwölfstündigen Arbeitszeit drei Tage um sechs Uhr abends, die nächsten drei Tage um sechs Uhr früh aus der Arbeit kam, war er so müde, dass er geradewegs, ohne sich um jemanden zu kümmern, in sein Bett ging. Es lag im gemeinsamen Schlafsaal der Liftjungen, die Frau Oberköchin, deren Einfluss vielleicht doch nicht so groß war, wie er am ersten Abend geglaubt hatte, hatte sich zwar bemüht, ihm ein eigenes Zimmerchen zu verschaffen, und es wäre ihr wohl auch gelungen, aber da Josie sah, welche Schwierigkeiten es machte und wie die Oberköchin öfters mit seinem Vorgesetzten, jenem so beschäftigten Oberkellner, wegen dieser Sache telefonierte, verzichtete er darauf und überzeugte die Oberköchin von dem Ernst seines Verzichtes, mit dem Hinweis darauf, dass er von den andern Jungen wegen eines nicht eigentlich selbst erarbeiteten Vorzugs nicht beneidet werden wolle.
Ein ruhiges Schlafzimmer war dieser Schlafsaal allerdings nicht. Denn da jeder Einzelne die freie Zeit von zwölf Stunden verschiedenartig auf Essen, Schlaf, Vergnügen und Nebenverdienst verteilte, war im Schlafsaal immerfort die größte Bewegung. Da schliefen einige und zogen die Decken über die Ohren, um nichts zu hören; wurde doch einer geweckt, dann schrie er so wütend über das Geschrei der andern, dass auch die übrigen noch so guten Schläfer nicht standhalten konnten. Fast jeder Junge hatte seine Pfeife, es wurde damit eine Art Luxus getrieben, auch Josie hatte sich eine angeschafft und fand bald Geschmack an ihr. Nun durfte aber im Dienst nicht geraucht werden, die Folge dessen war, dass im Schlafsaal jeder, solange er nicht unbedingt schlief, auch rauchte. Infolge dessen stand jedes Bett in einer eigenen Rauchwolke und alles in einem allgemeinen Dunst. Es war unmöglich durchzusetzen, trotzdem eigentlich die Mehrzahl grundsätzlich zustimmte, dass in der Nacht nur an einem Ende des Saales das Licht brennen sollte. Wäre dieser Vorschlag durchgedrungen, dann hätten diejenigen, welche schlafen wollten, dies im Dunkel der einen Saalhälfte — es war ein großer Saal mit vierzig Betten — ruhig tun können, während die andern im beleuchteten Teil Würfel oder Karten hätten spielen und alles Übrige besorgen können, wozu Licht nötig war. Hätte einer, dessen Bett in der beleuchteten Saalhälfte stand, schlafen gehen wollen, so hätte er sich in eines der freien Betten im Dunkel legen können, denn es standen immer genug Betten frei, und niemand wendete gegen eine derartige vorübergehende Benützung seines Bettes durch einen Andern etwas ein. Aber es gab keine Nacht, in der diese Einteilung befolgt worden wäre. Immer wieder fanden sich z.B. zwei, welche, nachdem sie das Dunkel zu etwas Schlaf ausgenützt hatten, Lust bekamen, in ihren Betten auf einem zwischen sie gelegten Brett Karten zu spielen und natürlich drehten sie eine passende elektrische Lampe auf, deren stechendes Licht die Schlafenden, wenn sie ihm zugewendet waren, auffahren ließ. Man wälzte sich zwar noch ein wenig herum, fand aber schließlich auch nichts Besseres zu tun, als mit dem gleichfalls geweckten Nachbar auch ein Spiel bei neuer Beleuchtung vorzunehmen. Und wieder dampften natürlich auch alle Pfeifen. Es gab allerdings auch einige, die um jeden Preis schlafen wollten — Josie gehörte meist zu ihnen — und die statt den Kopf aufs Kissen zu legen, ihn mit dem Kissen bedeckten oder hinein einwickelten, aber wie wollte man im Schlaf bleiben, wenn der nächste Nachbar in tiefer Nacht aufstand, um vor dem Dienst noch ein wenig in der Stadt dem Vergnügen nachzugehn, wenn er, in dem am Kopfende des eigenen Bettes angebrachten Waschbecken, laut und Wasser sprühend sich wusch, wenn er die Stiefel nicht nur polternd anzog, sondern stampfend sich besser in sie hineintreten wollte — fast alle hatten trotz amerikanischer Stiefelform zu enge Stiefel — um dann schließlich, da ihm eine Kleinigkeit in seiner Ausstattung fehlte, das Kissen des Schlafenden zu heben, unter dem man allerdings schon längst geweckt, nur darauf wartete, auf ihn los zu fahren. Nun waren aber auch alle Sportsleute und junge, meist kräftige Burschen, die keine Gelegenheit zu sportlichen Übungen versäumen wollten. Und man konnte sicher sein, wenn man in der Nacht, mitten aus dem Schlaf durch großen Lärm geweckt, aufsprang, auf dem Boden neben seinem Bett zwei Ringkämpfer zu finden, und bei greller Beleuchtung auf allen Betten in der Runde aufrecht stehende Sachverständige in Hemd und Unterhosen. Einmal fiel anlässlich eines solchen nächtlichen Boxkampfes einer der Kämpfer über den schlafenden Josie und das erste, was Josie beim Öffnen der Augen erblickte, war das Blut, das dem Jungen aus der Nase rann, und ehe man noch etwas dagegen unternehmen konnte, das ganze Bettzeug überfloss. Oft verbrachte Josie fast die ganzen zwölf Stunden mit Versuchen, einige Stunden Schlaf zu gewinnen, trotzdem es ihn auch sehr lockte, an den Unterhaltungen der anderen teilzunehmen; aber immer wieder schien es ihm, dass alle andern in ihrem Leben einen Vorsprung vor ihm hätten, den er durch fleißigere Arbeit und ein wenig Verzichtsleistung ausgleichen müsse. Trotzdem ihm also, hauptsächlich seiner Arbeit wegen am Schlaf sehr gelegen war, beklagte er sich doch weder gegenüber der Oberköchin noch gegenüber Therese über die Verhältnisse im Schlafsaal, denn erstens trugen im Ganzen und Großen alle Jungen schwer daran, ohne sich ernstlich zu beklagen, und zweitens war die Plage im Schlafsaal ein notwendiger Teil seiner Aufgabe als Liftjunge, die er ja aus den Händen der Oberköchin dankbar übernommen hatte.
Einmal in der Woche hatte er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden frei, die er zum Teil dazu verwendete, bei der Oberköchin ein, zwei Besuche zu machen und mit Therese, deren kärgliche, freie Zeit er abpasste, irgendwo in einem Winkel, auf einem Korridor und selten nur in ihrem Zimmer einige flüchtige Reden auszutauschen. Manchmal begleitete er sie auch auf ihren Besorgungen in der Stadt, die alle höchst eilig ausgeführt werden mussten. Dann liefen sie fast, Josie mit ihrer Tasche in der Hand, zur nächsten Station der Untergrundbahn, die Fahrt verging im Nu; als werde der Zug ohne jeden Widerstand nur hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen, klapperten statt auf den Aufzug zu warten, der ihnen zu langsam war, die Stufen hinauf; die großen Plätze, von denen sternförmig die Straßen auseinander flogen, erschienen und brachten ein Getümmel in den von allen Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Josie und Therese eilten, eng beisammen, in die verschiedenen Büros, Waschanstalten, Lagerhäuser und Geschäfte, in denen telefonisch nicht leicht zu besorgende, im Übrigen nicht besonders verantwortliche Bestellungen oder Beschwerden auszurichten waren. Therese merkte bald, dass Josies Hilfe hierbei nicht zu verachten war, dass sie vielmehr in vieles eine große Beschleunigung brachte. Niemals musste sie in seiner Begleitung, wie sonst oft, darauf warten, dass die überbeschäftigten Geschäftsleute sie anhörten. Er trat an das Pult und klopfte auf es solange mit den Knöcheln, bis es half, er rief über Menschenmauern sein noch immer etwas überspitztes, aus hundert Stimmen leicht heraus zu hörendes Englisch hin, er ging auf die Leute ohne Zögern zu und mochten sie sich hochmütig in die Tiefe der längsten Geschäftssäle zurückgezogen haben. Er tat es nicht aus Übermut und würdigte jeden Widerstand, aber er fühlte sich in einer sichern Stellung, die ihm Rechte gab, das Hotel Occidental war eine Kundschaft, deren man nicht spotten durfte und schließlich war Therese, trotz ihrer geschäftlichen Erfahrung, hilfsbedürftig genug. "Sie sollten immer mitkommen", sagte sie manchmal glücklich lachend, wenn sie von einer besonders gut ausgeführten Unternehmung kamen.
Nur dreimal während der anderthalb Monate, die Josie in Ramses blieb, war er längere Zeit über ein paar Stunden in Thereses Zimmerchen. Es war natürlich kleiner als irgendein Zimmer der Oberköchin, die paar Dinge, welche darin standen, waren gewissermaßen nur um das Fenster gelagert, aber Josie verstand schon nach seinen Erfahrungen aus dem Schlafsaal den Wert eines eigenen, verhältnismäßig ruhigen Zimmers, und wenn er es auch nicht ausdrücklich sagte, so merkte Therese doch, wie ihm ihr Zimmer gefiel. Sie hatte keine Geheimnisse vor ihm und es wäre auch nicht gut möglich gewesen, nach ihrem Besuch damals am ersten Abend noch Geheimnisse vor ihm zu haben. Sie war ein uneheliches Kind, ihr Vater war Baupolier und hatte die Mutter und das Kind aus Pommern sich nachkommen lassen, aber als hätte er damit seine Pflicht erfüllt oder als hätte er andere Menschen erwartet, als die abgearbeitete Frau und das schwache Kind, die er an der Landungsstelle in Empfang nahm, war er bald nach ihrer Ankunft ohne viel Erklärungen nach Kanada ausgewandert und die Zurückgebliebenen hatten weder einen Brief noch eine sonstige Nachricht von ihm erhalten, was zum Teil auch nicht zu verwundern war, denn sie waren in den Massenquartieren des New Yorker Ostens unauffindbar verloren.
Einmal erzählte Therese — Josie stand neben ihr beim Fenster und sah auf die Straße — vom Tode ihrer Mutter. Wie die Mutter und sie an einem Winterabend — sie konnte damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein — jede mit ihrem Bündel durch die Straßen eilten, um Schlafstellen zu suchen. Wie die Mutter sie zuerst bei der Hand führte, es war ein Schneesturm und nicht leicht vorwärts zu kommen, bis die Hand erlahmte und sie Therese, ohne sich nach ihr umzusehen, losließ, die sich nun Mühe geben musste, sich selbst an den Röcken der Mutter festzuhalten. Oft stolperte Therese und fiel sogar, aber die Mutter war wie in einem Wahn und hielt nicht an. Und diese Schneestürme in den langen, geraden New Yorker Straßen! Josie hatte noch keinen Winter in New York mitgemacht. Geht man gegen den Wind und der dreht sich im Kreise, kann man keinen Augenblick die Augen öffnen, immerfort zerreibt einem der Wind den Schnee auf dem Gesicht, man läuft, aber kommt nicht weiter, es ist etwas Verzweifeltes. Ein Kind ist dabei natürlich gegen Erwachsene im Vorteil, es läuft unter dem Wind durch und hat noch ein wenig Freude an allem. So hatte auch damals Therese ihre Mutter nicht ganz begreifen können und sie war fest davon überzeugt, dass, wenn sie sich an jenem Abend klüger — sie war eben noch ein so kleines Kind — zu ihrer Mutter verhalten hätte, diese nicht einen so jammervollen Tod hätte erleiden müssen. Die Mutter war damals schon zwei Tage ohne Arbeit gewesen, nicht das kleinste Geldstück war mehr vorhanden, der Tag war ohne einen Bissen im Freien verbracht worden und in ihren Bündeln schleppten sie nur unbrauchbare Fetzen mit sich herum, die sie vielleicht aus Aberglauben sich nicht weg zu werfen getrauten. Nun war der Mutter für den nächsten Morgen Arbeit bei einem Bau in Aussicht gestellt worden, aber sie fürchtete, wie sie Therese den ganzen Tag über zu erklären suchte, die günstige Gelegenheit nicht ausnützen zu können, denn sie fühlte sich todmüde, hatte schon am Morgen zum Schrecken der Passanten auf der Gasse viel Blut gehustet und ihre einzige Sehnsucht war, irgendwo in die Wärme zu kommen und sich auszuruhen. Und gerade an diesem Abend war es unmöglich, ein Plätzchen zu bekommen. Dort, wo sie nicht schon vom Hausbesorger aus dem Torgang gewiesen wurden, in dem man sich immerhin vom Wetter ein wenig hätte erholen können, durcheilten sie die engen, eisigen Korridore, durchstiegen die hohen Stockwerke, umkreisten die schmalen Terrassen der Höfe, klopften wahllos an Türen, wagten einmal niemanden anzusprechen, baten dann jeden, der ihnen entgegenkam, und einmal oder zweimal hockte die Mutter atemlos auf der Stufe einer stillen Treppe nieder, riss Therese, die sich fast wehrte, an sich und küsste sie mit schmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn man nachher weiß, dass das die letzten Küsse waren, begreift man nicht, dass man und mag man ein kleiner Wurm gewesen sein, so blind sein konnte, das nicht einzusehn. In manchen Zimmern, an denen sie vorüber kamen, waren die Türen geöffnet, um eine erstickende Luft heraus zu lassen, und aus dem rauchigen Dunst, der wie durch einen Brand verursacht die Zimmer erfüllte, trat nur die Gestalt irgendjemandes hervor, der im Türrahmen stand und entweder durch seine stumme Gegenwart oder durch ein kurzes Wort die Unmöglichkeit eines Unterkommens in dem betreffenden Zimmer bewies. Therese schien es jetzt im Rückblick, dass die Mutter nur in den ersten Stunden ernstlich einen Platz suchte, denn nachdem etwa Mitternacht vorüber war, hat sie wohl niemanden mehr angesprochen, trotzdem sie mit kleinen Pausen bis zur Morgendämmerung nicht aufhörte weiter zu jagen und trotzdem in diesen Häusern, in denen weder Haustore noch Wohnungstüren je verschlossen werden, immerfort Leben ist und einem Menschen auf Schritt und Tritt begegnen. Natürlich war es kein Laufen, das sie rasch weiter brachte, sondern es war nur die äußerste Anstrengung, deren sie fähig waren, und es konnte in Wirklichkeit ganz gut auch bloß ein Schleichen sein. Therese wusste auch nicht, ob sie von Mitternacht bis fünf Uhr früh in zwanzig Häusern oder zwei oder gar nur in einem Haus gewesen waren. Die Korridore dieser Häuser sind nach schlauen Plänen der besten Raumausnützung, aber ohne Rücksicht auf leichte Orientierung angelegt, wie oft waren sie wohl durch die gleichen Korridore gekommen! Therese hatte wohl in dunkler Erinnerung, dass sie das Tor eines Hauses, das sie ewig durchsucht hatten, wieder verließen, aber ebenso schien es ihr, dass sie auf der Gasse gleich gewendet und wieder in dieses Haus sich gestürzt hätten. Für das Kind war es natürlich ein unbegreifliches Leid, einmal von der Mutter gehalten, einmal sich an ihr festhaltend, ohne ein kleines Wort des Trostes mitgeschleift zu werden, und das Ganze schien damals für seinen Unverstand nur die Erklärung zu haben, dass die Mutter von ihm weglaufen wolle. Darum hielt sich Therese desto fester, selbst wenn die Mutter sie an einer Hand hielt, der Sicherheit halber auch noch mit der andern Hand an den Röcken der Mutter, und heulte in Abständen. Sie wollte nicht hier zurückgelassen werden, zwischen den Leuten, die vor ihnen die Treppen stampfend emporstiegen, die hinter ihnen, noch nicht zu sehen, hinter einer Wendung der Treppe herankamen, die in den Gängen vor einer Tür Streit miteinander hatten und einander gegenseitig in das Zimmer hinein stießen. Betrunkene wanderten mit dumpfem Gesang im Haus umher und glücklich schlüpfte noch die Mutter mit Therese durch solche, sich gerade schließende Gruppen. Gewiss hätten sie spät in der Nacht, wo man nicht mehr so Acht gab und niemand mehr unbedingt auf seinem Recht bestand, wenigstens in einen der allgemeinen, von Unternehmern vermieteten Schlafsäle sich drängen können, an deren einigen sie vorüber kamen, aber Therese verstand es nicht, und die Mutter wollte keine Ruhe mehr. Am Morgen, dem Beginn eines schönen Wintertages, lehnten sie beide an einer Hausmauer und hatten dort vielleicht ein wenig geschlafen, vielleicht nur mit offenen Augen herum gestarrt. Es zeigte sich, dass Therese ihr Bündel verloren hatte und die Mutter machte sich daran, Therese zur Strafe für die Unachtsamkeit zu schlagen, aber Therese hörte keinen Schlag und spürte keinen. Sie gingen dann weiter, durch die sich belebenden Gassen, die Mutter an der Mauer, kamen über eine Brücke, wo die Mutter mit der Hand den Reif vom Geländer streifte und gelangten schließlich, damals hatte es Therese hingenommen, heute verstand sie es nicht, gerade zu jenem Bau, zu dem die Mutter für jenen Morgen bestellt war. Sie sagte Therese nicht, ob sie warten oder weggehen solle und Therese nahm dies als Befehl zum Warten, da dies ihren Wünschen am besten entsprach. Sie setzte sich also auf einen Ziegelhaufen und sah zu, wie die Mutter ihr Bündel aufschnürte, einen bunten Fetzen heraus nahm und damit ihr Kopftuch umband, das sie während der ganzen Nacht getragen hatte. Therese war zu müde, als dass ihr auch nur der Gedanke gekommen wäre, der Mutter zu helfen. Ohne sich in der Bauhütte zu melden, wie dies üblich war, und ohne jemanden zu fragen, stieg die Mutter eine Leiter hinauf, als wisse sie schon selbst, welche Arbeit ihr zugeteilt war. Therese wunderte sich darüber, da die Handlangerinnen gewöhnlich nur unten mit Kalk löschen, mit dem Hinreichen der Ziegel und mit sonstigen einfachen Arbeiten beschäftigt werden. Sie dachte daher, die Mutter wolle heute eine besser bezahlte Arbeit ausführen und lächelte verschlafen zu ihr hinauf. Der Bau war noch nicht hoch, kaum bis zum Erdgeschoss gediehn, wenn auch schon die hohen Gerüststangen für den weitern Bau, allerdings noch ohne Verbindungshölzer, zum blauen Himmel ragten. Oben umging die Mutter geschickt die Maurer, die Ziegel auf Ziegel legten, und sie unbegreiflicher Weise nicht zur Rede stellten, sie hielt sich vorsichtig mit zarter Hand an einem Holzverschlag, der als Geländer diente, und Therese staunte unten in ihrem Dusel diese Geschicklichkeit an und glaubte noch einen freundlichen Blick der Mutter erhalten zu haben. Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zu einem kleinen Ziegelhaufen, vor dem das Geländer und wahrscheinlich auch der Weg aufhörte, aber sie hielt sich nicht daran, ging auf den Ziegelhaufen los, ihre Geschicklichkeit schien sie verlassen zu haben, sie stieß den Ziegelhaufen um und fiel über ihn hinweg in die Tiefe. Viele Ziegel rollten ihr nach und schließlich, eine ganze Weile später, löste sich irgendwo ein schweres Brett los und krachte auf sie nieder. Die letzte Erinnerung Thereses an ihre Mutter war, wie sie mit auseinander gestreckten Beinen da lag, in dem karierten Rock, der noch aus Pommern stammte, wie jenes auf ihr liegende, rohe Brett sie fast bedeckte, wie nun die Leute von allen Seiten zusammen liefen und wie oben vom Bau irgendein Mann zornig etwas hinunter rief.
Es war spät geworden, als Therese ihre Erzählung beendet hatte. Sie hatte ausführlich erzählt, wie es sonst nicht ihre Gewohnheit war, und gerade bei gleichgültigen Stellen, wie bei der Beschreibung der Gerüststangen, die jede allein für sich in den Himmel ragten, hatte sie mit Tränen in den Augen inne halten müssen. Sie wusste jede Kleinigkeit, die damals vorgefallen war, jetzt nach zehn Jahren ganz genau, und weil der Anblick ihrer Mutter, oben im halbfertigen Erdgeschoss, das letzte Andenken an das Leben der Mutter war und sie es ihrem Freunde gar nicht genug deutlich überantworten konnte, wollte sie nach dem Schlusse ihrer Erzählung noch einmal darauf zurückkommen, stockte aber, legte das Gesicht in die Hände und sagte kein Wort mehr.
Es gab aber auch lustigere Zeiten in Theresens Zimmer. Gleich bei seinem ersten Besuch hatte Josie dort ein Lehrbuch der kaufmännischen Korrespondenz liegen gesehn und auf seine Bitte geborgt erhalten. Es wurde gleichzeitig besprochen, dass Josie die im Buch enthaltenen Aufgaben machen und Theresen, die das Buch, so weit es für ihre kleinen Arbeiten nötig war, schon durchstudiert hatte, zur Durchsicht vorlegen solle. Nun lag Josie ganze Nächte lang, Watte in den Ohren, unten auf seinem Bett im Schlafsaal, der Abwechslung halber in allen möglichen Lagen, las im Buch und kritzelte die Aufgaben in ein Heftchen mit einer Füllfeder, die ihm die Oberköchin zur Belohnung dafür geschenkt hatte, dass er für sie ein großes Inventurverzeichnis sehr praktisch angelegt und rein ausgeführt hatte. Es gelang ihm, die meisten Störungen der andern Jungen dadurch zum Guten zu wenden, dass er sich von ihnen immer kleine Ratschläge in der englischen Sprache geben ließ, bis sie dessen müde wurden und ihn in Ruhe ließen. Oft staunte er, wie die andern mit ihrer gegenwärtigen Lage ganz ausgesöhnt waren, ihren provisorischen Charakter — ältere als zwanzigjährige Liftjungen wurden nicht geduldet — gar nicht fühlten, die Notwendigkeit einer Entscheidung über ihren künftigen Beruf nicht einsahen und trotz Josies Beispiel nichts anderes lasen, als höchstens Detektivgeschichten, die in schmutzigen Fetzen von Bett zu Bett gereicht wurden.
Bei den Zusammenkünften korrigierte nun Therese mit übergroßer Umständlichkeit, es ergaben sich strittige Ansichten, Josie führte als Zeugen seinen großen New Yorker Professor an, aber der galt bei Therese ebenso wenig wie die grammatikalischen Meinungen der Liftjungen. Sie nahm ihm die Füllfeder aus der Hand und strich die Stelle, von deren Fehlerhaftigkeit sie überzeugt war, durch, Josie aber strich in solchen Zweifelsfällen, trotzdem im Allgemeinen keine höhere Autorität als Therese die Sache zu Gesicht bekommen sollte, aus Genauigkeit die Striche Theresens wieder durch.
Manchmal allerdings kam die Oberköchin und entschied dann immer zu Theresens Gunsten, was noch nicht beweisend war, denn Therese war ihre Sekretärin. Gleichzeitig aber brachte sie die allgemeine Versöhnung, denn es wurde Tee gekocht, Gebäck geholt und Josie musste von Europa erzählen, allerdings mit vielen Unterbrechungen von Seiten der Oberköchin, die immer wieder fragte und staunte, wodurch sie Josie zu Bewusstsein brachte, wie vieles sich dort in verhältnismäßig kurzer Zeit von Grund aus geändert hatte und wie vieles wohl auch schon seit seiner Abwesenheit anders geworden war und immerfort anders wurde.
Josie mochte einen Monat etwa in Ramses gewesen sein, als ihm eines Abends Renell im Vorübergehen sagte, er sei vor dem Hotel von einem Mann mit Namen Delamarche angesprochen und nach Josie ausgefragt worden. Renell habe nun keinen Grund gehabt, etwas zu verschweigen, und habe der Wahrheit gemäß erzählt, dass Josie Liftjunge sei, jedoch Aussicht habe, infolge der Protektion der Oberköchin, noch ganz andere Stellen zu bekommen. Josie merkte, wie vorsichtig Renell von Delamarche behandelt worden war, der ihn sogar für diesen Abend zu einem gemeinsamen Nachtmahl eingeladen hatte. "Ich habe nichts mehr mit Delamarche zu tun", sagte Josie. "Nimm du dich nur auch vor ihm in Acht!" "Ich?" sagte Renell, streckte sich und eilte weg. Er war der zierlichste Junge im Hotel und es ging unter den andern Jungen, ohne dass man den Urheber wusste, das Gerücht herum, dass er von einer vornehmen Dame, die schon längere Zeit im Hotel wohnte, im Lift zumindest abgeküsst worden sei. Für den, der das Gerücht kannte, hatte es unbedingt einen großen Reiz, jene selbstbewusste Dame, in deren Äußern nicht das Geringste die Möglichkeit eines solchen Benehmens ahnen ließ, mit ihren ruhigen, leichten Schritten, zarten Schleiern, streng geschnürter Taille an sich vorüber gehn zu sehen. Sie wohnte im ersten Stock und Renells Lift war nicht der ihre, aber man konnte natürlich, wenn die andern Lifts augenblicklich besetzt waren, solchen Gästen den Eintritt in einen andern Lift nicht verwehren. So kam es, dass diese Dame hier und da in Josies und Renells Lift fuhr und tatsächlich immer nur, wenn Renell Dienst hatte. Es konnte Zufall sein, aber niemand glaubte daran, und wenn der Lift mit den beiden abfuhr, gab es in der ganzen Reihe der Liftjungen eine mühsam unterdrückte Unruhe, die schon sogar zum Einschreiten eines Oberkellners geführt hatte. Sei es nun dass die Dame, sei es, dass das Gerücht die Ursache war, jedenfalls hatte sich Renell verändert, war noch bei weitem selbstbewusster geworden, überließ das Putzen gänzlich Josie, der schon auf die nächste Gelegenheit einer gründlichen Aussprache hierüber wartete, und war im Schlafsaal gar nicht mehr zu sehn. Kein anderer war so vollständig aus der Gemeinschaft der Liftjungen ausgetreten, denn im Allgemeinen hielten alle zumindest in Dienstfragen streng zusammen und hatten eine Organisation, die von der Hoteldirektion anerkannt war.
Alles dieses ließ sich Josie durch den Kopf gehen, dachte auch an Delamarche und verrichtete im Übrigen seinen Dienst wie immer. Gegen Mitternacht hatte er eine kleine Abwechslung, denn Therese, die ihn öfters mit kleinen Geschenken überraschte, brachte ihm einen großen Apfel und eine Tafel Schokolade. Sie unterhielten sich ein wenig, durch die Unterbrechungen, welche die Fahrten mit dem Aufzug brachten, kaum gestört. Das Gespräch kam auch auf Delamarche, und Josie merkte, dass er sich eigentlich durch Therese hatte beeinflussen lassen, wenn er ihn seit einiger Zeit für einen gefährlichen Menschen hielt; denn so erschien er allerdings Therese, nach Josies Erzählungen. Josie jedoch hielt ihn im Grunde nur für einen Lumpen, der durch das Unglück sich hatte verderben lassen, und mit dem man schon auskommen konnte. Therese widersprach dem aber sehr lebhaft und forderte Josie in langen Reden das Versprechen ab, kein Wort mit Delamarche mehr zu reden. Statt dieses Versprechen zu geben, drängte sie Josie wiederholt schlafen zu gehen, da schon Mitternacht längst vorüber war, und als sie sich weigerte, drohte er seinen Posten zu verlassen und sie in ihr Zimmer zu führen. Als sie endlich bereit war wegzugehen, sagte er: "Warum machst du dir so unnötige Sorgen, Therese? Für den Fall, dass du dadurch besser schlafen solltest, verspreche ich dir gerne, dass ich mit Delamarche nur reden werde, wenn es sich nicht vermeiden lässt." Dann kamen viele Fahrten, denn der Junge am Nebenlift wurde zu irgendeiner andern Dienstleistung verwendet, und Josie musste beide Lifts besorgen. Es gab Gäste, die von Unordnung sprachen und ein Herr, der eine Dame begleitete, berührte Josie sogar leicht mit dem Spazierstock, um ihn zur Eile anzutreiben, eine Ermahnung, die recht unnötig war. Wenn doch wenigstens die Gäste, da sie sahen, dass bei dem einen Lift kein Junge stand, gleich zu Josies Lift getreten wären, aber das taten sie nicht, sondern gingen zu dem Nebenlift und blieben dort, die Hand an der Klinke stehen, oder traten gar selbst in den Aufzug ein, was nach dem strengsten Paragrafen der Dienstordnung die Liftjungen um jeden Preis verhüten sollten. So gab es für Josie ein sehr ermüdendes Hin- und Herlaufen, ohne dass er aber dabei das Bewusstsein gehabt hätte, seine Pflicht genau zu erfüllen. Gegen drei Uhr früh wollte überdies ein Packträger, ein alter Mann, mit dem er ein wenig befreundet war, irgendeine Hilfeleistung von ihm haben, aber die konnte er nun keinesfalls leisten, denn gerade standen Gäste vor seinen beiden Lifts, und es gehörte Geistesgegenwart dazu, sich sofort mit großen Schritten für eine Gruppe zu entscheiden. Er war daher glücklich, als der andere Junge wieder antrat, und rief ein paar Worte des Vorwurfs wegen seines langen Ausbleibens zu ihm hinüber, trotzdem er wahrscheinlich keine Schuld daran hatte. Nach vier Uhr früh trat ein wenig Ruhe ein, aber Josie brauchte sie auch schon dringend. Er lehnte schwer am Geländer, neben seinem Aufzug, aß langsam den Apfel, aus dem schon nach dem ersten Biss ein starker Duft strömte und sah in einen Lichtschacht hinunter, der von großen Fenstern der Vorratskammern umgeben war, hinter denen hängende Massen von Bananen im Dunkel gerade noch schimmerten.

Kapitel VI: Der Fall Robinson
Da klopfte ihm jemand auf die Schulter. Josie, der natürlich dachte, es wäre ein Gast, steckte den Apfel eiligst in die Tasche und eilte, kaum dass er den Mann ansah, zum Aufzug hin. "Guten Abend, Herr Rossmann", sagte nun aber der Mann, "ich bin es, Robinson." "Sie haben sich aber verändert", sagte Josie und schüttelte den Kopf. "Ja, es geht mir gut", sagte Robinson und sah an seiner Kleidung hinunter, die vielleicht aus genug feinen Stücken bestand, aber so zusammengewürfelt war, dass sie geradezu schäbig aussah. Das Auffallendste war eine offenbar zum ersten Mal getragene, weiße Weste mit vier kleinen schwarz eingefassten Täschchen, auf die Robinson auch durch Vorstrecken der Brust aufmerksam zu machen suchte. "Sie haben teure Kleider", sagte Josie und dachte flüchtig an sein schönes, einfaches Kleid, in dem er sogar neben Renell hätte bestehen können und das die zwei schlechten Freunde verkauft hatten. "Ja", sagte Robinson, "ich kaufe mir fast jeden Tag irgendetwas. Wie gefällt ihnen die Weste?" "Ganz gut", sagte Josie. "Es sind aber keine wirklichen Taschen, das ist nur so gemacht", sagte Robinson und fasste Josie bei der Hand, damit sich dieser selbst davon überzeuge. Aber Josie wich zurück, denn aus Robinsons Mund kam ein unerträglicher Branntweingeruch. "Sie trinken wieder viel", sagte Josie und stand schon wieder am Geländer. "Nein", sagte Robinson, "nicht viel", und fügte im Widerspruch zu seiner früheren Zufriedenheit hinzu: "Was hat der Mensch sonst auf der Welt." Eine Fahrt unterbrach das Gespräch und, kaum war Josie wieder unten, erfolgte ein telefonischer Anruf, laut dessen Josie den Hotelarzt holen sollte, da eine Dame im siebenten Stockwerk einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Während dieses Weges hoffte Josie im Geheimen, dass Robinson sich inzwischen entfernt haben werde, denn er wollte nicht mit ihm gesehen werden und in Gedanken an Theresens Warnung auch von Delamarche nichts hören. Aber Robinson wartete noch in der steifen Haltung eines Vollgetrunkenen und gerade ging ein höherer Hotelbeamter im schwarzen Gehrock und Zylinderhut vorüber, ohne glücklicherweise Robinson, wie es schien, besonders zu beachten. "Wollen Sie, Rossmann, nicht einmal zu uns kommen, wir haben es jetzt sehr fein", sagte Robinson und sah Josie lockend an. "Laden Sie mich ein oder Delamarche?" fragte Josie. "Ich und Delamarche. Wir sind darin einig", sagte Robinson. "Dann sage ich Ihnen und bitte Sie Delamarche das Gleiche auszurichten: Unser Abschied war, wenn das nicht schon an und für sich klar gewesen sein sollte, ein endgültiger. Sie beide haben mir mehr Leid getan, als irgendjemand. Haben Sie sich vielleicht in den Kopf gesetzt, mich auch weiterhin nicht in Ruhe zu lassen?" "Wir sind doch ihre Kameraden", sagte Robinson und widerliche Tränen der Trunkenheit stiegen ihm in die Augen. "Delamarche lässt Ihnen sagen, dass er Sie für alles Frühere entschädigen will. Wir wohnen jetzt mit Brunelda zusammen, einer herrlichen Sängerin." Und im Anschluss daran wollte er gerade ein Lied in hohen Tönen singen, wenn ihn nicht Josie noch rechtzeitig angezischt hätte: "Schweigen Sie aber augenblicklich, wissen Sie denn nicht, wo Sie sind." "Rossmann", sagte Robinson, nur rücksichtlich des Singens eingeschüchtert, "ich bin doch ihr Kamerad, sagen Sie, was Sie wollen. Und nun haben Sie hier so eine schöne Position, könnten Sie mir einiges Geld überlassen." "Sie vertrinken es ja bloß wieder", sagte Josie, "da sehe ich sogar in ihrer Tasche irgendeine Branntweinflasche, aus der Sie gewiss, während ich weg war, getrunken haben, denn anfangs waren Sie ja noch ziemlich bei Sinnen." "Das ist nur zur Stärkung, wenn ich auf einem Wege bin", sagte Robinson entschuldigend. "Ich will Sie ja nicht mehr bessern", sagte Josie. "Aber das Geld!" sagte Robinson mit aufgerissenen Augen. "Sie haben wohl von Delamarche den Auftrag bekommen Geld mitzubringen. Gut, ich gebe Ihnen Geld, aber nur unter der Bedingung, dass Sie sofort von hier fortgehn und niemals mehr mich hier besuchen. Wenn Sie nur etwas mitteilen wollen, schreiben Sie an mich. Josie Rossmann, Liftjunge, Hotel Occidental, genügt als Adresse. Aber hier dürfen Sie, das wiederhole ich, mich nicht mehr aufsuchen. Hier bin ich im Dienst und habe keine Zeit für Besuche. Wollen Sie also das Geld unter dieser Bedingung?" fragte Josie und griff in die Westentasche, denn er war entschlossen, das Trinkgeld der heutigen Nacht zu opfern. Robinson nickte bloß zu der Frage und atmete schwer. Josie deutete das unrichtig und fragte nochmals: "Ja oder nein?"
Da winkte ihn Robinson zu sich heran und flüsterte unter Schlingbewegungen, die schon ganz deutlich waren: "Rossmann, mir ist sehr schlecht." "Zum Teufel", entfuhr es Josie und mit beiden Händen schleppte er ihn zum Geländer.
Und schon ergoss es sich aus Robinsons Mund in die Tiefe. Hilflos strich er in den Pausen, die ihm seine Übelkeit ließ, blindlings an Josie hin. "Sie sind wirklich ein guter Junge", sagte er dann oder "es hört schon auf", was aber noch lange nicht richtig war, oder "die Hunde, was haben sie mir dort für ein Zeug eingegossen!" Josie hielt es vor Unruhe und Ekel bei ihm nicht aus und begann auf und ab zu gehen. Hier im Winkel neben dem Aufzug war ja Robinson ein wenig versteckt, aber wie, wenn ihn doch jemand bemerkte, einer dieser nervösen, reichen Gäste, die nur darauf warten, dem herbei laufenden Hotelbeamten eine Beschwerde mitzuteilen, für welche dieser dann wütend am ganzen Hause Rache nimmt oder wenn einer dieser immerfort wechselnden Hoteldetektive vorüber käme, die niemand kennt, außer die Direktion, und die man in jedem Menschen vermutet, der prüfende Blicke, vielleicht auch bloß aus Kurzsichtigkeit, macht. Und unten brauchte nur jemand bei dem die ganze Nacht nicht aussetzenden Restaurationsbetrieb in die Vorratskammern zu gehn, staunend die Scheußlichkeit im Lichtschacht zu bemerken und Josie telefonisch anzufragen, was denn um Himmelswillen da oben los sei. Konnte Josie dann Robinson verleugnen? Und wenn er es täte, würde sich nicht Robinson in seiner Dummheit und Verzweiflung statt aller Entschuldigung gerade nur auf Josie berufen? Und musste dann nicht Josie sofort entlassen werden, da dann das Unerhörte geschehen war, dass ein Liftjunge, der niedrigste und entbehrlichste Angestellte in der ungeheuren Stufenleiter der Dienerschaft dieses Hotels, durch seinen Freund das Hotel hatte beschmutzen und die Gäste erschrecken oder gar vertreiben lassen? Konnte man einen Liftjungen weiter dulden, der solche Freunde hatte, von denen er sich überdies während seiner Dienststunden besuchen ließ? Sah es nicht ganz so aus, als ob ein solcher Liftjunge selbst ein Säufer oder gar etwas Ärgeres sei, denn welche Vermutung war einleuchtender, als dass er seine Freunde aus den Vorräten des Hotels so lange überfütterte, bis sie an einer beliebigen Stelle dieses gleichen, peinlich rein gehaltenen Hotels solche Dinge ausführten, wie jetzt Robinson? Und warum sollte sich ein solcher Junge auf die Diebstähle von Lebensmitteln beschränken, da doch die Möglichkeiten zu stehlen, bei der bekannten Nachlässigkeit der Gäste, den überall offen stehenden Schränken, den auf den Tischen herum liegenden Kostbarkeiten, den aufgerissenen Kassetten, den gedankenlos hingeworfenen Schlüsseln wirklich unzählige waren?
Gerade sah Josie in der Ferne Gäste aus einem Kellerlokal heraufsteigen, in dem eben eine Varietévorstellung beendet worden war. Josie stellte sich zu seinem Aufzug und wagte sich gar nicht nach Robinson umzudrehn, aus Furcht vor dem, was er zu sehn bekommen könnte. Es beruhigte ihn wenig, dass er keinen Laut, nicht einmal einen Seufzer von dort hörte. Er bediente zwar seine Gäste und fuhr mit ihnen auf und ab, aber seine Zerstreutheit konnte er doch nicht ganz verbergen und bei jeder Abwärtsfahrt war er darauf gefasst, unten eine peinliche Überraschung vorzufinden.
Endlich hatte er wieder Zeit nach Robinson zu sehn, der in seinem Winkel ganz klein kauerte und das Gesicht gegen die Knie drückte. Seinen runden, harten Hut hatte er weit aus der Stirne geschoben. "Also jetzt gehn Sie schon", sagte Josie leise und bestimmt, "hier ist das Geld. Wenn Sie sich beeilen, kann ich Ihnen noch den kürzesten Weg zeigen." "Ich werde nicht weg gehn können", sagte Robinson und wischte sich mit einem winzigen Taschentuch die Stirn, "ich werde hier sterben. Sie können sich nicht vorstellen, wie schlecht mir ist. Delamarche nimmt mich überall in die feinen Lokale mit, aber ich vertrage dieses zimperliche Zeug nicht, ich sage es Delamarche täglich." "Hier können Sie nun einmal nicht bleiben", sagte Josie, "bedenken Sie doch, wo Sie sind. Wenn man Sie hier findet, werden Sie bestraft und ich verliere meinen Posten. Wollen Sie das?" "Ich kann nicht weggehen", sagte Robinson, "lieber spring ich da hinunter", und er zeigte zwischen den Geländerstangen in den Lichtschacht. "Wenn ich hier so sitze, so kann ich es noch ertragen, aber aufstehn kann ich nicht, ich habe es ja schon versucht, wie Sie weg waren." "Dann hole ich also einen Wagen, und Sie fahren ins Krankenhaus", sagte Josie und schüttelte ein wenig Robinsons Beine, der jeden Augenblick in völlige Teilnahmslosigkeit zu verfallen drohte. Aber kaum hatte Robinson das Wort Krankenhaus gehört, das ihm schreckliche Vorstellungen zu erwecken schien, als er laut zu weinen anfing und die Hände um Gnade bittend nach Josie ausstreckte. "Still", sagte Josie, schlug ihm mit einem Klaps die Hände nieder, lief zu dem Liftjungen, den er in der Nacht vertreten hatte, bat ihn für ein kleines Weilchen um die gleiche Gefälligkeit, eilte zu Robinson zurück, zog den noch immer Schluchzenden mit aller Kraft in die Höhe und flüsterte ihm zu: "Robinson, wenn Sie wollen, dass ich mich ihrer annehme, dann strengen Sie sich aber an, jetzt eine ganz kleine Strecke Wegs aufrecht zu gehen. Ich führe Sie nämlich in mein Bett, in dem Sie solange bleiben können, bis Ihnen gut ist. Sie werden staunen, wie bald Sie sich erholen werden. Aber jetzt benehmen Sie sich nur vernünftig, denn auf den Gängen sind überall Leute und auch mein Bett ist in einem allgemeinen Schlafsaal. Wenn man auf Sie auch nur ein wenig aufmerksam wird, kann ich nichts mehr für Sie tun. Und die Augen müssen Sie offen halten, ich kann Sie da nicht wie einen Todkranken herumführen." "Ich will ja alles tun, was Sie für Recht halten", sagte Robinson, "aber Sie allein werden mich nicht führen können. Könnten Sie nicht noch Renell holen?" "Renell ist nicht hier", sagte Josie. "Ach ja", sagte Robinson, "Renell ist mit Delamarche beisammen. Die beiden haben mich ja um Sie geschickt. Ich verwechsle schon alles." Josie benützte diese und andere unverständliche Selbstgespräche Robinsons, um ihn vorwärts zu schieben und kam mit ihm auch glücklich bis zu einer Ecke, von der aus ein etwas schwächer beleuchteter Gang zum Schlafsaal der Liftjungen führte. Gerade jagte in vollem Lauf ein Liftjunge auf sie zu und an ihnen vorüber. Im Übrigen hatten sie bis jetzt nur ungefährliche Begegnungen gehabt; zwischen vier und fünf Uhr war nämlich die stillste Zeit und Josie hatte wohl gewusst, dass wenn ihm das Wegschaffen Robinsons jetzt nicht gelänge, in der Morgendämmerung und im beginnenden Tagesverkehr überhaupt nicht mehr daran zu denken wäre.
Im Schlafsaal war am andern Ende des Saales gerade eine große Rauferei oder sonstige Veranstaltung im Gange, man hörte rhythmisches Händeklatschen, aufgeregtes Füßetrappeln und sportliche Zurufe. In der bei der Tür gelegenen Saalhälfte sah man in den Betten nur wenige unbeirrte Schläfer, die meisten lagen auf dem Rücken und starrten in die Luft, während hier und da einer bekleidet oder unbekleidet wie er gerade war, aus dem Bett sprang, um nachzusehn, wie die Dinge am andern Saalende standen. So brachte Josie Robinson, der sich an das Gehen inzwischen ein wenig gewöhnt hatte, ziemlich unbeachtet in Renells Bett, da es der Tür sehr nahe lag und glücklicherweise nicht besetzt war, während in seinem eigenen Bett, wie er aus der Ferne sah, ein fremder Junge, den er gar nicht kannte, ruhig schlief. Kaum fühlte Robinson das Bett unter sich, als er sofort — ein Bein baumelte noch aus dem Bett heraus — einschlief. Josie zog ihm die Decke weit über das Gesicht und glaubte sich für die nächste Zeit wenigstens keine Sorgen machen zu müssen, da Robinson gewiss nicht vor sechs Uhr früh erwachen würde, und bis dahin würde er wieder hier sein und dann schon vielleicht mit Renell ein Mittel finden, um Robinson weg zu bringen. Eine Inspektion des Schlafsaales durch irgendwelche höheren Organe gab es nur in außerordentlichen Fällen, die Abschaffung der früher üblichen allgemeinen Inspektion hatten die Liftjungen schon vor Jahren durchgesetzt, es war also auch von dieser Seite nichts zu fürchten.
Als Josie wieder bei seinem Aufzug angelangt war, sah er, dass sowohl sein Aufzug, als auch jener seines Nachbarn gerade in die Höhe fuhren. Unruhig wartete er darauf, wie sich das aufklären würde. Sein Aufzug kam früher herunter und es entstieg ihm jener Junge, der vor einem Weilchen durch den Gang gelaufen war. "Ja wo bist du denn gewesen, Rossmann?" fragte dieser. "Warum bist du weggegangen? Warum hast du es nicht gemeldet?" "Aber ich habe ihm doch gesagt, dass er mich ein Weilchen vertreten soll", antwortete Josie und zeigte auf den Jungen vom Nachbarlift, der gerade herankam. "Ich habe ihn doch auch zwei Stunden während des größten Verkehres vertreten." "Das ist alles sehr gut", sagte der Angesprochene, "aber das genügt doch nicht. Weißt du denn nicht, dass man auch die kürzeste Abwesenheit während des Dienstes im Büro des Oberkellners melden muss. Dazu hast du ja das Telefon da. Ich hätte dich schon gerne vertreten, aber du weißt ja, dass das nicht so leicht ist. Gerade waren vor beiden Lifts neue Gäste vom Vier-Uhr-dreißig-Expresszug. Ich konnte doch nicht zuerst zu deinem Lift laufen und meine Gäste warten lassen, so bin ich also zuerst mit meinem Lift hinauf gefahren." "Nun?" fragte Josie gespannt, da beide Jungen schwiegen. "Nun", sagte der Junge vom Nachbarlift, "da geht gerade der Oberkellner vorüber, sieht die Leute vor deinem Lift ohne Bedienung, bekommt Galle, fragt mich, der ich gleich her gerannt bin, wo du steckst, ich habe keine Ahnung davon, denn du hast mir ja gar nicht gesagt, wohin du gehst und so telefoniert er gleich in den Schlafsaal, dass sofort ein anderer Junge herkommen soll." "Ich habe dich ja noch im Gang getroffen", sagte Josies Ersatzmann. Josie nickte. "Natürlich", beteuerte der andere Junge, "habe ich gleich gesagt, dass du mich um deine Vertretung gebeten hast, aber hört denn der auf solche Entschuldigungen. Du kennst ihn wahrscheinlich noch nicht. Und wir sollen dir ausrichten, dass du sofort ins Büro kommen sollst. Also halte dich lieber nicht auf und lauf hin. Vielleicht verzeiht er es dir noch, du warst ja wirklich nur zwei Minuten weg. Berufe dich nur ruhig auf mich, dass du mich um Vertretung gebeten hast. Davon dass du mich vertreten hast, rede lieber nicht, lass dir raten, mir kann ja nichts geschehn, ich hatte Erlaubnis, aber es ist nicht gut, von einer solchen Sache zu reden und sie noch in diese Angelegenheit zu mischen, mit der sie nichts zu tun hat." "Es ist das erste Mal gewesen, dass ich meinen Posten verlassen habe", sagte Josie. "Das ist immer so, nur glaubt man es nicht", sagte der Junge und lief zu seinem Lift, da sich Leute näherten. Josies Vertreter, ein etwa vierzehnjähriger Junge, der offenbar mit Josie Mitleid hatte, sagte: "Es sind schon viele Fälle vorgekommen, in denen man solche Sachen verziehen hat. Gewöhnlich wird man zu andern Arbeiten versetzt. Entlassen wurde, so viel ich weiß, wegen einer solchen Sache nur einer. Du musst dir nur eine gute Entschuldigung ausdenken. Auf keinen Fall sag, dass dir plötzlich schlecht geworden ist, da lacht er dich aus. Da ist schon besser, du sagst, ein Gast hat dir irgendeine eilige Bestellung an einen andern Gast aufgegeben und du weißt nicht mehr, wer der erste Gast war, und den zweiten hast du nicht finden können." "Na", sagte Josie, "es wird nicht so schlimm werden", nach allem, was er gehört hatte, glaubte er an keinen guten Ausgang mehr. Und wenn selbst dieses Dienstversäumnis verziehen werden sollte, so lag doch drin im Schlafsaal noch Robinson als seine lebendige Schuld und es war bei dem galligen Charakter des Oberkellners nur zu wahrscheinlich, dass man sich mit keiner oberflächlichen Untersuchung begnügen und schließlich doch Robinson noch aufstöbern würde. Es bestand wohl kein ausdrückliches Verbot, nach dem fremde Leute in den Schlafsaal nicht mitgenommen werden durften, aber dies bestand nur deshalb nicht, weil eben unausdenkbare Dinge nicht verboten werden.
Als Josie in das Büro des Oberkellners eintrat, saß dieser gerade bei seinem Morgenkaffee, machte einmal einen Schluck und sah dann wieder in ein Verzeichnis, das ihm offenbar der gleichfalls anwesende oberste Hotelportier zur Begutachtung überbracht hatte. Es war dies ein großer Mann, den seine üppige, reich geschmückte Uniform — noch auf den Achseln und die Arme hinunter schlängelten sich goldene Ketten und Bänder — noch breitschultriger machte, als er von Natur aus war. Ein glänzender, schwarzer Schnurrbart, weit in Spitzen ausgezogen, so wie ihn Ungarn tragen, rührte sich auch bei der schnellsten Kopfwendung nicht. Im Übrigen konnte sich der Mann infolge seiner Kleiderlast überhaupt nur schwer bewegen und stellte sich nicht anders, als mit seitwärts eingestemmten Beinen auf, um sein Gewicht richtig zu verteilen.
Josie war frei und eilig eingetreten, wie er es sich hier im Hotel angewöhnt hatte, denn die Langsamkeit und Vorsicht, die bei Privatpersonen Höflichkeit bedeutet, hält man bei Liftjungen für Faulheit. Außerdem musste man ihm auch nicht gleich beim Eintreten sein Schuldbewusstsein ansehn. Der Oberkellner hatte zwar flüchtig auf die sich öffnende Türe hin geblickt, war dann aber sofort zu seinem Kaffee und zu seiner Lektüre zurückgekehrt, ohne sich weiter um Josie zu kümmern. Der Portier aber fühlte sich vielleicht durch Josies Anwesenheit gestört, vielleicht hatte er irgendeine geheime Nachricht oder Bitte vorzutragen, jedenfalls sah er alle Augenblicke bös und mit steif geneigtem Kopf nach Josie hin, um sich dann, wenn er offenbar seiner Absicht entsprechend mit Josies Blicken zusammengetroffen war, wieder dem Oberkellner zuzuwenden. Josie aber glaubte, es würde sich nicht gut ausnehmen, wenn er jetzt, da er nun schon einmal hier war, das Büro wieder verlassen würde, ohne vom Oberkellner den Befehl hierzu erhalten zu haben. Dieser aber studierte weiter das Verzeichnis und aß zwischendurch von einem Stück Kuchen, von dem er hier und da, ohne im Lesen inne zu halten, den Zucker abschüttelte. Einmal fiel ein Blatt des Verzeichnisses zu Boden, der Portier machte nicht einmal einen Versuch es aufzuheben, er wusste, dass er es nicht zu Stande brächte, es war auch nicht nötig, denn Josie war schon zur Stelle und reichte das Blatt dem Oberkellner, der es ihm mit einer Handbewegung abnahm, als sei es von selbst vom Boden aufgeflogen. Die ganze kleine Dienstleistung hatte nichts genützt, denn der Portier hörte auch weiterhin mit seinen bösen Blicken nicht auf. Trotzdem war Josie gefasster als früher. Schon dass seine Sache für den Oberkellner so wenig Wichtigkeit zu haben schien, konnte man für ein gutes Zeichen halten. Es war schließlich auch nur begreiflich. Natürlich bedeutet ein Liftjunge gar nichts und darf sich deshalb nichts erlauben, aber eben deshalb, weil er nichts bedeutet, kann er auch nichts Außerordentliches anstellen. Schließlich war der Oberkellner in seiner Jugend selbst Liftjunge gewesen — was noch der Stolz dieser Generation von Liftjungen war — er war es gewesen, der die Liftjungen zum ersten mal organisiert hatte und gewiss hat er auch einmal ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, wenn ihn auch jetzt allerdings niemand zwingen konnte, sich daran zu erinnern und wenn man auch nicht außer Acht lassen durfte, dass er gerade als gewesener Liftjunge darin seine Pflicht sah, diesen Stand durch zeitweilig unnachsichtliche Strenge in Ordnung zu halten. Nun setzte aber Josie außerdem seine Hoffnung auf das Vorrücken der Zeit. Nach der Bürouhr war schon Viertel sechs vorüber, jeden Augenblick konnte Renell zurückkehren, vielleicht war er sogar schon da, denn es musste ihm doch aufgefallen sein, dass Robinson nicht zurückgekommen war, übrigens konnten sich Delamarche und Renell gar nicht weit vom Hotel Occidental aufgehalten haben, wie Josie jetzt einfiel, denn sonst hätte doch Robinson in seinem elenden Zustand den Weg hierher nicht gefunden. Wenn nun Renell Robinson in seinem Bett antraf, was doch geschehen musste, dann war alles gut. Denn praktisch, wie Renell war, besonders wenn es sich um seine Interessen handelte, würde er schon Robinson irgendwie gleich aus dem Hotel entfernen, was ja umso leichter geschehen konnte, da Robinson sich inzwischen ein wenig gestärkt hatte und überdies wahrscheinlich Delamarche vor dem Hotel wartete, um ihn in Empfang zu nehmen. Wenn aber Robinson einmal entfernt war, dann konnte Josie dem Oberkellner viel ruhiger entgegentreten und für diesmal vielleicht noch mit einer, wenn auch schweren Rüge davonkommen. Dann würde er sich mit Therese beraten, ob er der Oberköchin die Wahrheit sagen dürfe — er sah für seinen Teil kein Hindernis — und wenn das möglich war, würde die Sache ohne besonderen Schaden aus der Welt geschafft sein.
Gerade hatte sich Josie durch solche Überlegungen ein wenig beruhigt und machte sich daran, das in dieser Nacht eingenommene Trinkgeld unauffällig zu überzählen, denn es schien ihm dem Gefühl nach besonders reichlich gewesen zu sein, als der Oberkellner das Verzeichnis mit den Worten: "Warten Sie noch bitte einen Augenblick, Feodor" auf den Tisch legte, elastisch aufsprang und Josie so laut anschrie, dass dieser erschrocken vorerst nur in das große schwarze Mundloch starrte.
"Du hast deinen Posten ohne Erlaubnis verlassen. Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet Entlassung. Ich will keine Entschuldigungen hören, deine erlogenen Ausreden kannst du für dich behalten, mir genügt vollständig die Tatsache, dass du nicht da warst. Wenn ich das einmal dulde und verzeihe, werden nächstens alle vierzig Liftjungen während des Dienstes davonlaufen und ich kann meine fünftausend Gäste allein die Treppen hinauf tragen."
Josie schwieg. Der Portier war nähergekommen und zog das Röckchen Josies, das einige Falten warf, ein wenig tiefer, zweifellos um den Oberkellner auf diese kleine Unordentlichkeit im Anzug Josies besonders aufmerksam zu machen.
"Ist dir vielleicht plötzlich schlecht geworden?" fragte der Oberkellner listig. Josie sah ihn prüfend an und antwortete: "Nein." "Also nicht einmal schlecht ist dir geworden?" schrie der Oberkellner desto stärker. "Also dann musst du ja irgendeine großartige Lüge erfunden haben. Heraus damit. Was für eine Entschuldigung hast du?" "Ich habe nicht gewusst, dass man telefonisch um Erlaubnis bitten muss", sagte Josie. "Das ist allerdings köstlich", sagte der Oberkellner, fasste Josie beim Rockkragen und brachte ihn fast in Schwebe vor eine Dienstordnung der Lifts, die auf der Wand aufgenagelt war. Auch der Portier ging hinter ihnen zur Wand hin. "Da! Lies!" sagte der Oberkellner und zeigte auf einen Paragrafen. Josie glaubte, er solle es für sich lesen. "Laut!" kommandierte aber der Oberkellner. Statt laut zu lesen, sagte Josie in der Hoffnung damit den Oberkellner besser zu beruhigen: "Ich kenne den Paragrafen, ich habe ja die Dienstordnung auch bekommen und genau gelesen. Aber gerade eine solche Bestimmung, die man niemals braucht, vergisst man. Ich diene schon zwei Monate und habe niemals meinen Posten verlassen." "Dafür wirst du ihn jetzt verlassen", sagte der Oberkellner, ging zum Tisch hin, nahm das Verzeichnis wieder zur Hand, als wolle er darin weiter lesen, schlug damit aber auf den Tisch, als sei es ein nutzloser Fetzen, und ging, starke Röte auf Stirn und Wangen, kreuz und quer im Zimmer herum. "Wegen eines solchen Bengels hat man das nötig. Solche Aufregungen beim Nachtdienst!" stieß er einige Mal hervor. "Wissen Sie, wer gerade hinauffahren wollte, als dieser Kerl hier vom Lift weggelaufen ist?" wandte er sich zum Portier. Und er nannte einen Namen, bei dem es dem Portier, der gewiss alle Gäste kannte und bewerten konnte, so schauderte, dass er schnell auf Josie hinsah, als sei nur dessen Existenz eine Bestätigung dessen, dass der Träger jenes Namens eine Zeit lang bei einem Lift, dessen Junge weggelaufen war, nutzlos hatte warten müssen. "Das ist schrecklich!" sagte der Portier und schüttelte langsam, in grenzenloser Beunruhigung, den Kopf gegen Josie hin, welcher ihn traurig ansah und dachte, dass er nun auch für die Begriffsstutzigkeit dieses Mannes werde büßen müssen. "Ich kenne dich übrigens auch schon", sagte der Portier und streckte seinen dicken, großen, steif gespannten Zeigefinger aus. "Du bist der einzige Junge, welcher mich grundsätzlich nicht grüßt. Was bildest du dir eigentlich ein! Jeder, der an der Portiersloge vorübergeht, muss mich grüßen. Mit den übrigen Portiers kannst du es halten, wie du willst, ich aber verlange gegrüßt zu werden. Ich tue zwar manchmal so, als ob ich nicht aufpasste, aber du kannst ganz ruhig sein, ich weiß sehr genau, wer mich grüßt oder nicht, du Lümmel." Und er wandte sich von Josie ab und schritt hoch aufgerichtet auf den Oberkellner zu, der aber, statt sich zu des Portiers Sache zu äußern, sein Frühstück beendete und eine Morgenzeitung überflog, die ein Diener eben ins Zimmer herein gereicht hatte.
"Herr Oberportier", sagte Josie, der während der Unachtsamkeit des Oberkellners wenigstens die Sache mit dem Portier ins Reine bringen wollte, denn er begriff, dass ihm vielleicht der Vorwurf des Portiers nicht schaden konnte, wohl aber dessen Feindschaft, "ich grüße Sie ganz gewiss. Ich bin doch noch nicht lange in Amerika und stamme aus Europa, wo man bekanntlich viel mehr grüßt, als nötig ist. Das habe ich mir natürlich noch nicht ganz abgewöhnen können und noch vor zwei Monaten hat man mir in New York, wo ich zufällig in höheren Kreisen verkehrte, bei jeder Gelegenheit zugeredet, mit meiner übertriebenen Höflichkeit aufzuhören. Und da sollte ich gerade Sie nicht gegrüßt haben. Ich habe Sie jeden Tag einige Mal gegrüßt. Aber natürlich nicht jedes Mal, wenn ich Sie gesehen habe, da ich doch täglich hundertmal an Ihnen vorüber komme." "Du hast mich jedes Mal zu grüßen, jedes Mal, ohne Ausnahme, du hast die ganze Zeit, während du mit mir sprichst, die Kappe in der Hand zu halten, du hast mich immer mit Oberportier anzureden und nicht mit Sie. Und alles das jedes Mal und jedes Mal." "Jedes Mal?" wiederholte Josie leise und fragend, er erinnerte sich jetzt, wie er vom Portier während der ganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes immer streng und vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon von jenem ersten Morgen, an dem er, seiner dienenden Stellung noch nicht recht angepasst, etwas zu kühn, diesen Portier ohne weiters umständlich und dringlich ausgefragt hatte, ob nicht zwei Männer vielleicht nach ihm gefragt und etwa eine Fotografie für ihn zurückgelassen hätten. "Jetzt siehst du, wohin ein solches Benehmen führt", sagte der Portier, der wieder ganz nahe zu Josie zurückgekehrt war, und zeigte auf den noch lesenden Oberkellner, als sei dieser der Vertreter seiner Rache. "In deiner nächsten Stellung wirst du es schon verstehn, den Portier zu grüßen und wenn es auch nur vielleicht in einer elenden Spelunke sein wird."
Josie sah ein, dass er eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn der Oberkellner hatte es bereits ausgesprochen, der Oberportier als fertige Tatsache wiederholt und wegen eines Liftjungen dürfte wohl die Bestätigung der Entlassung seitens der Hoteldirektion nicht nötig sein. Es war allerdings schneller gegangen, als er gedacht hatte, denn schließlich hatte er doch zwei Monate gedient, so gut er konnte, und gewiss besser, als mancher andere Junge. Aber auf solche Dinge wird eben im entscheidenden Augenblick offenbar in keinem Weltteil, weder in Europa noch in Amerika, Rücksicht genommen, sondern es wird so entschieden, wie einem in der ersten Wut das Urteil aus dem Munde fährt. Vielleicht wäre es jetzt am besten gewesen, wenn er sich gleich verabschiedet hätte und weggegangen wäre, die Oberköchin und Therese schliefen vielleicht noch, er hätte sich, um ihnen die Enttäuschung und Trauer über sein Benehmen wenigstens beim persönlichen Abschied zu ersparen, brieflich verabschieden können, hätte rasch seinen Koffer packen und in der Stille fort gehn können. Blieb er aber auch nur einen Tag noch — und er hätte allerdings ein wenig Schlaf gebraucht — so erwartete ihn nichts anderes, als Aufbauschung seiner Sache zum Skandal, Vorwürfe von allen Seiten, der unerträgliche Anblick der Tränen Thereses und vielleicht gar der Oberköchin und möglicherweise zu guter Letzt auch noch eine Bestrafung. Andererseits aber beirrte es ihn, dass er hier zwei Feinden gegenüberstand und dass an jedem Wort, das er aussprechen würde, wenn nicht der eine, so der andere etwas aussetzen und zum Schlechten deuten würde. Deshalb schwieg er und genoss vorläufig die Ruhe, die im Zimmer herrschte, denn der Oberkellner las noch immer die Zeitung und der Oberportier ordnete sein über den Tisch hin verstreutes Verzeichnis nach den Seitenzahlen, was ihm bei seiner offenbaren Kurzsichtigkeit große Schwierigkeiten machte.
Endlich legte der Oberkellner die Zeitung gähnend hin, vergewisserte sich durch einen Blick auf Josie, dass dieser noch anwesend sei und drehte die Glocke des Tischtelefons an. Er rief mehrere Male Hallo, aber niemand meldete sich. "Es meldet sich niemand", sagte er zum Oberportier. Dieser, der das Telefonieren, wie es Josie schien, mit besonderem Interesse beobachtete, sagte: "Es ist ja schon dreiviertel sechs. Sie ist gewiss schon wach. Läuten Sie nur stärker." In diesem Augenblick kam, ohne weitere Aufforderung, das telefonische Gegenzeichen. "Hier Oberkellner Isbary", sagte der Oberkellner. "Guten Morgen, Frau Oberköchin. Ich habe Sie doch nicht am Ende geweckt. Das tut mir sehr leid. Ja, ja, dreiviertel sechs ist schon. Aber das tut mir aufrichtig leid, dass ich Sie erschreckt habe. Sie sollten während des Schlafens das Telefon abstellen. Nein, nein, tatsächlich, es gibt für mich keine Entschuldigung, besonders bei der Geringfügigkeit der Sache, wegen deren ich Sie sprechen will. Aber natürlich habe ich Zeit, bitte sehr, ich bleibe beim Telefon, wenn es Ihnen recht ist." "Sie muss im Nachthemd zum Telefon gelaufen sein", sagte der Oberkellner lächelnd zum Oberportier, der die ganze Zeit über mit gespanntem Gesichtsausdruck zum Telefonkasten sich gebückt gehalten hatte. "Ich habe sie wirklich geweckt, sie wird nämlich sonst von dem kleinen Mädel, das bei ihr auf der Schreibmaschine schreibt, geweckt und die muss es heute ausnahmsweise versäumt haben. Es tut mir leid, dass ich sie aufgeschreckt habe, sie ist sowieso nervös." "Warum spricht sie nicht weiter?" "Sie ist nachschauen gegangen, was mit dem Mädel los ist", antwortete der Oberkellner schon mit der Muschel am Ohr, denn es läutete wieder. "Sie wird sich schon finden", redete er weiter ins Telefon hinein. "Sie dürfen sich nicht von allem so erschrecken lassen, Sie brauchen wirklich eine gründliche Erholung. Ja also, meine kleine Anfrage. Es ist da ein Liftjunge, namens" —er drehte sich fragend nach Josie um, der, da er genau aufpasste, gleich mit seinem Namen aushelfen konnte — "also namens Josie Rossmann, wenn ich mich recht erinnere, so haben Sie sich für ihn ein wenig interessiert; leider hat er ihre Freundlichkeit schlecht belohnt, er hat ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, hat mir dadurch schwere, jetzt noch gar nicht übersehbare, Unannehmlichkeiten verursacht und ich habe ihn daher soeben entlassen. Ich hoffe, Sie nehmen die Sache nicht tragisch. Wie meinen Sie? Entlassen, ja, entlassen. Aber ich sagte Ihnen doch, dass er seinen Posten verlassen hat. Nein, da kann ich Ihnen wirklich nicht nachgeben, liebe Frau Oberköchin. Es handelt sich um meine Autorität, da steht viel auf dem Spiel, so ein Junge verdirbt mir die ganze Bande. Gerade bei den Liftjungen muss man teuflisch aufpassen. Nein, nein, in diesem Falle kann ich Ihnen den Gefallen nicht tun, so sehr ich es mir immer angelegen sein lasse, Ihnen gefällig zu sein. Und wenn ich ihn schon trotz allem hier ließe, zu keinem andern Zweck, als um meine Galle in Tätigkeit zu erhalten, ihretwegen, ja, ihretwegen Frau Oberköchin, kann er nicht hier bleiben. Sie nehmen einen Anteil an ihm, den er durchaus nicht verdient und da ich nicht nur ihn kenne, sondern auch Sie, weiß ich, dass das zu den schwersten Enttäuschungen für Sie führen müsste, die ich Ihnen um jeden Preis ersparen will. Ich sage das ganz offen, trotzdem der verstockte Junge paar Schritte vor mir steht. Er wird entlassen, nein, nein, Frau Oberköchin, er wird vollständig entlassen, nein, nein, er wird zu keiner andern Arbeit versetzt, er ist vollständig unbrauchbar. Übrigens laufen ja auch sonst Beschwerden gegen ihn ein. Der Oberportier z.B., ja also, was denn, Feodor, ja, beklagt sich über die Unhöflichkeit und Frechheit dieses Jungen. Wie, das soll nicht genügen? Ja, liebe Frau Oberköchin, Sie verleugnen wegen dieses Jungen ihren Charakter. Nein, so dürfen Sie mir nicht zusetzen."
In diesem Augenblick beugte sich der Portier zum Ohr des Oberkellners und flüsterte etwas. Der Oberkellner sah ihn zuerst erstaunt an und redete dann so rasch in das Telefon, dass Josie ihn anfangs nicht ganz genau verstand und auf den Fußspitzen zwei Schritte näher trat.
"Liebe Frau Oberköchin", hieß es, "aufrichtig gesagt, ich hätte nicht geglaubt, dass Sie eine so schlechte Menschenkennerin sind. Eben erfahre ich etwas über ihren Engelsjungen, was ihre Meinung über ihn gründlich ändern wird, und es tut mir fast leid, dass gerade ich es Ihnen sagen muss. Dieser feine Junge also, den Sie ein Muster von Anstand nennen, lässt keine dienstfreie Nacht vergehn, ohne in die Stadt zu laufen, aus der er erst am Morgen wiederkommt. Ja, ja, Frau Oberköchin, das ist durch Zeugen bewiesen, durch einwandfreie Zeugen, ja. Können Sie mir nun vielleicht sagen, wo er das Geld zu diesen Lustbarkeiten her nimmt? Wie er die Aufmerksamkeit für seinen Dienst behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auch noch, dass ich Ihnen beschreiben soll, was er in der Stadt treibt? Diesen Jungen loszuwerden, will ich mich aber ganz besonders beeilen. Und Sie, bitte, nehmen das als Mahnung, wie vorsichtig man gegen hergelaufene Burschen sein soll."
"Aber Herr Oberkellner", rief nun Josie, förmlich erleichtert durch den großen Irrtum, der hier unterlaufen schien, und der vielleicht am ehesten dazu führen konnte, dass sich alles noch unerwartet besserte, "da liegt bestimmt eine Verwechslung vor. Ich glaube, der Herr Oberportier hat Ihnen gesagt, dass ich jede Nacht weggehe. Das ist aber durchaus nicht richtig, ich bin vielmehr jede Nacht im Schlafsaal, das können alle Jungen bestätigen. Wenn ich nicht schlafe, lerne ich kaufmännische Korrespondenz, aber aus dem Schlafsaal rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zu beweisen. Der Herr Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemand anderem, und jetzt verstehe ich auch, warum er glaubt, dass ich ihn nicht grüße."
"Wirst du sofort schweigen", schrie der Oberportier und schüttelte die Faust, wo andere einen Finger bewegt hätten, "ich soll dich mit jemand andern verwechseln. Ja, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, wenn ich die Leute verwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary, dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, nun ja, wenn ich die Leute verwechsle. In meinen dreißig Dienstjahren ist mir allerdings noch keine Verwechslung passiert, wie mir Hunderte von Herren Oberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten, bestätigen müssen, aber bei dir, miserabler Junge, soll ich mit den Verwechslungen angefangen haben. Bei dir, mit deiner auffallenden, glatten Fratze. Was gibt es da zu verwechseln, du könntest jede Nacht hinter meinem Rücken in die Stadt gelaufen sein, und ich bestätige bloß nach deinem Gesicht, dass du ein ausgegorener Lump bist." "Lass, Feodor!" sagte der Oberkellner, dessen telefonisches Gespräch mit der Oberköchin plötzlich abgebrochen worden zu sein schien. "Die Sache ist ja ganz einfach. Auf seine Unterhaltungen in der Nacht kommt es ja in erster Reihe gar nicht an. Er möchte ja vielleicht vor seinem Abschied noch irgendeine große Untersuchung über seine Nachtbeschäftigung verursachen wollen. Ich kann mir schon vorstellen, dass ihm das gefallen würde. Es würden womöglich alle vierzig Liftjungen herauf zitiert und als Zeugen einvernommen, die würden ihn natürlich auch alle verwechselt haben, es müsste also allmählich das ganze Personal zur Zeugenschaft heran, der Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt und wenn er dann schließlich doch herausgeworfen würde, so hätte er doch wenigstens seinen Spaß gehabt. Also das machen wir lieber nicht. Die Oberköchin, diese gute Frau, hat er schon zum Narren gehalten und damit soll es genug sein. Ich will nichts weiter hören, du bist wegen Dienstversäumnisses auf der Stelle aus dem Dienst entlassen. Da gebe ich dir eine Anweisung an die Kasse, dass dir dein Lohn bis zum heutigen Tag ausgezahlt werde. Das ist übrigens bei deinem Verhalten, unter uns gesagt, einfach ein Geschenk, das ich dir nur aus Rücksicht auf die Frau Oberköchin mache."
Ein telefonischer Anruf hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zu unterschreiben. "Die Liftjungen geben mir aber heute zu schaffen!" rief er schon nach Anhören der ersten Worte. "Das ist ja unerhört!" rief er nach einem Weilchen. Und vom Telefon weg wandte er sich zum Hotelportier und sagte: "Bitte, Feodor, halt mal diesen Burschen ein wenig, wir werden noch mit ihm zu reden haben." Und ins Telefon gab er den Befehl: "Komm sofort herauf!" Nun konnte sich der Oberportier wenigstens austoben, was ihm beim Reden nicht hatte gelingen wollen. Er hielt Josie oben am Arm fest, aber nicht etwa mit ruhigem Griff, der schließlich auszuhalten gewesen wäre, sondern er lockerte hier und da den Griff und machte ihn dann mit Steigerung fester und fester, was bei seinen großen Körperkräften gar nicht aufzuhören schien und ein Dunkel vor Josies Augen verursachte. Aber er hielt Josie nicht nur, sondern, als hätte er auch den Befehl bekommen, ihn gleichzeitig zu strecken, zog er ihn auch hier und da in die Höhe und schüttelte ihn, wobei er immer wieder halb fragend zum Oberkellner sagte: "Ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle, ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle."
Es war eine Erlösung für Josie, als der oberste der Liftjungen, ein gewisser Bess, ein ewig fauchender, dicker Junge eintrat und die Aufmerksamkeit des Oberportiers ein wenig auf sich lenkte. Josie war so ermattet, dass er kaum grüßte, als er zu seinem Staunen hinter dem Jungen Therese leichenblass, unordentlich angezogen, mit lose aufgesteckten Haaren herein schlüpfen sah. Im Augenblick war sie bei ihm und flüsterte: "Weiß es schon die Oberköchin?" "Der Oberkellner hat es ihr telefoniert", antwortete Josie. "Dann ist schon gut, dann ist schon gut", sagte sie rasch mit lebhaften Augen. "Nein", sagte Josie, "du weißt ja nicht, was sie gegen mich haben. Ich muss weg, die Oberköchin ist davon auch schon überzeugt. Bitte, bleib nicht hier, geh hinauf, ich werde mich dann von dir verabschieden kommen." "Aber Rossmann, was fällt dir denn ein. Du wirst schön bei uns bleiben, so lange es dir gefällt. Der Oberkellner macht ja alles, was die Oberköchin will, er liebt sie ja, ich habe es letzthin zufällig erfahren. Da sei nur ruhig." "Bitte, Therese, geh jetzt weg. Ich kann mich nicht so gut verteidigen, wenn du hier bist. Und ich muss mich genau verteidigen, weil Lügen gegen mich vorgebracht werden. Je besser ich aber aufpassen und mich verteidigen kann, desto mehr Hoffnung ist, dass ich bleibe. Also, Therese—". Leider konnte er in einem plötzlichen Schmerz nicht unterlassen leise hinzuzufügen: "Wenn mich nur dieser Oberportier loslassen würde! Ich wusste gar nicht, dass er mein Feind ist. Aber wie er mich immerfort drückt und zieht." "Warum sage ich das nur!" dachte er gleichzeitig, "kein Frauenzimmer kann das ruhig anhören", und tatsächlich wendete sich Therese, ohne dass er sie noch mit der freien Hand hätte davon abhalten können, an den Oberportier: "Herr Oberportier, bitte lassen Sie doch sofort den Rossmann frei. Sie machen ihm ja Schmerzen. Die Frau Oberköchin wird gleich persönlich kommen und dann wird man schon sehen, dass ihm in allem Unrecht geschieht. Lassen Sie ihn los, was kann es Ihnen denn für ein Vergnügen machen, ihn zu quälen." Und sie griff sogar nach des Oberportiers Hand. "Befehl, kleines Fräulein, Befehl", sagte der Oberportier und zog mit der freien Hand Therese freundlich an sich, während er mit der andern Josie nun sogar angestrengter drückte, als wolle er ihm nicht nur Schmerzen machen, sondern als habe er mit diesem, in seinem Besitz befindlichen Arm ein besonderes Ziel, das noch lange nicht erreicht sei.
Therese brauchte einige Zeit, um sich der Umarmung des Oberportiers zu entwinden und wollte sich gerade beim Oberkellner, der noch immer von dem sehr umständlichen Bess sich erzählen ließ, für Josie einsetzen, als die Oberköchin mit raschem Schritte eintrat. "Gott sei Dank", rief Therese und man hörte einen Augenblick im Zimmer nichts als diese lauten Worte. Gleich sprang der Oberkellner auf und schob Bess zur Seite: "Sie kommen also selbst, Frau Oberköchin. Wegen dieser Kleinigkeit? Nach unserem Telefongespräch konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe ich es eigentlich doch nicht. Und dabei wird die Sache ihres Schützlings immerfort ärger. Ich fürchte, ich werde ihn tatsächlich nicht entlassen, aber dafür einsperren lassen müssen. Hören Sie selbst!" Und er winkte Bess herbei. "Ich möchte zuerst paar Worte mit dem Rossmann reden", sagte die Oberköchin und setzte sich auf einen Sessel, da sie der Oberkellner hierzu nötigte. "Josie, bitte komm näher", sagte sie dann. Josie folgte oder wurde vielmehr vom Oberportier näher geschleppt. "Lassen Sie ihn doch los", sagte die Oberköchin ärgerlich, "er ist doch kein Raubmörder." Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte Josie aber vorher noch einmal so stark, dass ihm selbst vor Anstrengung die Tränen in die Augen traten.
"Josie", sagte die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß und sah Josie mit geneigtem Kopfe an — es war gar nicht wie ein Verhör —, "vor allem will ich dir sagen, dass ich noch vollständiges Vertrauen zu dir habe. Auch der Herr Oberkellner ist ein gerechter Mann, dafür bürge ich. Wir beide wollen dich im Grunde gerne hier behalten." — Sie sah hierbei flüchtig zum Oberkellner hinüber, als wolle sie bitten, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es geschah auch nicht: "Vergiss also, was man dir bis jetzt vielleicht hier gesagt hat. Vor allem, was dir vielleicht der Herr Oberportier gesagt hat, musst du nicht besonders schwer nehmen. Er ist zwar ein aufgeregter Mann, was bei seinem Dienst kein Wunder ist, aber er hat auch Frau und Kinder und weiß, dass man einen Jungen, der nur auf sich angewiesen ist, nicht unnötig plagen muss, sondern dass das schon die übrige Welt genügend besorgt."
Es war ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah Erklärungen fordernd auf den Oberkellner, dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte den Kopf. Der Liftjunge Bess grinste recht sinnlos hinter dem Rücken des Oberkellners. Therese schluchzte vor Freude und Leid in sich hinein und hatte alle Mühe, es niemanden hören zu lassen.
Josie aber blickte, trotzdem das nur als schlechtes Zeichen aufgefasst werden konnte, nicht auf die Oberköchin, die gewiss nach seinem Blick verlangte, sondern vor sich auf den Fußboden. In seinem Arm zuckte der Schmerz nach allen Richtungen, das Hemd klebte an dem Striemen fest und er hätte eigentlich den Rock ausziehen und die Sache besehen sollen. Was die Oberköchin sagte, war natürlich sehr freundlich gemeint, aber unglücklicher Weise schien es ihm, als müsse es gerade durch das Verhalten der Oberköchin zu Tage treten, dass er keine Freundlichkeit verdiene, dass er die Wohltaten der Oberköchin zwei Monate unverdient genossen habe, ja, dass er nichts anderes verdiene, als unter die Hände des Oberportiers zu kommen. "Ich sage das", fuhr die Oberköchin fort, "damit du jetzt unbeirrt antwortest, was du übrigens wahrscheinlich auch sonst getan hättest, wie ich dich zu kennen glaube."
"Darf ich bitte inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich inzwischen verbluten", mischte sich plötzlich der Liftjunge Bess sehr höflich, aber sehr störend ein.
"Geh", sagte der Oberkellner zu Bess, der gleich davon lief. Und dann zur Oberköchin: "Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen da nicht zum Spaß festgehalten. Unten im Schlafsaal der Liftjungen ist nämlich in einem Bett sorgfältig zugedeckt ein wildfremder, schwer betrunkener Mann aufgefunden worden. Man hat ihn natürlich geweckt und wollte ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einen großen Radau zu machen angefangen, immer wieder herum geschrien, der Schlafsaal gehöre dem Josie Rossmann, dessen Gast er sei, der ihn hergebracht habe und der jeden bestrafen werde, der ihn anzurühren wagen würde. Im Übrigen müsse er auch deshalb auf den Josie Rossmann warten, weil ihm dieser Geld versprochen habe und es nur holen gegangen sei. Achten Sie bitte darauf, Frau Oberköchin: Geld versprochen habe und es holen gegangen sei. Du kannst auch Acht geben, Rossmann", sagte der Oberkellner nebenbei zu Josie, der sich gerade nach Therese umgedreht hatte, die wie gebannt den Oberkellner anstarrte, und die immer wieder entweder irgendwelche Haare aus der Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrer selbst Willen machte. "Aber vielleicht erinnere ich dich an irgendwelche Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin gesagt, dass ihr beide nach deiner Rückkunft einen Nachtbesuch bei irgendeiner Sängerin machen werdet, deren Namen allerdings niemand verstanden hat, da ihn der Mann immer nur unter Gesang aussprechen konnte."
Hier unterbrach sich der Oberkellner, denn die sichtlich bleich gewordene Oberköchin erhob sich vom Sessel, den sie ein wenig zurück stieß. "Ich verschone Sie mit dem weitern", sagte der Oberkellner. "Nein, bitte nein", sagte die Oberköchin und ergriff seine Hand, "erzählen Sie nur weiter, ich will alles hören, darum bin ich ja hier." Der Oberportier, der vortrat und sich zum Zeichen dessen, dass er von Anfang an alles durchschaut hatte, laut auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner mit den Worten: "Ja, Sie hatten ganz recht, Feodor!" gleichzeitig beruhigt und zurückgewiesen.
"Es ist nicht mehr viel zu erzählen", sagte der Oberkellner. "Wie die Jungen eben schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht, haben dann mit ihm Streit bekommen und er ist, da dort immer gute Boxer zur Verfügung stehen, einfach nieder geboxt worden und ich habe gar nicht zu fragen gewagt, an welchen und an wie viel Stellen er blutet, denn diese Jungen sind fürchterliche Boxer, und ein Betrunkener macht es ihnen natürlich leicht."
"So", sagte die Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf den Platz, den sie eben verlassen hatte. "Also, sprich doch bitte ein Wort, Rossmann!" sagte sie dann. Therese war von ihrem bisherigen Platz zur Oberköchin hinüber gelaufen und hatte sich, was sie Josie sonst niemals hatte tun sehen, in die Oberköchin eingehängt. Der Oberkellner stand knapp hinter der Oberköchin und glättete langsam einen kleinen, bescheidenen Spitzenkragen der Oberköchin, der sich ein wenig umgeschlagen hatte. Der Oberportier neben Josie sagte: "Also, wirds?" wollte damit aber nur einen Stoß maskieren, den er unterdessen Josie in den Rücken gab.
"Es ist wahr", sagte Josie, infolge des Stoßes unsicherer als er wollte, "dass ich den Mann in den Schlafsaal gebracht habe."
"Mehr wollen wir nicht wissen", sagte der Portier im Namen aller. Die Oberköchin wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.
"Ich konnte mir nicht anders helfen", sagte Josie weiter. "Der Mann ist mein Kamerad von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei Monate lang nicht gesehen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu machen, war aber so betrunken, dass er nicht wieder allein fort gehn konnte."
Der Oberkellner sagte neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: "Er kam also zu Besuch und war nachher so betrunken, dass er nicht fortgehen konnte." Die Oberköchin flüsterte über die Schulter dem Oberkellner etwas zu, der mit einem offenbar nicht zu dieser Sache gehörigen Lächeln Einwände zu machen schien. Therese — Josie sah nur zu ihr hin — drückte ihr Gesicht in völliger Hilflosigkeit an die Oberköchin und wollte nichts mehr sehen. Der Einzige, der mit Josies Erklärung vollständig zufrieden war, war der Oberportier, welcher einige Mal wiederholte: "Es ist ja ganz recht, seinem Saufbruder muss man helfen", und diese Erklärung jedem der Anwesenden durch Blicke und Handbewegungen einzuprägen suchte.
"Schuld also bin ich", sagte Josie und machte eine Pause, als warte er auf ein freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weitern Verteidigung geben könnte, aber es kam nicht, "schuld bin ich nur daran, dass ich den Mann, er heißt Robinson, ist ein Irländer, in den Schlafsaal gebracht habe. Alles andere, was er gesagt hat, hat er aus Betrunkenheit gesagt und es ist nicht richtig."
"Du hast ihm also kein Geld versprochen?" fragte der Oberkellner.
"Ja", sagte Josie und es tat ihm Leid, dass er daran vergessen hatte, er hatte sich aus Unüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten Ausdrücken als schuldlos bezeichnet. "Geld habe ich ihm versprochen, weil er mich darum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht holen, sondern ihm das Trinkgeld geben, das ich heute Nacht verdient hatte." Und er zog zum Beweise das Geld aus der Tasche und zeigte auf der flachen Hand die paar kleinen Münzen.
"Du verrennst dich immer mehr", sagte der Oberkellner. "Wenn man dir glauben sollte, müsste man immer das, was du früher gesagt hast, vergessen. Zuerst hast du also den Mann — nicht einmal den Namen Robinson glaube ich dir, so hat, seitdem es ein Irland gibt, kein Irländer geheißen — zuerst also hast du ihn nur in den Schlafsaal gebracht, wofür allein du übrigens schon im Schwung heraus fliegen könntest — Geld aber hast du ihm zuerst nicht versprochen, dann wieder, wenn man dich überraschend fragt, hast du ihm Geld versprochen. Aber wir haben hier kein Antwort- und Fragespiel, sondern wollen deine Rechtfertigung hören. Zuerst aber wolltest du das Geld nicht holen, sondern ihm dein heutiges Trinkgeld geben, dann aber zeigt sich, dass du dieses Geld noch bei dir hast, also offenbar doch noch anderes Geld holen wolltest, wofür auch dein langes Ausbleiben spricht. Schließlich wäre es ja nichts Besonderes, wenn du für ihn aus deinem Koffer hättest Geld holen wollen, dass du es aber mit aller Kraft leugnest, das ist allerdings etwas Besonderes. Ebenso wie du auch immerfort verschweigen willst, dass du den Mann erst hier im Hotel betrunken gemacht hast, woran ja nicht der geringste Zweifel ist, denn du selbst hast zugegeben, dass er allein gekommen ist, aber nicht allein weggehen konnte und er selbst hat ja im Schlafsaal herum geschrien, dass er dein Gast ist. Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die du, wenn du die Sache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man aber schließlich auch ohne deine Mithilfe wird feststellen können: Erstens, wie hast du dir den Zutritt zu den Vorratskammern verschafft, und zweitens, wieso hast du verschenkbares Geld angesammelt?"
"Es ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist", sagte sich Josie und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr darunter wahrscheinlich Therese litt. Er wusste, dass alles, was er sagen konnte, hinterher ganz anders aussehen würde, als es gemeint gewesen war, und dass es nur der Art der Beurteilung überlassen bliebe, Gutes oder Böses vorzufinden.
"Er antwortet nicht", sagte die Oberköchin.
"Es ist das Vernünftigste, was er tun kann", sagte der Oberkellner.
"Er wird sich schon noch etwas ausdenken", sagte der Oberportier und strich mit der früher grausamen Hand behutsam seinen Bart.
"Sei still", sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu schluchzen begann, "Du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich denn da etwas für ihn tun. Schließlich bin ich es, die vor dem Herrn Oberkellner Unrecht behält. Sag doch, Therese, habe ich deiner Meinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?" Wie konnte das Therese wissen und was nützte es, dass sich die Oberköchin durch diese öffentlich an das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte vor den beiden Herren vielleicht viel vergab?
"Frau Oberköchin", sagte Josie, der sich noch einmal aufraffte, aber nur, um Therese die Antwort zu ersparen, zu keinem andern Zweck, "ich glaube nicht, dass ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe, und nach genauer Untersuchung müsste das auch jeder andere finden."
"Jeder andere", sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den Oberkellner, "das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary."
"Nun, Frau Oberköchin", sagte dieser, "es ist halb sieben, hohe und höchste Zeit. Ich denke, Sie lassen mir am besten das Schlusswort in dieser schon allzu duldsam behandelten Sache."
Der kleine Giacomo war hereingekommen, wollte zu Josie treten, ließ aber, durch die allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und wartete.
Die Oberköchin hatte seit Josies letzten Worten den Blick nicht von ihm gewendet und es deutete auch nichts darauf hin, dass sie die Bemerkung des Oberkellners gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf Josie hin, sie waren groß und blau, aber ein wenig getrübt, durch das Alter und die viele Mühe. Wie sie so dastand und den Sessel vor sich schwach schaukelte, hätte man ganz gut erwarten können, sie werde im nächsten Augenblicke sagen: "Nun, Josie, die Sache ist, wenn ich es überlege, noch nicht recht klar gestellt und braucht, wie du es richtig gesagt hast, noch eine genaue Untersuchung. Und die wollen wir jetzt veranstalten, ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht, denn Gerechtigkeit muss sein."
Statt dessen aber sagte die Oberköchin, nach einer kleinen Pause, die niemand zu unterbrechen gewagt hatte — nur die Uhr schlug in Bestätigung der Worte des Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie jeder wusste, gleichzeitig alle Uhren im ganzen Hotel, es klang im Ohr und in der Ahnung wie das zweimalige Zucken einer einzigen großen Ungeduld: "Nein, Josie, nein, nein! Das wollen wir uns nicht einreden. Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehen und das hat, ich muss es gestehn, deine Sache nicht. Ich darf das sagen und muss es auch sagen, denn ich bin es, die mit dem besten Vorurteil für dich hergekommen ist. Du siehst, auch Therese schweigt." Aber sie schwieg doch nicht, sie weinte.
Die Oberköchin stockte in einem plötzlich sie überkommenden Entschluss und sagte: "Josie, komm einmal her", und als er zu ihr gekommen war — gleich vereinigten sich hinter seinem Rücken der Oberkellner und der Oberportier zu lebhaftem Gespräch — umfasste sie ihn mit der linken Hand, ging mit ihm und der willenlos folgenden Therese in die Tiefe des Zimmers und dort mit beiden einige Male auf und ab, wobei sie sagte: "Es ist möglich, Josie, und darauf scheinst du zu vertrauen, sonst würde ich dich überhaupt nicht verstehn, dass eine Untersuchung dir in einzelnen Kleinigkeiten Recht geben wird. Warum denn nicht? Du hast vielleicht tatsächlich den Oberportier gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch, was ich von dem Oberportier zu halten habe, du siehst, ich rede selbst jetzt noch offen zu dir. Aber solche kleine Rechtfertigungen helfen dir gar nichts. Der Oberkellner, dessen Menschenkenntnis ich im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt habe und welcher der verlässlichste Mensch ist, den ich überhaupt kenne, hat deine Schuld klar ausgesprochen und die scheint mir allerdings unwiderleglich. Vielleicht hast du bloß unüberlegt gehandelt, vielleicht aber bist du nicht der, für den ich dich gehalten habe. Und doch", damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und sah nur flüchtig nach den beiden Herren zurück, "kann ich es mir noch nicht abgewöhnen, dich für einen im Grunde anständigen Jungen zu halten."
"Frau Oberköchin! Frau Oberköchin", mahnte der Oberkellner, der ihren Blick aufgefangen hatte.
"Wir sind gleich fertig", sagte die Oberköchin und redete nun schneller auf Josie ein: "Höre, Josie, so wie ich die Sache übersehe, bin ich noch froh, dass der Oberkellner keine Untersuchung einleiten will, denn wollte er sie einleiten, ich müsste es in deinem Interesse verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womit du den Mann bewirtet hast, der übrigens nicht einer deiner früheren Kameraden gewesen sein kann, wie du vorgibst, denn mit denen hast du ja zum Abschied großen Streit gehabt, so dass du nicht jetzt einen von ihnen traktieren wirst. Es kann also nur ein Bekannter sein, mit dem du dich leichtsinniger Weise in der Nacht in irgendeiner städtischen Kneipe verbrüdert hast. Wie konntest du mir, Josie, alle diese Dinge verbergen? Wenn es dir im Schlafsaal vielleicht unerträglich war und du zuerst aus diesem unschuldigen Grunde mit deinem Nachtschwärmen angefangen hast, warum hast du denn kein Wort davon gesagt, du weißt, ich wollte dir ein eigenes Zimmer verschaffen und habe darauf geradezu erst über deine Bitten verzichtet. Es scheint jetzt, als hättest du den allgemeinen Schlafsaal vorgezogen, weil du dich dort ungebundener fühltest. Und dein Geld hattest du doch in meiner Kasse aufgehoben und die Trinkgelder brachtest du mir jede Woche, woher um Gotteswillen, Junge, hast du das Geld für deine Vergnügungen genommen und woher wolltest du jetzt das Geld für deinen Freund holen? Das sind natürlich lauter Dinge, die ich wenigstens jetzt dem Oberkellner gar nicht andeuten darf, denn dann wäre vielleicht eine Untersuchung unausweichlich. Du musst also unbedingt aus dem Hotel, und zwar so schnell als möglich. Geh direkt in die Pension Brenner — du warst doch schon mehrmals mit Therese dort — sie werden dich auf diese Empfehlung hin umsonst aufnehmen," — und die Oberköchin schrieb mit einem goldenen Crayon, den sie aus der Bluse zog, einige Zeilen auf eine Visitenkarte, wobei sie aber die Rede nicht unterbrach: "Deinen Koffer werde ich dir gleich nachschicken. Therese, lauf doch in die Garderobe der Liftjungen und pack seinen Koffer", aber Therese rührte sich noch nicht, sondern wollte, wie sie alles Leid ausgehalten hatte, nun auch die Wendung zum Bessern, welche die Sache Josies dank der Güte der Oberköchin nahm, ganz miterleben.
Jemand öffnete, ohne sich zu zeigen, ein wenig die Tür und schloss sie gleich wieder. Es musste offenbar Giacomo gegolten haben, denn dieser trat vor und sagte: "Rossmann, ich habe dir etwas auszurichten." "Gleich", sagte die Oberköchin und steckte Josie, der mit gesenktem Kopf ihr zugehört hatte, die Visitenkarte in die Tasche, "dein Geld behalte ich vorläufig, du weißt, du kannst es mir anvertrauen. Heute bleib zu Hause und überlege deine Angelegenheit, morgen — heute habe ich nicht Zeit, auch habe ich mich schon viel zu lange hier aufgehalten — komme ich zu Brenner und wir werden zusehen, was wir weiter für dich machen können. Verlassen werde ich dich nicht, das sollst du jedenfalls schon heute wissen. Über deine Zukunft musst du dir keine Sorgen machen, eher über die letzt vergangene Zeit." Darauf klopfte sie ihm leicht auf die Schulter und ging zum Oberkellner hinüber; Josie hob den Kopf und sah der großen stattlichen Frau nach, die sich in ruhigem Schritt und freier Haltung von ihm entfernte.
"Bist du denn gar nicht froh", sagte Therese, die bei ihm zurückgeblieben war, "dass alles so gut ausgefallen ist?" "Oh ja", sagte Josie und lächelte ihr zu, wusste aber nicht, warum er darüber froh sein sollte, dass man ihn als einen Dieb wegschickte. Aus Thereses Augen strahlte die Freude, als sei es ihr ganz gleichgültig, ob Josie etwas verbrochen hatte oder nicht, ob er gerecht beurteilt worden war oder nicht, wenn man ihn nur gerade entwischen ließ, in Schande oder in Ehren. Und so verhielt sich gerade Therese, die doch in ihren eigenen Angelegenheiten so peinlich war und ein nicht ganz eindeutiges Wort der Oberköchin wochenlang in ihren Gedanken drehte und untersuchte. Mit Absicht fragte er: "Wirst du meinen Koffer gleich packen und wegschicken?" Er musste gegen seinen Willen vor Staunen den Kopf schütteln, so schnell fand sich Therese in die Frage hinein und die Überzeugung, dass in dem Koffer Dinge waren, die man vor allen Leuten geheim halten musste, ließ sie gar nicht nach Josie hin sehn, gar nicht ihm die Hand reichen, sondern nur flüstern: "Natürlich, Josie, gleich, gleich werde ich den Koffer packen." Und schon war sie davongelaufen.
Nun ließ sich aber Giacomo nicht mehr halten, und aufgeregt durch das lange Warten, rief er laut: "Rossmann, der Mann wälzt sich unten im Gang und will sich nicht wegschaffen lassen. Sie wollten ihn ins Krankenhaus bringen lassen, aber er wehrt sich und behauptet, du würdest niemals dulden, dass er ins Krankenhaus kommt. Man solle ein Automobil nehmen und ihn nach Hause schicken, du werdest das Automobil bezahlen. Willst du?"
"Der Mann hat Vertrauen zu dir", sagte der Oberkellner. Josie zuckte mit den Schultern und zählte Giacomo sein Geld in die Hand: "Mehr habe ich nicht", sagte er dann.
"Ich soll dich auch fragen, ob du mitfahren willst", fragte noch Giacomo, mit dem Gelde klimpernd.
"Er wird nicht mitfahren", sagte die Oberköchin.
"Also, Rossmann", sagte der Oberkellner schnell und wartete gar nicht, bis Giacomo draußen war, "du bist auf der Stelle entlassen."
Der Oberportier nickte mehrere Male, als wären es seine eigenen Worte, die der Oberkellner nur nachspreche.
"Die Gründe deiner Entlassung kann ich gar nicht laut aussprechen, denn sonst müsste ich dich einsperren lassen."
Der Oberportier sah auffallend streng zur Oberköchin hinüber, denn er hatte wohl erkannt, dass sie die Ursache dieser allzu milden Behandlung war.
"Jetzt geh zu Bess, zieh dich um, übergib Bess deine Livree, und verlasse sofort, aber sofort, das Haus."
Die Oberköchin schloss die Augen, sie wollte damit Josie beruhigen. Während er sich zum Abschied verbeugte, sah er flüchtig, wie der Oberkellner die Hand der Oberköchin wie im Geheimen umfasste und mit ihr spielte. Der Oberportier begleitete Josie mit schweren Schritten bis zur Tür, die er ihn nicht schließen ließ, sondern selbst noch offen hielt, um Josie nachschreien zu können: "In einer Viertelminute will ich dich beim Haupttor an mir vorübergehen sehn, merk dir das."
Josie beeilte sich, wie er nur konnte, um nur beim Haupttor eine Belästigung zu vermeiden, aber es ging alles viel langsamer, als er wollte. Zuerst war Bess nicht gleich zu finden und jetzt in der Frühstückszeit war alles voll Menschen, dann zeigte sich, dass ein Junge sich Josies alte Hosen ausgeborgt hatte und Josie musste die Kleiderständer bei fast allen Betten absuchen, ehe er diese Hosen fand, so dass wohl fünf Minuten vergangen waren, ehe Josie zum Haupttor kam. Gerade vor ihm ging eine Dame mitten zwischen vier Herren. Sie gingen alle auf ein großes Automobil zu, das sie erwartete und dessen Schlag bereits ein Lakai geöffnet hielt, während er den freien, linken Arm seitwärts waagrecht und steif ausstreckte, was höchst feierlich aussah. Aber Josie hatte umsonst gehofft, hinter dieser vornehmen Gesellschaft unbemerkt hinauszukommen. Schon fasste ihn der Oberportier bei der Hand und zog ihn zwischen zwei Herren hindurch, die er um Verzeihung bat, zu sich hin. "Das soll eine Viertelminute gewesen sein", sagte er und sah Josie von der Seite an, als beobachte er eine schlecht gehende Uhr. "Komm einmal her", sagte er dann und führte ihn in die große Portiersloge, die Josie zwar schon längst einmal anzusehen Lust gehabt hatte, in die er aber jetzt, von dem Portier geschoben, nur mit Misstrauen eintrat. Er war schon in der Tür, als er sich umwendete und den Versuch machte, den Oberportier weg zu schieben und weg zu kommen. "Nein, nein, hier geht man hinein", sagte der Oberportier und drehte Josie um. "Ich bin doch schon entlassen", sagte Josie und meinte damit, dass ihm im Hotel niemand mehr etwas zu befehlen habe. "Solange ich dich halte, bist du nicht entlassen", sagte der Portier, was allerdings auch richtig war.
Josie fand schließlich auch keine Ursache, warum er sich gegen den Portier wehren sollte. Was konnte ihm denn auch im Grunde noch geschehn? Überdies bestanden die Wände der Portiersloge ausschließlich aus ungeheuren Glasscheiben, durch die man die Menge der im Vestibül gegeneinander strömenden Menschen deutlich sah, als wäre man mitten unter ihnen. Ja, es schien in der ganzen Portiersloge keinen Winkel zu geben, in dem man sich vor den Augen der Leute verbergen konnte. So eilig es dort draußen die Leute zu haben schienen, denn mit ausgestrecktem Arm, mit gesenktem Kopf, mit spähenden Augen, mit hoch gehaltenen Gepäckstücken suchten sie ihren Weg, so versäumte doch kaum einer einen Blick in die Portiersloge zu werfen, denn hinter deren Scheiben waren immer Ankündigungen und Nachrichten ausgehängt, die sowohl für die Gäste als für das Hotelpersonal Wichtigkeit hatten. Außerdem aber bestand noch ein unmittelbarer Verkehr der Portiersloge mit dem Vestibül, denn an zwei großen Schiebefenstern saßen zwei Unterportiere und waren unaufhörlich damit beschäftigt, Auskünfte in den verschiedensten Angelegenheiten zu erteilen. Das waren geradezu überbürdete Leute und Josie hätte behaupten wollen, dass der Oberportier, wie er ihn kannte, sich in seiner Laufbahn um diese Posten herum gewunden hatte. Diese zwei Auskunftserteiler hatten — von außen konnte man sich das nicht richtig vorstellen — in der Öffnung des Fensters immer zumindest zehn fragende Gesichter vor sich. Unter diesen zehn Fragern, die immerfort wechselten, war oft ein Durcheinander von Sprachen, als sei jeder Einzelne von einem andern Lande abgesendet. Immer fragten einige gleichzeitig, immer redeten außerdem einzelne untereinander. Die meisten wollten etwas aus der Portiersloge holen oder etwas dort abgeben, so sah man immer auch ungeduldig fuchtelnde Hände aus dem Gedränge ragen. Einmal hatte einer ein Begehren wegen irgendeiner Zeitung, die sich unversehens von der Höhe aus entfaltete und für einen Augenblick alle Gesichter verhüllte. Allem diesen mussten nun die zwei Unterportiere Stand halten. Bloßes Reden hätte für ihre Aufgabe nicht genügt, sie plapperten, besonders der eine, ein düsterer Mann, mit einem das ganze Gesicht umgebenden, dunklen Bart, gab die Auskünfte ohne die geringste Unterbrechung. Er sah weder auf die Tischplatte, wo er fortwährend Handreichungen auszuführen hatte, noch auf das Gesicht dieses oder jenes Fragers, sondern ausschließlich starr vor sich, offenbar um seine Kräfte zu sparen und zu sammeln. Übrigens störte wohl sein Bart ein wenig die Verständlichkeit seiner Rede und Josie konnte in dem Weilchen, während dessen er bei ihm stehen blieb, sehr wenig von dem Gesagten auffassen, wenn es auch möglicherweise trotz des englischen Beiklanges gerade fremde Sprachen waren, die er gebrauchen musste. Außerdem beirrte es, dass sich eine Auskunft so knapp an die andere anschloss und in sie überging, so dass oft noch ein Frager mit gespanntem Gesicht zuhorchte, da er glaubte, es gehe noch um seine Sache, um erst nach einem Weilchen zu merken, dass er schon erledigt war. Gewöhnen musste man sich auch daran, dass der Unterportier niemals bat, eine Frage zu wiederholen, selbst wenn sie im Ganzen verständlich und nur ein wenig undeutlich gestellt war, ein kaum merkliches Kopfschütteln verriet dann, dass er nicht die Absicht habe, diese Frage zu beantworten, und es war Sache des Fragestellers, seinen eigenen Fehler zu erkennen und die Frage besser zu formulieren. Besonders damit verbrachten manche Leute sehr lange Zeit vor dem Schalter.
Zur Unterstützung der Unterportiere war jedem ein Laufbursche beigegeben, der im gestreckten Lauf von einem Bücherregal und aus verschiedenen Kästen alles beizubringen hatte, was der Unterportier gerade benötigte. Das waren die bestbezahlten, wenn auch anstrengendsten Posten, die es im Hotel für ganz junge Leute gab, in gewissem Sinne waren sie auch noch ärger daran, als die Unterportiere, denn diese hatten bloß nachzudenken und zu reden, während diese jungen Leute gleichzeitig nachdenken und laufen mussten. Brachten sie einmal etwas Unrichtiges herbei, so konnte sich natürlich der Unterportier in der Eile nicht damit aufhalten, ihnen lange Belehrungen zu geben, er warf vielmehr einfach das, was sie ihm auf den Tisch legten, mit einem Ruck vom Tisch herunter. Sehr interessant war die Ablösung der Unterportiere, die gerade kurz nach dem Eintritt Josies stattfand. Eine solche Ablösung musste natürlich wenigstens während des Tages öfters stattfinden, denn es gab wohl kaum einen Menschen, der es länger als eine Stunde hinter dem Schalter ausgehalten hätte. Zur Ablösungszeit ertönte nun eine Glocke und gleichzeitig traten aus einer Seitentüre die zwei Unterportiere, die jetzt an die Reihe kommen sollten, jeder von seinem Laufjungen gefolgt. Sie stellten sich vorläufig untätig beim Schalter auf und betrachteten ein Weilchen die Leute draußen, um festzustellen, in welchem Stadium sich gerade die augenblickliche Fragebeantwortung befand. Schien ihnen der Augenblick passend, um einzugreifen, klopften sie dem abzulösenden Unterportier auf die Schulter, der, trotzdem er sich bisher um nichts, was hinter seinem Rücken vorging, gekümmert hatte, sofort verstand und seinen Platz freimachte. Das Ganze ging so rasch, dass es oft die Leute draußen überraschte und sie aus Schrecken über das so plötzlich vor ihnen auftauchende neue Gesicht fast zurückwichen. Die abgelösten zwei Männer streckten sich und begossen dann über zwei bereit stehenden Waschbecken ihre heißen Köpfe, die abgelösten Laufjungen durften sich aber noch nicht strecken, sondern hatten noch ein Weilchen damit zu tun, die während ihrer Dienststunden auf den Boden geworfenen Gegenstände aufzuheben und an ihren Platz zu legen.
Alles dieses hatte Josie mit der angespanntesten Aufmerksamkeit in wenigen Augenblicken in sich aufgenommen und mit leichten Kopfschmerzen folgte er still dem Oberportier, der ihn weiterführte. Offenbar hatte auch der Oberportier den großen Eindruck beobachtet, den diese Art der Auskunftserteilung auf Josie gemacht hatte, und er riss plötzlich an Josies Hand und sagte: "Siehst du, so wird hier gearbeitet." Josie hatte ja allerdings hier im Hotel nicht gefaulenzt, aber von solcher Arbeit hatte er doch keine Ahnung gehabt, und fast völlig daran vergessend, dass der Oberportier sein großer Feind war, sah er zu ihm auf und nickte stumm und anerkennend mit dem Kopf. Das schien dem Oberportier aber wieder eine Überschätzung der Unterportiere und vielleicht eine Unhöflichkeit gegenüber seiner Person zu sein, denn, als hätte er Josie zum Narren gehalten, rief er ohne Besorgnis, dass man ihn hören könnte: "Natürlich ist dieses hier die dümmste Arbeit im ganzen Hotel; wenn man eine Stunde zugehört hat, kennt man so ziemlich alle Fragen, die gestellt werden und den Rest braucht man ja nicht zu beantworten. Wenn du nicht frech und ungezogen gewesen wärest, wenn du nicht gelogen, gelumpt, gesoffen und gestohlen hättest, hätte ich dich vielleicht bei so einem Fenster anstellen können, denn dazu kann ich ausschließlich nur vernagelte Köpfe brauchen." Josie überhörte gänzlich die Beschimpfung, so weit sie ihn betraf, so sehr war er darüber empört, dass die ehrliche und schwere Arbeit der Unterportiere, statt anerkannt zu werden, verhöhnt wurde, und überdies verhöhnt von einem Mann, der, wenn er es gewagt hätte, sich einmal einem solchen Schalter zu setzen, gewiss nach paar Minuten unter dem Gelächter aller Frager hätte abziehen müssen. "Lassen Sie mich", sagte Josie, seine Neugierde in Betreff der Portiersloge war bis zum Übermaß gestillt, "ich will mit Ihnen nichts mehr zu tun haben." "Das genügt nicht, um fort zu kommen", sagte der Oberportier, drückte Josies Arme, dass dieser sie gar nicht rühren konnte und trug ihn förmlich an das andere Ende der Portiersloge. Sahen die Leute draußen diese Gewalttätigkeit des Oberportiers nicht? Oder wenn sie sie sahen, wie fassten sie sie denn auf, dass keiner sich darüber aufhielt, dass niemand wenigstens an die Scheibe klopfte, um dem Oberportier zu zeigen, dass er beobachtet werde und nicht nach seinem Gutdünken mit Josie verfahren dürfe.
Aber bald hatte Josie auch keine Hoffnung mehr, vom Vestibül aus Hilfe zu bekommen, denn der Oberportier griff an eine Schnur und über den Scheiben der halben Portiersloge zogen sich im Fluge bis in die letzte Höhe schwarze Vorhänge zusammen. Auch in diesem Teil der Portiersloge waren Menschen, aber alle in voller Arbeit und ohne Ohr und Auge für alles, was nicht mit ihrer Arbeit zusammenhing. Außerdem waren sie ganz vom Oberportier abhängig, und hätten statt Josie zu helfen, lieber geholfen, alles zu verbergen, was auch dem Oberportier einfallen sollte zu tun. Da waren z.B. sechs Unterportiere bei sechs Telefonen. Die Anordnung war, wie man gleich bemerkte, so getroffen, dass immer einer bloß Gespräche aufnahm, während sein Nachbar, nach den vom ersten empfangenen Notizen die Aufträge telefonisch weiterleitete. Es waren dies jene neuesten Telefone, für die keine Telefonzellen nötig waren, denn das Glockenläuten war nicht lauter als ein Zirpen, man konnte in das Telefon mit Flüstern hinein sprechen und doch kamen die Worte dank besonderer elektrischer Verstärkungen mit Donnerstimme an ihrem Ziele an. Deshalb hörte man die drei Sprecher an ihren Telefonen kaum und hätte glauben können, sie beobachteten murmelnd irgendeinen Vorgang in der Telefonmuschel, während die drei andern wie betäubt von dem auf sie heran dringenden, für die Umgebung im Übrigen unhörbaren Lärm die Köpfe auf das Papier sinken ließen, das zu beschreiben ihre Aufgabe war. Wieder stand auch hier neben jedem der drei Sprecher ein Junge zur Hilfeleistung; diese drei Jungen taten nichts anderes, als abwechselnd den Kopf horchend zu ihrem Herrn strecken und dann eilig, als würden sie gestochen in riesigen, gelben Büchern — die umschlagenden Blättermassen überrauschten bei Weitem jedes Geräusch der Telefone — die Telefonnummern heraussuchen.
Josie konnte sich tatsächlich nicht enthalten, alles das genau zu verfolgen, trotzdem der Oberportier, der sich gesetzt hatte, ihn in einer Art Umklammerung vor sich hinhielt. "Es ist meine Pflicht", sagte der Oberportier und schüttelte Josie, als wolle er nur erreichen, dass dieser ihm sein Gesicht zuwende, "das, was der Oberkellner aus welchen Gründen immer versäumt hat, im Namen der Hoteldirektion wenigstens ein wenig nachzuholen. So tritt hier immer jeder für den andern ein. Ohne das wäre ein so großer Betrieb undenkbar. Du willst vielleicht sagen, dass ich nicht dein unmittelbarer Vorgesetzter bin, nun desto schöner ist es von mir, dass ich mich dieser sonst verlassenen Sache annehme. Im Übrigen bin ich in gewissem Sinne als Oberportier über alle gesetzt, denn mir unterstehen doch alle Tore des Hotels, also dieses Haupttor, die drei Mittel- und die zehn Nebentore, von den unzähligen Türchen und türlosen Ausgängen gar nicht zu reden. Natürlich haben mir alle in Betracht kommenden Bedienungsmannschaften unbedingt zu gehorchen. Gegenüber diesen großen Ehren habe ich natürlich andererseits vor der Hoteldirektion die Verpflichtung, niemanden heraus zu lassen, der nur im Geringsten verdächtig ist. Gerade du aber kommst mir, weil es mir so beliebt, sogar stark verdächtig vor." Und vor Freude darüber hob er die Hände und ließ sie wieder stark zurückschlagen, dass es klatschte und Weh tat. "Es ist möglich", fügte er hinzu und unterhielt sich dabei königlich, "dass du bei einem andern Ausgang unbemerkt herausgekommen wärest, denn du standst mir natürlich nicht dafür, besondere Anweisungen deinetwegen ergehen zu lassen. Aber da du nun einmal hier bist, will ich dich genießen. Im Übrigen habe ich nicht daran gezweifelt, dass du das Rendezvous, das wir uns beim Haupttor gegeben hatten, auch einhalten wirst, denn das ist eine Regel, dass der Freche und Unfolgsame gerade dort und dann mit seinen Lastern aufhört, wo es ihm schadet. Du wirst das an dir selbst gewiss noch oft beobachten können."
"Glauben Sie nicht", sagte Josie und atmete den eigentümlich dumpfen Geruch ein, der vom Oberportier ausging und den er erst hier, wo er so lange in seiner nächsten Nähe stand, bemerkte, "glauben Sie nicht", sagte er, "dass ich vollständig in ihrer Gewalt bin, ich kann ja schreien." "Und ich kann dir den Mund stopfen", sagte der Oberportier ebenso ruhig und schnell, wie er es wohl nötigenfalls auszuführen gedachte. "Und meinst du denn wirklich, wenn man deinetwegen hereinkommen sollte, es würde sich jemand finden, der dir Recht geben würde, mir, dem Oberportier gegenüber. Du siehst also wohl den Unsinn deiner Hoffnungen ein. Weißt du, wie du noch in der Uniform warst, da hast du ja tatsächlich noch etwas beachtenswert ausgesehen, aber in diesem Anzug, der tatsächlich nur in Europa möglich ist." Und er zerrte an den verschiedensten Stellen des Anzugs, der jetzt allerdings, trotzdem er vor fünf Monaten noch fast neu gewesen war, abgenützt, faltig, vor allem aber fleckig war, was hauptsächlich auf die Rücksichtslosigkeit der Liftjungen zurückzuführen war, die jeden Tag, um den Saalboden dem allgemeinen Befehl gemäß, glatt und staubfrei zu erhalten, aus Faulheit keine eigentliche Reinigung vornahmen, sondern mit irgendeinem Öl den Boden sprengten und damit gleichzeitig alle Kleider auf den Kleiderständern schändlich bespritzten. Nun konnte man seine Kleider aufheben, wo man wollte, immer fand sich einer, der gerade seine Kleider nicht bei der Hand hatte, dagegen die versteckten fremden Kleider mit Leichtigkeit fand und sich ausborgte. Und womöglich war dieser eine gerade derjenige, der an diesem Tage die Saalreinigung vorzunehmen hatte und der dann die Kleider nicht nur mit dem Öl bespritzte, sondern vollständig von oben bis unten begoss. Nur Renell hatte seine kostbaren Kleider an irgendeinem geheimen Orte versteckt, von wo sie kaum jemals einer hervor gezogen hatte, zumal ja auch niemand, vielleicht aus Bosheit oder Geiz, fremde Kleider sich ausborgte, sondern aus bloßer Eile und Nachlässigkeit dort nahm, wo er sie fand. Aber selbst auf Renells Kleid war mitten auf dem Rücken ein kreisrunder, rötlicher Ölfleck, und in der Stadt hätte ein Kenner an diesem Fleck selbst in diesem eleganten jungen Mann den Liftjungen feststellen können.
Und Josie sagte sich bei diesen Erinnerungen, dass er auch als Liftjunge genug gelitten hatte und dass doch alles vergebens gewesen war, denn nun war dieser Liftjungendienst, nicht wie er gehofft hatte, eine Vorstufe zu besserer Anstellung gewesen, vielmehr war er jetzt noch tiefer herabgedrückt worden und sogar sehr nahe an das Gefängnis geraten. Überdies wurde er jetzt noch vom Oberportier festgehalten, der wohl darüber nachdachte, wie er Josie noch weiter beschämen könne. Und völlig daran vergessend, dass der Oberportier durchaus nicht der Mann war, der sich vielleicht überzeugen ließ, rief Josie, während er sich mit der gerade freien Hand mehrmals gegen die Stirn schlug: "Und wenn ich Sie wirklich nicht gegrüßt haben sollte, wie kann denn ein erwachsener Mensch wegen eines unterlassenen Grußes so rachsüchtig werden!"
"Ich bin nicht rachsüchtig", sagte der Oberportier, "ich will nur deine Taschen durchsuchen. Ich bin zwar überzeugt, dass ich nichts finden werde, denn du wirst wohl so vorsichtig gewesen sein und deinen Freund alles allmählich, jeden Tag etwas, hast wegschleppen lassen. Aber durchsucht worden musst du sein." Und schon griff er in eine von Josies Rocktaschen, mit solcher Gewalt, dass die seitlichen Nähte platzten. "Da ist also schon nichts", sagte er und überklaubte in seiner Hand den Inhalt dieser Tasche, einen Reklamekalender des Hotels, ein Blatt mit einer Aufgabe aus kaufmännischer Korrespondenz, einige Rock- und Hosenknöpfe, die Visitenkarte der Oberköchin, einen Polierstift für die Nägel, den ihm einmal ein Gast beim Kofferpacken zugeworfen hatte, einen alten Taschenspiegel, den ihm Renell zum Dank für vielleicht zehn Vertretungen im Dienste geschenkt hatte, und noch paar Kleinigkeiten. "Das ist also nichts", wiederholte der Oberportier und warf alles unter die Bank, als sei es selbstverständlich, dass das Eigentum Josies, so weit es nicht gestohlen war, unter die Bank gehöre. "Jetzt ist aber genug", sagte sich Josie — sein Gesicht musste glühend rot sein — und als der Oberportier durch die Gier unvorsichtig gemacht, in Josies zweiter Tasche herum grub, fuhr Josie mit einem Ruck aus den Ärmeln heraus, stieß im ersten, noch unbeherrschten Sprung einen Unterportier ziemlich stark gegen seinen Apparat, lief durch die schwüle Luft eigentlich langsamer, als er beabsichtigt hatte, zur Tür, war aber glücklich draußen, ehe der Oberportier in seinem schweren Mantel sich auch nur hatte erheben können. Die Organisation des Wachdienstes musste doch nicht so mustergültig sein, es läutete zwar auf einigen Seiten, aber Gott weiß zu welchen Zwecken, Hotelangestellte gingen zwar im Torgang in solcher Anzahl kreuz und quer, dass man fast daran denken konnte, sie wollten in unauffälliger Weise den Ausgang unmöglich machen, denn viel sonstigen Sinn konnte man in diesem Hin- und Hergehn nicht erkennen — jedenfalls kam Josie bald ins Freie, musste aber noch das Hoteltrottoir entlang gehn, denn zur Straße konnte man nicht gelangen, da eine ununterbrochene Reihe von Automobilen stockend sich am Haupttor vorbei bewegte. Diese Automobile waren, um nur so bald als möglich zu ihrer Herrschaft zu kommen, geradezu ineinander gefahren, jedes wurde vom nachfolgenden vorwärts geschoben. Fußgänger, die es besonders eilig hatten auf die Straße zu gelangen, stiegen zwar hier und da durch die einzelnen Automobile hindurch, als sei dort ein öffentlicher Durchgang, und es war ihnen ganz gleichgültig, ob im Automobil nur der Chauffeur und die Dienerschaft saß oder auch die vornehmsten Leute. Ein solches Benehmen schien aber Josie doch übertrieben und man musste sich wohl in den Verhältnissen schon auskennen, um das zu wagen, wie leicht konnte er an ein Automobil geraten, dessen Insassen das übel nahmen, ihn hinunter warfen und einen Skandal veranlassten und nichts hatte er, als ein entlaufener, verdächtiger Hotelangestellter in Hemdsärmeln mehr zu fürchten. Schließlich konnte ja die Reihe der Automobile nicht in Ewigkeit so fort gehn und er war auch, solange er sich ans Hotel hielt, eigentlich am unverdächtigsten. Tatsächlich gelangte Josie endlich an eine Stelle, wo die Automobilreihe zwar nicht aufhörte, aber zur Straße hin abbog und lockerer wurde. Gerade wollte er in den Verkehr der Straße schlüpfen, in dem wohl noch viel verdächtiger aussehende Leute als er war, frei herum liefen, da hörte er in der Nähe seinen Namen rufen. Er wandte sich um und sah, wie zwei ihm wohl bekannte Liftjungen aus einer niedrigen, kleinen Türöffnung, die wie der Eingang einer Gruft aussah, mit äußerster Anstrengung eine Trage heraus zogen, auf der, wie Josie nun erkannte, wahrhaftig Robinson lag, Kopf, Gesicht und Arme mannigfaltig umbunden. Es war hässlich anzusehn, wie er die Arme an die Augen führte, um mit dem Verbande die Tränen abzuwischen, die er vor Schmerzen oder vor sonstigem Leid oder gar vor Freude über das Wiedersehen mit Josie vergoss. "Rossmann", rief er vorwurfsvoll, "warum lässt du mich denn solange warten. Schon eine Stunde verbringe ich damit, mich zu wehren, damit ich nicht früher weg transportiert werde, ehe du kommst. Diese Kerle," — und er gab dem einen Liftjungen ein Kopfstück, als sei er durch die Verbände vor Schlägen geschützt, — "sind ja wahre Teufel. Ach Rossmann, der Besuch bei dir ist mir teuer zu stehen gekommen." "Was hat man dir denn gemacht?" sagte Josie und trat an die Trage heran, welche die Liftjungen, um sich auszuruhen, lachend nieder stellten. "Du fragst noch", seufzte Robinson, "und siehst, wie ich ausschaue. Bedenke! Ich bin ja höchstwahrscheinlich für mein ganzes Leben zum Krüppel geschlagen. Ich habe fürchterliche Schmerzen, von hier bis hier", —und er zeigte zuerst auf den Kopf und dann auf die Zehen. "Ich möchte dir wünschen, dass du gesehen hättest, wie ich aus der Nase geblutet habe. Meine Weste ist ganz verdorben, die habe ich überhaupt dort gelassen, meine Hosen sind zerfetzt, ich bin in Unterhosen", —und er lüftete die Decke ein wenig und lud Josie ein, unter sie zu schauen. "Was wird nur aus mir werden! Ich werde zumindest einige Monate liegen müssen und das will ich dir gleich sagen, ich habe niemanden andern als dich, der mich pflegen könnte, Delamarche ist ja viel zu ungeduldig. Rossmann, Rossmannchen!" Und Robinson streckte die Hand nach dem ein wenig zurücktretenden Josie aus, um ihn durch Streicheln für sich zu gewinnen. "Warum habe ich dich nur besuchen müssen!" wiederholte er mehrere Male, um Josie die Mitschuld nicht vergessen zu lassen, die dieser an seinem Unglück hatte. Nun erkannte zwar Josie sofort, dass das Klagen Robinsons nicht von seinen Wunden, sondern von dem ungeheuren Katzenjammer stammte, in dem er sich befand, da er in schwerer Trunkenheit kaum eingeschlafen, gleich geweckt und zu seiner Überraschung blutig geboxt worden war und sich in der wachen Welt gar nicht mehr zurechtfinden konnte. Die Bedeutungslosigkeit der Wunden war schon an den unförmlichen, aus alten Fetzen bestehenden Verbänden zu sehen, mit denen ihn die Liftjungen offenbar zum Spaß ganz und gar umwickelt hatten. Und auch die zwei Liftjungen, an den Enden der Trage, prusteten vor Lachen von Zeit zu Zeit. Nun war aber hier nicht der Ort, Robinson zur Besinnung zu bringen, denn stürmend eilten hier die Passanten, ohne sich um die Gruppe an der Trage zu kümmern, vorbei, öfters sprangen Leute mit richtigem Turnerschwung über Robinson hinweg, -der mit Josies Geld bezahlte Chauffeur rief: "Vorwärts, vorwärts", die Liftjungen hoben mit letzter Kraft die Trage auf, Robinson erfasste Josies Hand und sagte schmeichelnd: "Nun komm, so komm doch!" War nicht Josie, in dem Aufzug, in dem er sich befand, im Dunkel des Automobils noch am besten aufgehoben? Und so setzte er sich neben Robinson, der den Kopf an ihn lehnte, die zurück bleibenden Liftjungen schüttelten ihm, als ihrem gewesenen Kollegen, durch das Kupeefenster herzlich die Hand und das Automobil drehte sich mit scharfer Wendung zur Straße hin; es schien, als müsse unbedingt ein Unglück geschehen, aber gleich nahm der alles umfassende Verkehr auch die schnurgerade Fahrt dieses Automobils ruhig in sich auf.

Teil VII: Brunelda
Es musste wohl eine entlegene Vorstadtstraße sein, in der das Automobil Halt machte, denn ringsum herrschte Stille, am Trottoirrand hockten Kinder und spielten, ein Mann mit einer Menge alter Kleider über den Schultern rief beobachtend zu den Fenstern der Häuser empor; in seiner Müdigkeit fühlte sich Josie unbehaglich, als er aus dem Automobil auf den Asphalt trat, den die Vormittagssonne warm und hell beschien. "Wohnst du wirklich hier?" rief er ins Automobil hinein. Robinson, der während der ganzen Fahrt friedlich geschlafen hatte, brummte irgendeine undeutliche Bejahung und schien darauf zu warten, dass Josie ihn hinaus tragen werde. "Dann habe ich hier also nichts mehr zu tun. Leb wohl", sagte Josie und machte sich daran, die ein wenig sich senkende Straße abwärts zu gehn. "Aber Josie, was fällt dir denn ein?" rief Robinson und stand schon vor lauter Sorge ziemlich aufrecht, nur mit noch etwas unruhigen Knien, im Wagen. "Ich muss doch gehen", sagte Josie, der der raschen Gesundung Robinsons zugesehen hatte. "In Hemdsärmeln?" fragte dieser. "Ich werde mir schon noch einen Rock verdienen", antwortete Josie, nickte Robinson zuversichtlich zu, grüßte mit erhobener Hand und wäre nun wirklich fort gegangen, wenn nicht der Chauffeur gerufen hätte: "Noch einen kleinen Augenblick Geduld, mein Herr." Es zeigte sich unangenehmer Weise, dass der Chauffeur noch Ansprüche auf eine nachträgliche Bezahlung stellte, denn die Wartezeit vor dem Hotel war noch nicht bezahlt. "Nun ja", rief aus dem Automobil Robinson in Bestätigung der Richtigkeit dieser Forderung, "ich habe ja dort so lange auf dich warten müssen. Etwas musst du ihm noch geben." "Ja, freilich", sagte der Chauffeur. "Ja, wenn ich nur noch etwas hätte", sagte Josie und griff in die Hosentaschen, trotzdem er wusste, dass es nutzlos war. "Ich kann mich nur an Sie halten", sagte der Chauffeur und stellte sich breitbeinig auf, "von dem kranken Mann dort kann ich nichts verlangen." Vom Tor her näherte sich ein junger Bursche mit zerfressener Nase und aus einer Entfernung von paar Schritten zu. Gerade machte durch die Straße ein Polizeimann die Runde, fasste mit gesenktem Gesicht den hemdsärmligen Menschen ins Auge und blieb stehen. Robinson, der den Polizeimann auch bemerkt hatte, machte die Dummheit, aus dem andern Fenster ihm zuzurufen: "Es ist nichts, es ist nichts", als ob man einen Polizeimann wie eine Fliege verscheuchen könnte. Die Kinder, welche den Polizeimann beobachtet hatten, wurden nun durch sein Stillstehn auch auf Josie und den Chauffeur aufmerksam und liefen im Trab herbei. Im Tor gegenüber stand eine alte Frau und sah starr herüber.
"Rossmann", rief da eine Stimme aus der Höhe. Es war Delamarche, der das vom Balkon des letzten Stockwerks rief. Er selbst war nur schon recht undeutlich gegen den weißlich blauen Himmel zu sehen, hatte offenbar einen Schlafrock an und beobachtete mit einem Operngucker die Straße. Neben ihm war ein roter Sonnenschirm aufgespannt, unter dem eine Frau zu sitzen schien. "Hallo", rief er mit größter Anstrengung, um sich verständlich zu machen, "ist Robinson auch da?" "Ja", antwortete Josie, von einem zweiten, viel lauterem "Ja" Robinsons aus dem Wagen kräftig unterstützt. "Hallo", rief es zurück, "ich komme gleich." Robinson beugte sich aus dem Wagen. "Das ist ein Mann", sagte er und dieses Lob Delamarches war an Josie gerichtet, an den Chauffeur, an den Polizeimann und an jeden, der es hören wollte. Oben auf dem Balkon, den man aus Zerstreutheit noch ansah, trotzdem ihn Delamarche schon verlassen hatte, erhob sich nun unter dem Sonnenschirm tatsächlich eine starke Frau in rotem Kleid, nahm den Operngucker von der Brüstung und sah durch ihn auf die Leute hinunter, die nur allmählich die Blicke von ihr wendeten. Josie sah in Erwartung des Delamarche in das Haustor und weiterhin in den Hof, den eine fast ununterbrochene Reihe von Geschäftsdienern durchquerte, von denen jeder eine kleine, aber offenbar sehr schwere Kiste auf der Achsel trug. Der Chauffeur war zu seinem Wagen getreten und putzte, um die Zeit auszunützen, mit einem Fetzen die Wagenlaternen. Robinson befühlte seine Gliedmaßen, schien erstaunt über die geringen Schmerzen zu sein, die er trotz größter Aufmerksamkeit fühlen konnte und begann vorsichtig mit tief geneigtem Gesicht einen der dicken Verbände am Bein zu lösen. Der Polizeimann hielt sein schwarzes Stöckchen quer vor sich und wartete still mit der großen Geduld, die Polizeileute haben müssen, ob sie im gewöhnlichen Dienst oder auf der Lauer sind. Der Bursche mit der zerfressenen Nase setzte sich auf einen Torstein und streckte die Beine von sich. Die Kinder näherten sich Josie allmählich mit kleinen Schritten, denn dieser schien ihnen, trotzdem er sie nicht beachtete, wegen seiner blauen Hemdsärmel der wichtigste von allen zu sein.
An der Länge der Zeit, die bis zur Ankunft Delamarches verging, konnte man die große Höhe dieses Hauses ermessen. Und Delamarche kam sogar sehr eilig, mit nur flüchtig zugezogenem Schlafrock. "Also, da seid ihr!" rief er, erfreut und streng zugleich. Bei seinen großen Schritten enthüllte sich stets für einen Augenblick seine farbige Unterkleidung. Josie begriff nicht ganz, warum Delamarche hier in der Stadt, in der riesigen Mietskaserne, auf der offenen Straße so bequem angezogen herum ging, als sei er in seiner Privatvilla. Ebenso wie Robinson hatte auch Delamarche sich sehr verändert. Sein dunkles, glatt rasiertes, peinlich reines, von roh ausgearbeiteten Muskeln gebildetes Gesicht sah stolz und Respekt einflößend aus. Der grelle Schein seiner jetzt immer etwas zusammengezogenen Augen überraschte. Sein violetter Schlafrock war zwar alt, fleckig und für ihn zu groß, aber aus diesem hässlichen Kleidungsstück bauschte sich oben eine mächtige, dunkle Krawatte aus schwerer Seide. "Nun?" fragte er alle insgesamt. Der Polizeimann trat ein wenig näher und lehnte sich an den Motorkasten des Automobils. Josie gab eine kleine Erklärung. "Robinson ist ein wenig marod, aber wenn er sich Mühe gibt, wird er schon die Treppen hinauf gehn können; der Chauffeur hier will noch eine Nachzahlung zum Fahrtgeld, das ich schon bezahlt habe. Und jetzt gehe ich. Guten Tag." "Du gehst nicht", sagte Delamarche. "Ich habe es ihm auch schon gesagt", meldete sich Robinson aus dem Wagen. "Ich gehe doch", sagte Josie und machte ein paar Schritte. Aber Delamarche war schon hinter ihm und schob ihn mit Gewalt zurück. "Ich sage, du bleibst", rief er. "Aber lasst mich doch", sagte Josie und machte sich bereit, wenn es nötig sein sollte, mit den Fäusten sich die Freiheit zu verschaffen, so wenig Aussicht auf Erfolg gegenüber einem Mann wie Delamarche auch war. Aber da stand doch der Polizeimann, da war der Chauffeur, hier und da gingen Arbeitergruppen durch die sonst freilich ruhige Straße, würde man es denn dulden, dass ihm von Delamarche ein Unrecht geschehe? In einem Zimmer hätte er mit ihm nicht allein sein wollen, aber hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig dem Chauffeur, der unter vielen Verbeugungen den unverdient großen Betrag einsteckte und aus Dankbarkeit zu Robinson ging und mit diesem offenbar darüber sprach, wie er am besten heraus befördert werden könnte. Josie sah sich unbeobachtet, vielleicht duldete Delamarche ein stillschweigendes Fortgehn leichter, wenn Streit vermieden werden konnte, war es natürlich am besten und so ging Josie einfach in die Fahrbahn hinein, um möglichst rasch weg zu kommen. Die Kinder strömten zu Delamarche, um ihn auf Josies Flucht aufmerksam zu machen, aber er musste selbst gar nicht eingreifen, denn der Polizeimann sagte mit vorgestrecktem Stabe "Halt!" "Wie heißt du", fragte er, schob den Stab unter den Arm und zog langsam ein Buch hervor. Josie sah ihn jetzt zum ersten Mal genauer an, es war ein kräftiger Mann, hatte aber schon fast ganz weißes Haar. "Josie Rossmann", sagte er. "Rossmann", wiederholte der Polizeimann, zweifellos nur, weil er ein ruhiger und gründlicher Mensch war, aber Josie, der hier eigentlich zum ersten Mal mit amerikanischen Behörden zu tun bekam, sah schon in dieser Wiederholung das Aussprechen eines gewissen Verdachtes. Und tatsächlich konnte seine Sache nicht gut stehn, denn selbst Robinson, der doch so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt war, bat aus dem Wagen heraus mit stummen, lebhaften Handbewegungen Delamarche, er möge Josie doch helfen. Aber Delamarche wehrte ihn mit hastigem Kopfschütteln ab und sah untätig zu, die Hände in seinen übergroßen Taschen. Der Bursche auf dem Türstein erklärte einer Frau, die jetzt erst aus dem Tore trat, den ganzen Sachverhalt von allem Anfang an. Die Kinder standen in einem Halbkreis hinter Josie und sahen still zum Polizeimann hinauf: "Zeig deine Ausweispapiere", sagte der Polizeimann. Das war wohl nur eine formelle Frage, denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nicht viel Ausweispapiere bei sich haben. Josie schwieg deshalb, auch um lieber auf die nächste Frage ausführlich zu antworten und so den Mangel der Ausweispapiere möglichst zu vertuschen. Aber die nächste Frage war: "Du hast also keine Ausweispapiere?" Und Josie musste nun antworten: "Bei mir nicht." "Das ist aber schlimm", sagte der Polizeimann, sah nachdenklich im Kreise umher und klopfte mit zwei Fingern auf den Deckel seines Buches. "Hast du irgendeinen Verdienst?" fragte der Polizeimann schließlich. "Ich war Liftjunge", sagte Josie. "Du warst Liftjunge, bist es also nicht mehr, und wovon lebst du denn jetzt?" "Jetzt werde ich mir eine neue Arbeit suchen." "Ja, bist du denn jetzt entlassen worden?" "Ja, vor einer Stunde." "Plötzlich?" "Ja", sagte Josie und hob wie zur Entschuldigung die Hand. Die ganze Geschichte konnte er hier nicht erzählen und wenn es auch möglich gewesen wäre, so schien es doch ganz aussichtslos, ein drohendes Unrecht durch Erzählung eines erlittenen Unrechtes abzuwehren. Und wenn er sein Recht nicht von der Güte der Oberköchin und von der Einsicht des Oberkellners erhalten hatte, von der Gesellschaft hier auf der Straße hatte er es gewiss nicht zu erwarten.
"Und ohne Rock bist du entlassen worden?" fragte der Polizeimann. "Nun ja", sagte Josie, also auch in Amerika gehörte es zur Art der Behörden, das, was sie sahen, noch eigens zu fragen. Wie hatte sein Vater bei der Beschaffung des Reisepasses über die nutzlose Fragerei der Behörden sich ärgern müssen. Josie hatte große Lust weg zu laufen, sich irgendwo zu verstecken und keine Fragen mehr anhören zu müssen. Und nun stellte gar der Polizeimann jene Frage, vor der sich Josie am meisten gefürchtet und in deren unruhiger Voraussicht er sich bisher wahrscheinlich unvorsichtiger benommen hatte, als es sonst geschehen wäre: "In welchem Hotel warst du denn angestellt?" Er senkte den Kopf und antwortete nicht, auf diese Frage wollte er unbedingt nicht antworten. Es durfte nicht geschehn, dass er von einem Polizeimann eskortiert wieder ins Hotel Occidental zurück käme, dass dort Verhöre stattfanden, zu denen seine Freunde und Feinde beigezogen würden, dass die Oberköchin ihre schon sehr schwach gewordene gute Meinung über Josie gänzlich aufgab, da sie ihn, den sie in der Pension Brenner vermutete, von einem Polizeimann aufgegriffen, in Hemdsärmeln, ohne ihre Visitenkarte zurückgekehrt fand, während der Oberkellner vielleicht nur voll Verständnis nicken, der Oberportier dagegen von der Hand Gottes sprechen würde, die den Lumpen endlich gefunden habe.
"Er war im Hotel Occidental angestellt", sagte Delamarche und trat an die Seite des Polizeimanns. "Nein", rief Josie und stampfte mit dem Fuße auf, "es ist nicht wahr." Delamarche sah ihn mit spöttisch zugespitztem Munde an, als könne er noch ganz andere Dinge verraten. Unter die Kinder brachte die unerwartete Aufregung Josies große Bewegung und sie zogen zu Delamarche hin, um lieber von dort aus Josie genau anzusehn. Robinson hatte den Kopf völlig aus dem Wagen gesteckt und verhielt sich vor Spannung ganz ruhig; hier und da ein Augenzwinkern war seine einzige Bewegung. Der Bursche im Tor schlug in die Hände vor Vergnügen, die Frau neben ihm gab ihm einen Stoß mit dem Ellbogen, damit er ruhig sei. Die Gepäckträger hatten gerade Frühstückspause und erschienen sämtlich mit großen Töpfen schwarzen Kaffees, in dem sie mit Stangenbroten herum rührten. Einige setzten sich auf den Trottoirrand, alle schlürften den Kaffee sehr laut.
"Sie kennen wohl den Jungen", fragte der Polizeimann Delamarche. "Besser als mir lieb ist", sagte dieser. "Ich habe ihm zu seiner Zeit viel Gutes getan, er aber hat sich dafür sehr schlecht bedankt, was Sie wohl, selbst nach dem ganz kurzen Verhör, das Sie mit ihm angestellt haben, leicht begreifen werden." "Ja", sagte der Polizeimann, "es scheint ein verstockter Junge zu sein." "Das ist er", sagte Delamarche, "aber es ist das noch nicht seine schlechteste Eigenschaft." "So?" sagte der Polizeimann. "Ja", sagte Delamarche, der nun im Reden war und dabei mit den Händen in den Taschen seinen ganzen Mantel in schwingende Bewegung brachte, "das ist ein feiner Hecht. Ich und mein Freund dort im Wagen, wir haben ihn zufällig im Elend aufgegriffen, er hatte damals keine Ahnung von amerikanischen Verhältnissen, er kam gerade aus Europa, wo man ihn auch nicht hatte brauchen können, nun wir schleppten ihn mit uns, ließen ihn mit uns leben, erklärten ihm alles, wollten ihm einen Posten verschaffen, dachten trotz aller Anzeichen, die dagegen sprachen, noch einen brauchbaren Menschen aus ihm zu machen, da verschwand er einmal in der Nacht, war einfach weg und das unter Begleitumständen, die ich lieber verschweigen will. War es so oder nicht?" fragte Delamarche schließlich und zupfte Josie am Hemdsärmel. "Zurück ihr Kinder", rief der Polizeimann, denn diese hatten sich so weit vorgedrängt, dass Delamarche fast über eines gestolpert wäre. Inzwischen waren auch die Gepäckträger, die bisher die Interessantheit dieses Verhörs unterschätzt hatten, aufmerksam geworden und hatten sich in dichtem Ring hinter Josie versammelt, der nun auch nicht einen Schritt hätte zurücktreten können und überdies unaufhörlich in den Ohren das Durcheinander der Stimmen dieser Gepäckträger hatte, die in einem gänzlich unverständlichen, vielleicht mit slawischen Worten untermischten Englisch mehr polterten als redeten.
"Danke für die Auskunft", sagte der Polizeimann und salutierte vor Delamarche. "Jedenfalls werde ich ihn mitnehmen und dem Hotel Occidental zurückgeben lassen." Aber Delamarche sagte: "Dürfte ich die Bitte stellen, mir den Jungen vorläufig zu überlassen, ich hätte einiges mit ihm in Ordnung zu bringen. Ich verpflichte mich, ihn dann selbst ins Hotel zurückzuführen." "Das kann ich nicht tun", sagte der Polizeimann. Delamarche sagte: "Hier ist meine Visitenkarte", und reichte ihm ein Kärtchen. Der Polizeimann sah es anerkennend an, sagte aber verbindlich lächelnd: "Nein, es ist vergeblich."
So sehr sich Josie bisher vor Delamarche gehütet hatte, jetzt sah er in ihm die einzig mögliche Rettung. Es war zwar verdächtig, wie sich dieser beim Polizeimann um Josie bewarb, aber jedenfalls würde sich Delamarche leichter als der Polizeimann bewegen lassen, ihn nicht ins Hotel zurückzuführen. Und selbst wenn Josie an der Hand des Delamarche ins Hotel zurück kam, so war es viel weniger schlimm, als wenn es in Begleitung des Polizeimannes geschah. Vorläufig aber durfte natürlich Josie nicht zu erkennen geben, dass er tatsächlich zu Delamarche wollte, sonst war alles verdorben. Und unruhig sah er auf die Hand des Polizeimanns, die sich jeden Augenblick erheben konnte, um ihn zu fassen.
"Ich müsste doch wenigstens erfahren, warum er plötzlich entlassen worden ist", sagte schließlich der Polizeimann, während Delamarche mit verdrießlichem Gesicht beiseite sah und die Visitenkarte zwischen den Fingerspitzen zerdrückte. "Aber er ist doch gar nicht entlassen", rief Robinson zu allgemeiner Überraschung und beugte sich auf den Chauffeur gestützt möglichst weit aus dem Wagen. "Im Gegenteil, er hat ja dort einen guten Posten. Im Schlafsaal ist er der oberste und kann hineinführen, wen er will. Nur ist er riesig beschäftigt und wenn man etwas von ihm haben will, muss man lange warten. Immerfort steckt er beim Oberkellner, bei der Oberköchin und ist Vertrauensperson. Entlassen ist er auf keinen Fall. Ich weiß nicht, warum er das gesagt hat. Wie kann er denn entlassen sein? Ich habe mich im Hotel schwer verletzt und da hat er den Auftrag bekommen, mich nach Hause zu schaffen, und weil er gerade ohne Rock war, ist er eben ohne Rock mitgefahren. Ich konnte nicht noch warten, bis er den Rock holt." "Nun also", sagte Delamarche mit ausgebreiteten Armen, in einem Ton, als werfe er dem Polizeimann Mangel an Menschenkenntnis vor, und diese seine zwei Worte schienen in die Unbestimmtheit der Aussage Robinsons eine widerspruchslose Klarheit zu bringen.
"Ist das aber auch wahr?" fragte der Polizeimann schon schwächer. "Und wenn es wahr ist, warum gibt der Junge vor entlassen zu sein?" "Du sollst antworten", sagte Delamarche. Josie sah den Polizeimann an, der hier zwischen fremden, nur auf sich selbst bedachten Leuten Ordnung schaffen sollte und etwas von seinen allgemeinen Sorgen ging auch auf Josie über. Er wollte nicht lügen und hielt die Hände fest verschlungen auf dem Rücken.
Im Tore erschien ein Aufseher und klatschte in die Hände, zum Zeichen, dass die Gepäckträger wieder an ihre Arbeit gehen sollten. Sie schütteten den Bodensatz aus ihren Kaffeetöpfen und zogen verstummend mit schwankenden Schritten ins Haus. "So kommen wir zu keinem Ende", sagte der Polizeimann und wollte Josie am Arm fassen. Josie wich noch unwillkürlich ein wenig zurück, fühlte den freien Raum, der sich ihm infolge des Abmarsches der Gepäckträger eröffnet hatte, wandte sich um und setzte sich unter einigen großen Anfangssprüngen in Lauf. Die Kinder brachen in einen einzigen Schrei aus und liefen mit ausgestreckten Ärmchen paar Schritte mit. "Haltet ihn!" rief der Polizeimann die lange, fast leere Gasse hinab und lief unter gleichmäßigem Ausstoßen dieses Rufes in geräuschlosem, große Kraft und Übung verratendem Lauf hinter Josie her. Es war ein Glück für Josie, dass die Verfolgung in einem Arbeiterviertel stattfand. Die Arbeiter halten es nicht mit den Behörden. Josie lief mitten in der Fahrbahn, weil er dort die wenigsten Hindernisse hatte und sah nun hier und da auf dem Trottoirrand Arbeiter stehen bleiben und ihn ruhig beobachten, während der Polizeimann ihnen sein "Haltet ihn!" zurief und in seinem Lauf, er hielt sich kluger Weise auf dem glatten Trottoir, unaufhörlich den Stab gegen Josie hin ausstreckte. Josie hatte wenig Hoffnung und verlor sie fast ganz, als der Polizeimann nun, da sie sich Quergassen näherten, die gewiss auch Polizeipatrouillen enthielten, geradezu betäubende Pfiffe ausstieß. Josies Vorteil war lediglich seine leichte Kleidung, er flog oder besser stürzte die sich immer mehr senkende Straße herab, nur machte er zerstreut, infolge seiner Verschlafenheit, oft zu hohe, zeitraubende und nutzlose Sprünge. Außerdem aber hatte der Polizeimann sein Ziel ohne nachdenken zu müssen, immer vor Augen, für Josie dagegen war der Lauf doch eigentlich Nebensache, er musste nachdenken, unter verschiedenen Möglichkeiten auswählen, immer neu sich entschließen. Sein etwas verzweifelter Plan war vorläufig, die Quergassen zu vermeiden, da man nicht wissen konnte, was in ihnen steckte, vielleicht würde er da geradewegs in eine Wachstube hinein laufen; er wollte sich, solange es nur ging, an diese weithin übersichtliche Straße halten, die erst tief unten in eine Brücke auslief, die kaum begonnen in Wasser- und Sonnendunst verschwand. Gerade wollte er sich nach diesem Entschluss zu schnellerem Lauf zusammennehmen, um die erste Quergasse besonders eilig zu passieren, da sah er nicht allzu weit vor sich einen Polizeimann lauernd an die dunkle Mauer eines im Schatten liegenden Hauses gedrückt, bereit, im richtigen Augenblick auf Josie los zu springen. Jetzt blieb keine Hilfe, als die Quergasse, und als er gar aus dieser Gasse ganz harmlos beim Namen gerufen wurde — es schien ihm zwar zuerst eine Täuschung zu sein, denn ein Sausen hatte er schon die ganze Zeit lang in den Ohren, zögerte er nicht mehr länger und bog, um die Polizeileute möglichst zu überraschen, auf einem Fuß sich schwenkend rechtwinklig in diese Gasse ein.
Kaum war er zwei Sprünge weit gekommen — dass man seinen Namen gerufen hatte, hatte er schon wieder vergessen, nun pfiff auch der zweite Polizeimann, man merkte seine unverbrauchte Kraft, ferne Passanten in dieser Quergasse schienen eine raschere Gangart anzunehmen — da griff aus einer kleinen Haustüre eine Hand nach Josie und zog ihn mit den Worten "Still sein" in einen dunklen Flur. Es war Delamarche, ganz außer Atem, mit erhitzten Wangen, seine Haare klebten ihm rings um den Kopf. Den Schlafrock trug er unter dem Arm und war nur mit Hemd und Unterhose bekleidet. Die Türe, welche nicht das eigentliche Haustor war, sondern nur einen unscheinbaren Nebeneingang bildete, hatte er gleich geschlossen und versperrt. "Einen Augenblick", sagte er dann, lehnte sich mit hoch gehaltenem Kopf an die Wand und atmete schwer. Josie lag fast in seinem Arm und drückte halb besinnungslos das Gesicht an seine Brust. "Da laufen die Herren", sagte Delamarche und streckte den Finger aufhorchend gegen die Tür. Wirklich liefen jetzt die zwei Polizeileute vorbei, ihr Laufen klang in der leeren Gasse, wie wenn Stahl gegen Stein geschlagen wird. "Du bist aber ordentlich hergenommen", sagte Delamarche zu Josie, der noch immer an seinem Atem würgte und kein Wort herausbringen konnte. Delamarche setzte ihn vorsichtig auf den Boden, kniete neben ihm nieder, strich ihm mehrmals über die Stirn und beobachtete ihn. "Jetzt geht es schon", sagte endlich Josie und stand mühsam auf. "Dann also los", sagte Delamarche, der seinen Schlafrock wieder angezogen hatte und schob Josie, der noch vor Schwäche den Kopf gesenkt hielt, vor sich her. Von Zeit zu Zeit schüttelte er Josie, um ihn frischer zu machen. "Du willst müde sein?" sagte er. "Du konntest doch im Freien laufen wie ein Pferd, ich aber musste hier durch die verfluchten Gänge und Höfe schleichen. Glücklicher Weise bin ich aber auch ein Läufer." Vor Stolz gab er Josie einen weit ausgeholten Schlag auf den Rücken. "Von Zeit zu Zeit ist ein solches Wettrennen mit der Polizei eine gute Übung." "Ich war schon müde, wie ich zu laufen anfing", sagte Josie. "Für schlechtes Laufen gibt es keine Entschuldigung", sagte Delamarche. "Wenn ich nicht wäre, hätten sie dich schon längst gefasst." "Ich glaube auch", sagte Josie. "Ich bin Ihnen sehr verpflichtet." "Kein Zweifel", sagte Delamarche.
Sie gingen durch einen langen, schmalen Flurgang, der mit dunklen, glatten Steinen gepflastert war. Hier und da öffnete sich rechts oder links ein Treppenaufgang oder man erhielt einen Durchblick in einen andern, größern Flur. Erwachsene waren kaum zu sehn, nur Kinder spielten auf den leeren Treppen. An einem Geländer stand ein kleines Mädchen und weinte, dass ihr vor Tränen das ganze Gesicht glänzte. Kaum hatte sie Delamarche bemerkt, als sie mit offenem Mund nach Luft schnappend die Treppe hinauf lief und sich erst hoch oben beruhigte, als sie nach häufigem Umdrehn sich überzeugt hatte, dass ihr niemand folge oder folgen wolle. "Die habe ich vor einem Augenblick nieder gerannt", sagte Delamarche lachend und drohte ihr mit der Faust, worauf sie schreiend weiter hinauf lief.
Auch die Höfe, durch die sie kamen, waren fast gänzlich verlassen. Nur hier und da schob ein Geschäftsdiener einen zweirädrigen Karren vor sich her, eine Frau füllte an der Pumpe eine Kanne mit Wasser, ein Briefträger durchquerte mit ruhigen Schritten den ganzen Hof, ein alter Mann mit weißem Schnauzbart saß mit übergeschlagenen Beinen vor einer Glastür und rauchte eine Pfeife, vor einem Speditionsgeschäft wurden Kisten abgeladen, die unbeschäftigten Pferde drehten gleichmütig die Köpfe, ein Mann in einem Arbeitsmantel überwachte mit einem Papier in der Hand die ganze Arbeit, in einem Büro war das Fenster geöffnet und ein Angestellter, der an seinem Schreibpult saß, hatte sich von ihm abgewendet und sah nachdenklich hinaus, wo gerade Josie und Delamarche vorüber gingen.
"Eine ruhigere Gegend kann man sich gar nicht wünschen", sagte Delamarche. "Am Abend ist paar Stunden lang großer Lärm, aber während des Tages geht es hier musterhaft zu." Josie nickte, ihm schien die Ruhe zu groß zu sein. "Ich könnte gar nicht anderswo wohnen", sagte Delamarche, "denn Brunelda verträgt absolut keinen Lärm. Kennst du Brunelda? Nun, du wirst sie ja sehn. Jedenfalls empfehle ich dir, dich möglichst still aufzuführen."
Als sie zu der Treppe kamen, die zur Wohnung von Delamarche führte, war das Automobil bereits weggefahren und der Bursche mit der zerfressenen Nase meldete, ohne über Josies Wiedererscheinen irgendwie zu staunen, er habe Robinson die Treppe hinauf getragen. Delamarche nickte ihm bloß zu, als sei er sein Diener, der eine selbstverständliche Pflicht erfüllt habe und zog Josie, der ein wenig zögerte und auf die sonnige Straße sah, mit sich die Treppe hinauf. "Wir sind gleich oben", sagte Delamarche einige Male, während des Treppensteigens, aber seine Voraussage wollte sich nicht erfüllen, immer wieder setzte sich an eine Treppe eine neue in nur unmerklich veränderter Richtung an. Einmal blieb Josie sogar stehn, nicht eigentlich vor Müdigkeit, aber vor Wehrlosigkeit gegenüber dieser Treppenlänge. "Die Wohnung liegt ja sehr hoch", sagte Delamarche, als sie weitergingen, "aber auch das hat seine Vorteile. Man geht sehr selten aus, den ganzen Tag ist man im Schlafrock, wir haben es sehr gemütlich. Natürlich kommen in diese Höhe auch keine Besuche herauf." "Woher sollten denn die Besuche kommen", dachte Josie.
Endlich erschien auf einem Treppenabsatz Robinson vor einer geschlossenen Wohnungstür und nun waren sie angelangt; die Treppe war noch nicht einmal zu Ende, sondern führte im Halbdunkel weiter, ohne dass irgendetwas auf ihren baldigen Abschluss hinzudeuten schien. "Ich habe es mir ja gedacht", sagte Robinson leise, als bedrückten ihn noch Schmerzen, "Delamarche bringt ihn! Rossmann, was wärest du ohne Delamarche!" Robinson stand in Unterkleidung da und suchte sich, nur so weit als es möglich war, in die kleine Bettdecke einzuwickeln, die man ihm aus dem Hotel Occidental mitgegeben hatte; es war nicht einzusehen, warum er nicht in die Wohnung ging, statt hier vor möglicherweise vorüber kommenden Leuten sich lächerlich zu machen. "Schläft sie?" fragte Delamarche. "Ich glaube nicht", sagte Robinson, "aber ich habe doch lieber gewartet, bis du kommst." "Zuerst müssen wir schauen, ob sie schläft", sagte Delamarche und beugte sich zum Schlüsselloch. Nachdem er lange, unter verschiedenartigen Kopfdrehungen hindurch geschaut hatte, erhob er sich und sagte: "Man sieht sie nicht genau, das Rollo ist herunter gelassen. Sie sitzt auf dem Kanapee, vielleicht schläft sie." "Ist sie denn krank?" fragte Josie, denn Delamarche stand da, als bitte er um Rat. Nun aber fragte er in scharfem Tone zurück: "Krank?" "Er kennt sie ja nicht", sagte Robinson entschuldigend.
Ein paar Türen weiter waren zwei Frauen auf den Korridor getreten, sie wischten die Hände an ihren Schürzen rein, sahen auf Delamarche und Robinson und schienen sich über sie zu unterhalten. Aus einer Tür sprang noch ein ganz junges Mädchen, mit glänzendem, blondem Haar und schmiegte sich zwischen die zwei Frauen, indem es sich in ihre Arme einhängte.
"Das sind widerliche Weiber", sagte Delamarche leise, aber offenbar nur aus Rücksicht auf die schlafende Brunelda, "nächstens werde ich sie bei der Polizei anzeigen und werde für Jahre Ruhe von ihnen haben. Schau nicht hin", zischte er dann Josie an, der nichts Böses daran gefunden hatte, die Frauen anzuschauen, wenn man nun schon einmal auf dem Gang auf das Erwachen Bruneldas warten musste. Und ärgerlich schüttelte er den Kopf, als habe er von Delamarche keine Ermahnungen anzunehmen und wollte, um dies noch deutlicher zu zeigen, auf die Frauen zugehen, da hielt ihn aber Robinson mit den Worten, "Rossmann, hüte dich", am Ärmel zurück und Delamarche, schon durch Josie gereizt, wurde über ein lautes Auflachen des Mädchens so wütend, dass er mit großem Anlauf Arme und Beine werfend auf die Frauen zueilte, die jede in ihre Tür wie weg geweht verschwanden. "So muss ich hier öfters die Gänge reinigen", sagte Delamarche, als er mit langsamen Schritten zurückkehrte; da erinnerte er sich an Josies Widerstand und sagte: "Von dir aber erwarte ich ein ganz anderes Benehmen, sonst könntest du mit mir schlechte Erfahrungen machen."
Da rief aus dem Zimmer eine fragende Stimme in sanftem, müdem Tonfall: "Delamarche?" "Ja", antwortete Delamarche und sah freundlich die Tür an, "können wir eintreten?" "Oh ja", hieß es und Delamarche öffnete, nachdem er noch die zwei hinter ihm Wartenden mit einem Blick gestreift hatte, langsam die Tür.
Man trat in vollständiges Dunkel ein. Der Vorhang der Balkontüre — ein Fenster war nicht vorhanden — war bis zum Boden herabgelassen und wenig durchscheinend, außerdem aber trug die Überfüllung des Zimmers mit Möbeln und herum hängenden Kleidern viel zur Verdunkelung des Zimmers bei. Die Luft war dumpf und man roch geradezu den Staub, der sich hier in Winkeln, die offenbar für jede Hand unzugänglich waren, angesammelt hatte. Das erste, was Josie beim Eintritt bemerkte, waren drei Kästen, die knapp hintereinander aufgestellt waren.
Auf dem Kanapee lag die Frau, die früher vom Balkon herunter geschaut hatte. Ihr rotes Kleid hatte sich unten ein wenig verzogen und hing in einem großen Zipfel bis auf den Boden, man sah ihre Beine fast bis zu den Knien, sie trug dicke weiße Wollstrümpfe, Schuhe hatte sie keine. "Das ist eine Hitze, Delamarche", sagte sie, wendete das Gesicht von der Wand, hielt ihre Hand lässig in Schwebe gegen Delamarche hin, der sie ergriff und küsste. Josie sah nur ihr Doppelkinn an, das bei der Wendung des Kopfes auch mit rollte. "Soll ich den Vorhang vielleicht hinauf ziehn lassen?" fragte Delamarche. "Nur das nicht", sagte sie mit geschlossenen Augen und wie verzweifelt, "dann wird es ja noch ärger." Josie war zum Fußende des Kanapees getreten, um die Frau genauer anzusehn, er wunderte sich über ihre Klagen, denn die Hitze war gar nicht außerordentlich. "Warte, ich werde es dir ein wenig bequemer machen", sagte Delamarche ängstlich, öffnete oben am Hals paar Knöpfe und zog dort das Kleid auseinander, so dass der Hals und der Ansatz der Brust frei wurden und ein zarter, gelblicher Spitzensaum des Hemdes erschien. "Wer ist das", sagte die Frau plötzlich und zeigte mit dem Finger auf Josie, "warum starrt er mich so an?" "Du fängst bald an, dich nützlich zu machen", sagte Delamarche und schob Josie beiseite, während er die Frau mit den Worten beruhigte: "Es ist nur der Junge, den ich zu deiner Bedienung mitgebracht habe." "Aber ich will doch niemanden haben", rief sie, "warum bringst du mir fremde Leute in die Wohnung." "Aber die ganze Zeit wünschst du dir doch eine Bedienung", sagte Delamarche und kniete nieder; auf dem Kanapee war trotz seiner großen Breite neben Brunelda nicht der geringste Platz. "Ach, Delamarche", sagte sie, "du verstehst mich nicht und verstehst mich nicht." "Dann versteh ich dich also wirklich nicht", sagte Delamarche und nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände. "Aber es ist ja nichts geschehn, wenn du willst, geht er augenblicklich fort." "Wenn er schon einmal hier ist, soll er bleiben", sagte sie nun wieder und Josie war ihr in seiner Müdigkeit für diese vielleicht gar nicht freundlich gemeinten Worte so dankbar, dass er immer in undeutlichen Gedanken an diese endlose Treppe, die er nun vielleicht gleich wieder hätte abwärts steigen müssen, über den auf seiner Decke friedlich schlafenden Robinson hinweg trat und trotz alles ärgerlichen Händefuchtelns des Delamarche sagte: "Ich danke Ihnen jedenfalls dafür, dass Sie mich ein wenig noch hier lassen wollen. Ich habe wohl schon vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, dabei genug gearbeitet und verschiedene Aufregungen gehabt. Ich bin schrecklich müde. Ich weiß gar nicht recht, wo ich bin. Wenn ich aber ein paar Stunden geschlafen habe, können Sie mich ohne jede sonstige Rücksichtnahme fort schicken und ich werde gerne gehn." "Du kannst überhaupt hier bleiben", sagte die Frau und fügte ironisch hinzu: "Platz haben wir ja im Überfluss, wie du siehst." "Du musst also fort gehn", sagte Delamarche, "wir können dich nicht brauchen." "Nein, er soll bleiben", sagte die Frau nun wieder im Ernste. Und Delamarche sagte zu Josie, wie in Ausführung dieses Wunsches: "Also, leg dich schon irgendwo hin." "Er kann sich auf die Vorhänge legen, aber er muss sich die Stiefel ausziehn, damit er nichts zerreißt." Delamarche zeigte Josie den Platz, den sie meinte. Zwischen der Türe und den drei Schränken war ein großer Haufen von verschiedenartigsten Fenstervorhängen hingeworfen. Wenn man alle regelmäßig zusammengefaltet, die schweren zu unterst und weiter hinauf die leichtern gelegt und schließlich die verschiedenen in den Haufen gesteckten Bretter und Holzringe herausgezogen hätte, so wäre es ein erträgliches Lager geworden, so war es nur eine schaukelnde und gleitende Masse, auf die sich aber Josie trotzdem augenblicklich legte, denn zu besondern Schlafvorbereitungen war er zu müde und musste sich auch mit Rücksicht auf seine Gastgeber hüten, viel Umstände zu machen.
Er war schon fast im eigentlichen Schlafe, da hörte er einen lauten Schrei, erhob sich und sah Brunelda aufrecht auf dem Kanapee sitzen, die Arme weit ausbreiten und Delamarche, der vor ihr kniete, umschlingen. Josie, dem der Anblick peinlich war, lehnte sich wieder zurück und versenkte sich in die Vorhänge zur Fortsetzung des Schlafes. Dass er hier auch nicht zwei Tage aushalten würde, schien ihm klar zu sein, desto nötiger aber war es, sich zuerst gründlich auszuschlafen, um sich dann bei völligem Verstande schnell und richtig entschließen zu können.
Aber Brunelda hatte schon Josies vor Müdigkeit groß aufgerissene Augen, die sie schon einmal erschreckt hatten, bemerkt und rief: "Delamarche, ich halte es vor Hitze nicht aus, ich brenne, ich muss mich ausziehn, ich muss baden, schick die Zwei aus dem Zimmer, wohin du willst, auf den Gang, auf den Balkon, nur dass ich sie nicht mehr sehe. Man ist in seiner eigenen Wohnung und immerfort gestört. Wenn ich mit dir allein wäre, Delamarche. Ach, Gott, sie sind noch immer da! Wie dieser unverschämte Robinson sich da in Gegenwart einer Dame in seiner Unterkleidung streckt. Und wie dieser fremde Junge, der mich vor einem Augenblick ganz wild angeschaut hat, sich wieder gelegt hat, um mich zu täuschen. Nur weg mit ihnen, Delamarche, sie sind mir eine Last, sie liegen mir auf der Brust, wenn ich jetzt umkomme, ist es ihretwegen."
"Sofort sind sie draußen, zieh dich nur schon aus", sagte Delamarche, ging zu Robinson hin und schüttelte ihn mit dem Fuß, den er ihm auf die Brust setzte. Gleichzeitig rief er Josie zu: "Rossmann, aufstehn! Ihr müsst beide auf den Balkon! Und wehe euch, wenn ihr früher hereinkommt, ehe man euch ruft! Und jetzt flink, Robinson," — dabei schüttelte er Robinson stärker, — "und du, Rossmann, gib Acht, dass ich nicht auch über dich komme", dabei klatschte er laut zweimal in die Hände. "Wie lang das dauert!" rief Brunelda auf dem Kanapee, sie hatte beim Sitzen die Beine weit auseinander gestellt, um ihrem übermäßig dicken Körper mehr Raum zu verschaffen, nur mit größter Anstrengung, unter vielem Schnaufen und häufigem Ausruhn, konnte sie sich so weit bücken, um ihre Strümpfe am obersten Ende zu fassen und ein wenig herunter zu ziehn, gänzlich ausziehn konnte sie sie nicht, das musste Delamarche besorgen, auf den sie nun ungeduldig wartete.
Ganz stumpf vor Müdigkeit war Josie von dem Haufen herunter gekrochen und ging langsam zur Balkontüre, ein Stück Vorhangstoffes hatte sich ihm um den Fuß gewickelt und er schleppte es gleichgültig mit. In seiner Zerstreutheit sagte er sogar, als er an Brunelda vorüber ging: "Ich wünsche gute Nacht, und wanderte dann an Delamarche vorbei, der den Vorhang der Balkontüre ein wenig beiseite zog, auf den Balkon hinaus. Gleich hinter Josie kam Robinson wohl nicht minder schläfrig, denn er summte vor sich hin: "Immerfort malträtiert man einen! Wenn Brunelda nicht mitkommt, gehe ich nicht auf den Balkon." Aber trotz dieser Versicherung ging er ohne jeden Widerstand heraus, wo er sich, da Josie schon in den Lehnstuhl gesunken war, sofort auf den Steinboden legte.
Als Josie erwachte, war es schon Abend, die Sterne standen schon am Himmel, hinter den hohen Häusern der gegenüberliegenden Straßenseite stieg der Schein des Mondes empor. Erst nach einigem Umherschauen in der unbekannten Gegend, einigem Aufatmen in der kühlen erfrischenden Luft, wurde sich Josie dessen bewusst, wo er war. Wie unvorsichtig war er gewesen, alle Ratschläge der Oberköchin, alle Warnungen Thereses, alle eigenen Befürchtungen hatte er vernachlässigt, saß hier ruhig auf dem Balkon des Delamarche und hatte hier gar den halben Tag verschlafen, als sei nicht hier hinter dem Vorhang Delamarche, sein großer Feind. Auf dem Boden wand sich der faule Robinson und zog Josie am Fuße, er schien ihn auch auf diese Weise geweckt zu haben, denn er sagte: "Du hast einen Schlaf, Rossmann! Das ist die sorglose Jugend. Wie lange willst du denn noch schlafen. Ich hätte dich ja noch schlafen lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden zu langweilig und zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte dich, steh ein wenig auf, ich habe da unten im Sessel drin etwas zum Essen aufgehoben, ich möchte es gern herausziehen. Du bekommst dann auch etwas." Und Josie, der aufstand, sah nun zu, wie Robinson, ohne aufzustehen, sich auf den Bauch herüber wälzte und mit ausgestreckten Händen unter dem Sessel eine versilberte Schale hervor zog, wie sie etwa zum Aufbewahren von Visitenkarten dient. Auf dieser Schale lag aber eine halbe, ganz schwarze Wurst, einige dünne Zigaretten, eine geöffnete, aber noch gut gefüllte und von Öl überfließende Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und zu einem Ballen gewordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes Stück Brot und eine Art Parfümflasche, die aber etwas anderes als Parfüm zu enthalten schien, denn Robinson zeigte mit besonderer Genugtuung auf sie und schnalzte zu Josie hinauf: "Siehst du, Rossmann", sagte Robinson, während er Sardine nach Sardine herunter schlang und hier und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch reinigte, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte. "Siehst du, Rossmann, so muss man sich sein Essen aufheben, wenn man nicht verhungern will. Du, ich bin ganz bei Seite geschoben. Und wenn man immerfort als Hund behandelt wird, denkt man schließlich, man ists wirklich. Gut, dass du da bist, Rossmann, ich kann wenigstens mit jemandem reden. Im Haus spricht ja niemand mit mir. Wir sind verhasst. Und alles wegen der Brunelda. Sie ist ja natürlich ein prächtiges Weib. Du—" und er winkte Josie zu sich herab, um ihm zuzuflüstern — "ich habe sie einmal nackt gesehn. Oh!" —Und in der Erinnerung an diese Freude fing er an, Josies Beine zu drücken und zu schlagen, bis Josie ausrief: "Robinson, du bist ja verrückt", seine Hände packte und zurück stieß.
"Du bist eben noch ein Kind, Rossmann", sagte Robinson, zog einen Dolch, den er an einer Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm die Dolchkappe ab und zerschnitt die harte Wurst. "Du musst noch viel zulernen. Bist aber bei uns an der richtigen Quelle. Setz dich doch. Willst du nicht auch etwas essen. Nun vielleicht bekommst du Appetit, wenn du mir zuschaust. Trinken willst du auch nicht? Du willst aber rein gar nichts. Und gesprächig bist du gerade auch nicht besonders. Aber es ist ganz gleichgültig, mit wem man auf dem Balkon ist, wenn nur überhaupt jemand da ist. Ich bin nämlich sehr oft auf dem Balkon. Das macht der Brunelda solchen Spaß. Es muss ihr nur etwas einfallen, einmal ist ihr kalt, einmal heiß, einmal will sie schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie das Mieder öffnen, einmal will sie es anziehn, und da werde ich immer auf den Balkon geschickt. Manchmal tut sie wirklich das, was sie sagt, aber meistens liegt sie nur so wie früher auf dem Kanapee und rührt sich nicht. Früher habe ich öfters den Vorhang so ein wenig weggezogen und durchgeschaut, aber seitdem einmal Delamarche bei einer solchen Gelegenheit — ich weiß genau, dass er es nicht wollte, sondern es nur auf Bruneldas Bitte tat — mir mit der Peitsche einige Male ins Gesicht geschlagen hat — siehst du den Striemen? — wage ich nicht mehr durchzuschauen. Und so liege ich dann hier auf dem Balkon und habe kein Vergnügen außer dem Essen. Vorgestern, als ich da abends so allein gelegen bin, damals war ich noch in meinen eleganten Kleidern, die ich leider in deinem Hotel verloren habe — diese Hunde! Reißen einem die teuern Kleider vom Leib! — als ich also da so allein gelegen bin und durch das Geländer herunter geschaut habe, war mir alles so traurig und ich habe zu heulen angefangen. Da ist zufällig, ohne dass ich es gleich bemerkt habe, Brunelda zu mir herausgekommen, in dem roten Kleid — das passt ihr doch von allen am besten —, hat mir ein wenig zugeschaut und hat endlich gesagt: 'Robinsonerl, warum weinst du?' Dann hat sie ihr Kleid gehoben und mir mit dem Saum die Augen abgewischt. Wer weiß, was sie noch getan hätte, wenn da nicht Delamarche nach ihr gerufen hätte und sie nicht sofort wieder ins Zimmer hätte hineingehen müssen. Natürlich habe ich gedacht, jetzt sei die Reihe an mir und habe durch den Vorhang gefragt, ob ich schon ins Zimmer darf. Und was meinst du, hat Brunelda gesagt? 'Nein!' hat sie gesagt und 'Was fällt dir ein?' hat sie gesagt."
"Warum bleibst du denn hier, wenn man dich so behandelt?" fragte Josie.
"Verzeih, Rossmann, du fragst nicht sehr gescheit", antwortete Robinson. "Du wirst schon auch noch hier bleiben und wenn man dich noch ärger behandelt. Übrigens behandelt man mich gar nicht so arg."
"Nein", sagte Josie, "ich gehe bestimmt weg und womöglich noch heute Abend. Ich bleibe nicht bei euch."
"Wie willst du denn z.B. das anstellen, heute Abend weg zu gehn?" fragte Robinson, der das Weiche aus dem Brot herausgeschnitten hatte und sorgfältig in dem Öl der Sardinenbüchse tränkte. "Wie willst du weg gehn, wenn du nicht einmal ins Zimmer hinein gehn darfst."
"Warum dürfen wir denn nicht hinein gehn?"
"Nun, solange es nicht geläutet hat, dürfen wir nicht hinein gehn", sagte Robinson, der mit möglichst weit geöffnetem Mund das fette Brot verspeiste, während er mit einer Hand das vom Brot herab tropfende Öl auffing, um von Zeit zu Zeit das noch übrige Brot in diese als Reservoir dienende hohle Hand zu tauchen. "Es ist hier alles strenger geworden. Zuerst war da nur ein dünner Vorhang, man hat zwar nicht durchgesehn, aber am Abend hat man doch die Schatten erkannt. Das war Brunelda unangenehm und da habe ich einen ihrer Theatermäntel zu einem Vorhang umarbeiten und statt des alten Vorhanges hier aufhängen müssen. Jetzt sieht man gar nichts mehr. Dann habe ich früher immer fragen dürfen, ob ich schon hinein gehn darf und man hat mir je nach den Umständen geantwortet, 'Ja' oder 'Nein', aber dann habe ich das wahrscheinlich zu sehr ausgenützt und zu oft gefragt, Brunelda konnte das nicht ertragen — sie ist trotz ihrer Dicke sehr schwach veranlagt, Kopfschmerzen hat sie oft und Gicht in den Beinen fast immer — und so wurde bestimmt, dass ich nicht mehr fragen darf, sondern dass, wenn ich hinein gehn kann, auf die Tischglocke gedrückt wird. Das gibt ein solches Läuten, dass es mich selbst aus dem Schlaf weckt — ich habe einmal eine Katze zu meiner Unterhaltung hier gehabt, die ist vor Schrecken über dieses Läuten weggelaufen und nicht mehr zurückgekommen. Also geläutet hat es heute noch nicht — wenn es nämlich läutet, dann darf ich nicht nur, sondern muss hinein gehn — und wenn es einmal so lange nicht läutet, dann kann es noch sehr lange dauern."
"Ja", sagte Josie, "aber was für dich gilt, muss doch noch nicht für mich gelten. Überhaupt gilt so etwas nur für den, der es sich gefallen lässt."
"Aber", rief Robinson, "warum sollte denn das nicht auch für dich gelten? Selbstverständlich gilt es auch für dich. Warte hier nur ruhig mit mir, bis es läutet. Dann kannst du ja versuchen, ob du wegkommst."
"Warum gehst du denn eigentlich nicht fort von hier? Nur deshalb, weil Delamarche dein Freund ist oder besser war? Ist denn das ein Leben? Wäre es da nicht in Butterford besser, wohin ihr zuerst wolltet? Oder gar in Kalifornien, wo du Freunde hast."
"Ja", sagte Robinson, "das konnte niemand voraus sehn."
Und ehe er weitererzählte, sagte er noch: "Auf dein Wohl, lieber Rossmann", und nahm einen langen Zug aus der Parfümflasche. "Wir waren ja damals, als du uns so gemein hast sitzen lassen, sehr schlecht daran. Arbeit konnten wir an den ersten Tagen keine bekommen, Delamarche übrigens wollte keine Arbeit, er hätte sie schon bekommen, sondern schickte nur immer mich auf Suche und ich habe kein Glück. Er hat sich nur so herumgetrieben, aber es war schon fast Abend, da hatte er nur ein Damenportemonnaie mitgebracht, es war zwar sehr schön, aus Perlen, jetzt hat er es Brunelda geschenkt, aber es war fast nichts darin. Dann sagte er, wir sollten in die Wohnungen betteln gehn, bei dieser Gelegenheit kann man natürlich manches Brauchbare finden; wir sind also betteln gegangen und ich habe, damit es besser aussieht, vor den Wohnungstüren gesungen. Und wie schon Delamarche immer Glück hat, sind wir nur vor der zweiten Wohnung gestanden, einer sehr reichen Wohnung im Parterre und haben an der Tür der Köchin und dem Diener etwas vorgesungen, da kommt die Dame, der diese Wohnung gehört, eben Brunelda, die Treppe hinauf. Sie war vielleicht zu stark geschnürt und konnte die paar Stufen gar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie ausgesehen hat, Rossmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid und einen roten Sonnenschirm gehabt. Zum Ablecken war sie. Zum Austrinken war sie. Ach, Gott, ach, Gott, war sie schön. So ein Frauenzimmer! Nein, sag mir nur, wie kann es so ein Frauenzimmer geben? Natürlich ist das Mädchen und der Diener gleich ihr entgegengelaufen und haben sie fast hinauf getragen. Wir sind rechts und links von der Tür gestanden und haben salutiert, das macht man hier so. Sie ist ein wenig stehen geblieben, weil sie noch immer nicht genug Atem hatte und nun weiß ich nicht, wie das eigentlich geschehen ist, ich war durch das Hungern nicht ganz bei Verstand und sie war eben in der Nähe noch schöner und riesig breit und infolge eines besondern Mieders, ich kann es dir dann im Kasten zeigen, überall so fest — kurz, ich habe sie ein bisschen hinten angerührt, aber ganz leicht, weißt du, nur so angerührt. Natürlich kann man das nicht dulden, dass ein Bettler eine reiche Dame anrührt. Es war ja fast keine Berührung, aber schließlich war es eben doch eine Berührung. Wer weiß, wie schlimm das ausgefallen wäre, wenn mir nicht Delamarche sofort eine Ohrfeige gegeben hätte und zwar eine solche Ohrfeige, dass ich sofort meine beiden Hände für die Wange brauchte."
"Was ihr getrieben habt", sagte Josie, von der Geschichte ganz gefangen genommen und setzte sich auf den Boden. "Das war also Brunelda?"
"Nun ja", sagte Robinson, "das war Brunelda."
"Sagtest du nicht einmal, dass sie eine Sängerin ist?" fragte Josie.
"Freilich ist sie eine Sängerin und eine große Sängerin", antwortete Robinson, der eine große Bonbonmasse auf der Zunge wälzte und hier und da ein Stück, das aus dem Mund gedrängt wurde, mit den Fingern wieder zurück drückte. "Aber das wussten wir natürlich damals noch nicht, wir sahen nur, dass es eine reiche und sehr feine Dame war. Sie tat, als wäre nichts geschehn und vielleicht hatte sie auch nichts gespürt, denn ich hatte sie tatsächlich nur mit den Fingerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sie Delamarche angesehen, der ihr wieder — wie er das schön trifft — gerade in die Augen zurückgeschaut hat. Darauf hat sie zu ihm gesagt: 'Komm mal auf ein Weilchen herein' und hat mit dem Sonnenschirm in die Wohnung gezeigt, wohin Delamarche ihr vorangehen sollte. Dann sind sie beide hineingegangen und die Dienerschaft hat hinter ihnen die Türe zugemacht. Mich haben sie draußen vergessen und da habe ich gedacht, es wird nicht gar so lange dauern, und habe mich auf die Treppe gesetzt, um Delamarche zu erwarten. Aber statt des Delamarche ist der Diener herausgekommen und hat mir eine ganze Schüssel Suppe herausgebracht, 'eine Aufmerksamkeit des Delamarche!' sagte ich mir. Der Diener blieb noch, während ich aß, ein Weilchen bei mir stehen und erzählte mir einiges über Brunelda und da habe ich gesehen, was für eine Bedeutung der Besuch bei Brunelda für uns haben konnte. Denn Brunelda war eine geschiedene Frau, hatte ein großes Vermögen und war vollständig selbstständig. Ihr früherer Mann, ein Kakaofabrikant, liebte sie zwar noch immer, aber sie wollte von ihm nicht das Geringste hören.
Er kam sehr oft in die Wohnung, immer sehr elegant, wie zu einer Hochzeit, angezogen — das ist Wort für Wort wahr, ich kenne ihn selbst — aber der Diener wagte trotz der größten Bestechung nicht, Brunelda zu fragen, ob sie ihn empfangen wollte, denn er hatte einige Mal schon gefragt und immer hatte ihm Brunelda das, was sie gerade bei der Hand hatte, ins Gesicht geworfen. Einmal sogar ihre große, gefüllte Wärmeflasche und mit der hatte sie ihm einen Vorderzahn ausgeschlagen. Ja, Rossmann, da schaust du!"
"Woher kennst du den Mann?" fragte Josie.
"Er kommt manchmal auch herauf", sagte Robinson.
"Herauf?" Josie schlug vor Staunen leicht mit der Hand auf den Boden.
"Du kannst ruhig staunen", fuhr Robinson fort, "selbst ich habe gestaunt, wie mir das der Diener damals erzählt hat. Denk nur, wenn Brunelda nicht zuhause war, hat sich der Mann von dem Diener in ihre Zimmer führen lassen und immer eine Kleinigkeit als Andenken mitgenommen und immer etwas sehr Teueres und Feines für Brunelda zurückgelassen und dem Diener streng verboten, zu sagen, von wem es ist. Aber einmal, als er etwas — wie der Diener sagte und ich glaub es — geradezu Unbezahlbares aus Porzellan mitgebracht hatte, muss Brunelda es irgendwie erkannt haben, hat es sofort auf den Boden geworfen, ist darauf herum getreten, hat es angespuckt und noch einiges andere damit gemacht, so dass es der Diener vor Ekel kaum heraus tragen konnte."
"Was hat ihr denn der Mann getan?" fragte Josie.
"Das weiß ich eigentlich nicht", sagte Robinson. "Ich glaube aber, nichts Besonderes, wenigstens weiß er es selbst nicht. Ich habe ja schon manchmal mit ihm darüber gesprochen. Er erwartet mich täglich dort an der Straßenecke, wenn ich komme, so muss ich ihm Neuigkeiten erzählen, kann ich nicht kommen, wartet er eine halbe Stunde und geht dann wieder weg. Es war für mich ein guter Nebenverdienst, denn er bezahlt die Nachrichten sehr vornehm, aber seit Delamarche davon erfahren hat, muss ich ihm alles abliefern und so geh ich seltener hin."
"Aber was will der Mann haben?" fragte Josie, "was will er denn nur haben? Er hört doch, sie will ihn nicht."
"Ja", seufzte Robinson, zündete sich eine Zigarette an und blies unter großen Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich anders zu entschließen und sagte: "Was kümmert das mich? Ich weiß nur, er möchte viel Geld dafür geben, wenn er so hier auf dem Balkon liegen dürfte, wie wir."
Josie stand auf, lehnte sich ans Geländer und sah auf die Straße hinunter. Der Mond war schon sichtbar, in die Tiefe der Gasse drang sein Licht aber noch nicht. Die am Tag so leere Gasse war besonders vor den Haustoren gedrängt voll Menschen, alle waren in langsamer, schwerfälliger Bewegung, die Hemdsärmel der Männer, die hellen Kleider der Frauen hoben sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohne Kopfbedeckung. Die vielen Balkone ringsherum waren nun insgesamt besetzt, dort saßen beim Licht einer Glühlampe die Familien, je nach der Größe des Balkons, um einen kleinen Tisch herum oder bloß auf Sesseln in einer Reihe oder sie steckten wenigstens die Köpfe aus dem Zimmer hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, die Füße zwischen den Geländerstangen hinaus gestreckt, und lasen Zeitungen, die fast bis auf den Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar stumm, aber unter starken Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten den Schoß voll Näharbeit und erübrigten nur hier und da einen kurzen Blick für ihre Umgebung oder für die Straße, eine blonde, schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnte immerfort, verdrehte dabei die Augen und hob immer vor den Mund ein Wäschestück, das sie gerade flickte; selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden es die Kinder, einander zu jagen, was den Eltern sehr lästig fiel. Im Innern vieler Zimmer waren Grammofone aufgestellt und bliesen Gesang oder Orchestralmusik hervor; man kümmerte sich nicht besonders um diese Musik, nur hier und da gab der Familienvater einen Wink und irgendjemand eilte ins Zimmer hinein, um eine neue Platte einzulegen. An manchen Fenstern sah man vollständig bewegungslose Liebespaare, an einem Fenster Josie gegenüber stand ein solches Paar aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und drückte mit der Hand ihre Brust.
"Kennst du jemanden von den Leuten hier nebenan?" fragte Josie Robinson, der nun auch aufgestanden war und weil es ihn fröstelte, außer der Bettdecke auch noch die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.
"Fast niemanden. Das ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung", sagte Robinson und zog Josie näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können, "sonst hätte ich mich augenblicklich nicht gerade zu beklagen. Brunelda hat ja wegen Delamarche alles, was sie hatte, verkauft und ist mit allen ihren Reichtümern hierher in diese Vorstadtwohnung gezogen, damit sie sich ihm ganz widmen kann und damit sie niemand stört, übrigens war das auch der Wunsch von Delamarche."
"Und die Dienerschaft hat sie entlassen?" fragte Josie. "Ganz richtig", sagte Robinson. "Wo sollte man auch die Dienerschaft hier unterbringen? Diese Diener sind ja sehr anspruchsvolle Herren. Einmal hat Delamarche bei Brunelda einen solchen Diener einfach mit Ohrfeigen aus dem Zimmer getrieben, da ist eine nach der andern geflogen, bis der Mann draußen war. Natürlich haben die andern Diener sich mit ihm vereinigt und vor der Tür Lärm gemacht, da ist Delamarche herausgekommen, ich war damals nicht Diener, sondern Hausfreund, aber doch war ich mit den Dienern beisammen, und hat gefragt: 'Was wollt ihr?' Der älteste Diener, ein gewisser Isidor, hat daraufhin gesagt: 'Sie haben mit uns nichts zu reden, unsere Herrin ist die gnädige Frau.' Wie du wahrscheinlich merkst, haben sie Brunelda sehr verehrt. Aber Brunelda ist, ohne sich um sie zu kümmern, zu Delamarche gelaufen, sie war damals doch noch nicht so schwer wie jetzt, hat ihn vor allen umarmt, geküsst und 'liebster Delamarche' genannt. 'Und schick doch schon diese Affen weg', hat sie endlich gesagt. Affen — das sollten die Diener sein, stell dir die Gesichter vor, die sie da machten. Dann hat Brunelda die Hand von Delamarche zu ihrer Geldtasche hingezogen, die sie am Gürtel trug, Delamarche hat hinein gegriffen und also angefangen, die Diener auszuzahlen; Brunelda hat sich nur dadurch an der Auszahlung beteiligt, dass sie mit der offenen Geldtasche im Gürtel dabei gestanden ist. Delamarche musste oft hinein greifen, denn er verteilte das Geld, ohne zu zählen, und ohne die Forderungen zu prüfen. Schließlich sagte er: Da ihr also mit mir nicht reden wollt, sage ich euch nur im Namen Bruneldas: 'Packt euch, aber sofort.' So sind sie entlassen worden, es gab dann noch einige Prozesse, Delamarche musste sogar einmal zum Gericht, aber davon weiß ich nichts Genaueres. Nur gleich nach dem Abschied der Diener hat Delamarche zu Brunelda gesagt: 'Jetzt hast du also keine Dienerschaft?' Sie hat gesagt: 'Aber da ist ja Robinson.' Daraufhin hat Delamarche gesagt und hat mir dabei einen Schlag auf die Achsel gegeben: 'Also gut, du wirst unser Diener sein.' Und Brunelda hat mir dann auf die Wange geklopft; wenn sich die Gelegenheit findet, Rossmann, lass dir auch einmal von ihr auf die Wangen klopfen, du wirst staunen, wie schön das ist."
"Du bist also der Diener von Delamarche geworden?" sagte Josie zusammenfassend.
Robinson hörte das Bedauern aus der Frage heraus und antwortete: "Ich bin Diener, aber das bemerken nur wenige Leute. Du siehst, du selbst wusstest es nicht, trotzdem du doch schon ein Weilchen bei uns bist. Du hast ja gesehen, wie ich in der Nacht bei euch im Hotel angezogen war. Das Feinste vom Feinen hatte ich an, gehen Diener so angezogen? Nur ist eben die Sache die, dass ich nicht oft weggehen darf, ich muss immer bei der Hand sein, in der Wirtschaft ist eben immer etwas zu tun. Eine Person ist eben zu wenig für die viele Arbeit. Wie du vielleicht bemerkt hast, haben wir sehr viele Sachen im Zimmer herumstehen; was wir eben bei dem großen Auszug nicht verkaufen konnten, haben wir mitgenommen. Natürlich hätte man es wegschenken können, aber Brunelda schenkt nichts weg. Denk dir nur, welche Arbeit es gegeben hat, diese Sachen die Treppe herauf zu tragen."
"Robinson, du hast das alles herauf getragen?" rief Josie.
"Wer denn sonst?" sagte Robinson. "Es war noch ein Hilfsarbeiter da, ein faules Luder, ich habe die meiste Arbeit allein machen müssen. Brunelda ist unten beim Wagen gestanden, Delamarche hat oben angeordnet, wohin die Sachen zu legen sind und ich bin immerfort hin und hergelaufen. Es hat zwei Tage gedauert, sehr lange, nicht wahr? Aber du weißt ja gar nicht, wie viel Sachen hier im Zimmer sind, alle Kästen sind voll und hinter den Kästen ist alles voll gestopft, bis zur Decke hinauf. Wenn man ein paar Leute für den Transport aufgenommen hätte, wäre ja alles bald fertig gewesen, aber Brunelda wollte es niemandem außer mir anvertrauen. Das war ja sehr schön, aber ich habe damals meine Gesundheit für mein ganzes Leben verdorben, und was habe ich denn sonst gehabt, als meine Gesundheit. Wenn ich mich nur ein wenig anstrenge, sticht es mich hier und hier und hier. Glaubst du, diese Jungen im Hotel, diese Grasfrösche — was sind sie denn sonst? — hätten mich jemals besiegen können, wenn ich gesund wäre. Aber was mir auch fehlen sollte, Delamarche und Brunelda sage ich kein Wort, ich werde arbeiten, solange es gehen wird, und bis es nicht mehr gehen wird, werde ich mich hinlegen und sterben und dann erst, zu spät, werden sie sehen, dass ich krank gewesen bin und trotzdem immerfort und immerfort weitergearbeitet und mich in ihren Diensten zu Tode gearbeitet habe. Ach, Rossmann", sagte er schließlich und trocknete die Augen an Josies Hemdsärmel. Nach einem Weilchen sagte er: "Ist dir denn nicht kalt, du stehst da so im Hemd."
"Geh, Robinson", sagte Josie, "immerfort weinst du. Ich glaube nicht, dass du so krank bist. Du siehst ganz gesund aus, aber weil du immerfort da auf dem Balkon liegst, hast du dir so Verschiedenes ausgedacht. Du hast vielleicht manchmal einen Stich in der Brust, das habe ich auch, das hat jeder. Wenn alle Menschen wegen jeder Kleinigkeit so weinen wollten, wie du, müssten da die Leute auf allen Balkonen weinen."
"Ich weiß es besser", sagte Robinson und wischte nun die Augen mit dem Zipfel seiner Decke. "Der Student, der nebenan bei der Vermieterin wohnt, die auch für uns kochte, hat mir letzthin, als ich das Essgeschirr zurück brachte, gesagt: 'Hören Sie einmal, Robinson, sind Sie nicht krank?' Mir ist verboten, mit den Leuten zu reden und so habe ich nur das Geschirr hingelegt und wollte weggehen. Da ist er zu mir gegangen und hat gesagt: 'Hören Sie, Mann, treiben Sie die Sache nicht zum Äußersten, Sie sind krank.' 'Ja also, ich bitte, was soll ich denn machen', habe ich gefragt. 'Das ist ihre Sache', hat er gesagt und hat sich umgedreht. Die andern dort bei Tisch haben gelacht, wir haben ja hier überall Feinde und so bin ich lieber weggegangen."
"Also Leuten, die dich zum Narren halten, glaubst du und Leuten, die es mit dir gut meinen, glaubst du nicht."
"Aber ich muss doch wissen, wie mir ist", fuhr Robinson auf, kehrte aber gleich wieder zum Weinen zurück.
"Du weißt eben nicht, was dir fehlt, du solltest irgendeine ordentliche Arbeit für dich suchen, statt hier den Diener des Delamarche zu machen. Denn so weit ich nach deinen Erzählungen und nach dem, was ich selbst gesehen habe, urteilen kann, ist das hier kein Dienst, sondern eine Sklaverei. Das kann kein Mensch ertragen, das glaube ich dir. Du aber denkst, weil du der Freund von Delamarche bist, darfst du ihn nicht verlassen. Das ist falsch, wenn er nicht einsieht, was für ein elendes Leben du führst, so hast du ihm gegenüber nicht die geringsten Verpflichtungen mehr."
"Du glaubst also wirklich, Rossmann, dass ich mich wieder erholen werde, wenn ich das Dienen hier aufgebe."
"Gewiss", sagte Josie.
"Gewiss?" fragte nochmals Robinson.
"Ganz gewiss", sagte Josie lächelnd.
"Dann könnte ich ja gleich anfangen, mich zu erholen", sagte Robinson und sah Josie an.
"Wieso denn?" fragte dieser.
"Nun, weil du doch meine Arbeit hier übernehmen sollst", antwortete Robinson.
"Wer hat dir denn das gesagt?" fragte Josie.
"Das ist doch ein alter Plan. Davon wird ja schon seit einigen Tagen gesprochen. Es hat damit angefangen, dass Brunelda mich ausgezankt hat, weil ich die Wohnung nicht genug sauber halte. Natürlich habe ich versprochen, dass ich alles gleich in Ordnung bringen werde. Nun ist das aber sehr schwer. Ich kann z.B. in meinem Zustand nicht überall hin kriechen, um den Staub weg zu wischen, man kann sich schon in der Mitte des Zimmers nicht rühren, wie erst dort zwischen den Möbeln und den Vorräten. Und wenn man alles genau reinigen will, muss man doch auch die Möbel von ihrem Platz weg schieben und das soll ich allein machen? Außerdem müsste das alles ganz leise geschehen, weil doch Brunelda, die ja das Zimmer kaum verlässt, nicht gestört werden darf. Ich habe also zwar versprochen, dass ich alles rein machen werde, aber rein gemacht habe ich es tatsächlich nicht. Als Brunelda das bemerkt hat, hat sie zu Delamarche gesagt, dass das nicht so weiter geht und dass man noch eine Hilfskraft wird aufnehmen müssen. 'Ich will nicht, Delamarche', hat sie gesagt, 'dass du mir einmal Vorwürfe machst, ich hätte die Wirtschaft nicht gut geführt. Selbst kann ich mich nicht anstrengen, das siehst du doch ein und Robinson genügt nicht, am Anfang war er so frisch und hat sich überall umgesehn, aber jetzt ist er immerfort müde und sitzt meist in einem Winkel. Aber ein Zimmer, mit so viel Gegenständen wie das unsrige, hält sich nicht selbst in Ordnung.' Daraufhin hat Delamarche nachgedacht, was sich da tun ließe, denn eine beliebige Person kann man natürlich nicht in einen solchen Haushalt aufnehmen, auch zur Probe nicht, denn man passt uns ja von allen Seiten auf. Weil ich aber dein guter Freund bin und von Renell gehört habe, wie du dich im Hotel plagen musst, habe ich dich in Vorschlag gebracht. Delamarche war gleich einverstanden, trotzdem du damals gegen ihn dich so keck benommen hast und ich habe mich natürlich sehr gefreut, dass ich dir so nützlich sein konnte. Für dich ist nämlich diese Stellung wie geschaffen, du bist jung, stark und geschickt, während ich nichts mehr wert bin. Nur will ich dir sagen, dass du noch keineswegs aufgenommen bist; wenn du Brunelda nicht gefällst, können wir dich nicht brauchen. Also strenge dich nur an, dass du ihr angenehm bist, für das Übrige werde ich schon sorgen."
"Und was wirst du machen, wenn ich hier Diener sein werde?" fragte Josie, er fühlte sich so frei, der erste Schrecken, den ihm die Mitteilungen Robinsons verursacht hatten, war vorüber. Delamarche hatte also keine schlimmeren Absichten mit ihm, als ihn zum Diener zu machen, — hätte er schlimmere Absichten gehabt, dann hätte sie der plapperhafte Robinson gewiss verraten — wenn es aber so stand, dann getraute sich Josie, noch heute Nacht den Abschied durchzuführen. Man kann niemanden zwingen, einen Posten anzunehmen. Und während Josie früher genug Sorgen gehabt hatte, ob er nach seiner Entlassung aus dem Hotel genügend bald, um vor Hunger geschützt zu sein, einen passenden und womöglich nicht unansehnlichen Posten bekommen werde, schien ihm jetzt im Vergleich zu dem ihm hier zugedachten Posten, der ihm widerlich war, jeder andere Posten gut genug, und selbst die stellungslose Not hätte er diesem Posten vorgezogen. Robinson das aber begreiflich zu machen, versuchte er gar nicht, besonders da Robinson jetzt in jedem Urteil durch die Hoffnung völlig befangen war, von Josie entlastet zu werden.
"Ich werde also", sagte Robinson und begleitete die Rede mit behaglichen Handbewegungen — die Ellenbogen hatte er auf das Geländer aufgestützt, — "zunächst dir alles erklären und die Vorräte zeigen. Du bist gebildet und hast sicher eine schöne Schrift, du könntest also gleich ein Verzeichnis aller der Sachen machen, die wir da haben. Das hat sich Brunelda schon längst gewünscht. Wenn morgen Vormittag schönes Wetter ist, werden wir Brunelda bitten, dass sie sich auf den Balkon setzt und inzwischen werden wir ruhig und ohne sie zu stören, im Zimmer arbeiten können. Denn darauf, Rossmann, musst du vor allem Acht geben. Nur nicht Brunelda stören. Sie hört alles, wahrscheinlich hat sie als Sängerin so empfindliche Ohren. Du rollst z.B. das Fass mit Schnaps, das hinter den Kästen steht, heraus, es macht ja Lärm, weil es schwer ist und dort überall verschiedene Sachen herumliegen, so dass man es nicht mit einem Mal durchrollen kann. Brunelda liegt z.B. ruhig auf dem Kanapee und fängt Fliegen, die sie überhaupt sehr belästigen. Du glaubst also, sie kümmert sich um dich nicht und rollst dein Fass weiter. Sie liegt noch immer ruhig. Aber in einem Augenblick, wo du es gar nicht erwartest und wo du am wenigsten Lärm machst, setzt sie sich plötzlich aufrecht, schlägt mit beiden Händen auf das Kanapee, dass man sie vor Staub nicht sieht — seit wir hier sind, habe ich das Kanapee nicht ausgeklopft, ich kann ja nicht, sie liegt doch immerfort darauf — und fängt schrecklich zu schreien an, wie ein Mann, und schreit so stundenlang. Das Singen haben ihr die Nachbarn verboten, das Schreien aber kann ihr niemand verbieten, sie muss schreien, übrigens geschieht es ja jetzt nur selten, ich und Delamarche sind sehr vorsichtig geworden. Es hat ihm ja auch sehr geschadet. Einmal ist sie ohnmächtig geworden und ich habe — Delamarche war gerade weg — den Studenten von nebenan holen müssen, der hat sie aus einer großen Flasche mit einer Flüssigkeit bespritzt, es hat auch geholfen, aber diese Flüssigkeit hat einen unerträglichen Geruch gehabt, noch jetzt, wenn man die Nase zum Kanapee hält, riecht man es. Der Student ist sicher unser Feind, wie alle hier, du musst dich auch vor allen in Acht nehmen, und dich mit keinem einlassen."
"Du, Robinson", sagte Josie, "das ist aber ein schwerer Dienst. Da hast du mich für einen schönen Posten empfohlen."
"Mach dir keine Sorgen", sagte Robinson und schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf, um alle möglichen Sorgen Josies abzuwehren, "der Posten hat auch Vorteile, wie sie dir kein anderer Posten bieten kann. Du bist immerfort in der Nähe einer Dame, wie Brunelda eine ist, du schläfst manchmal mit ihr im gleichen Zimmer, das bringt schon, wie du dir denken kannst, verschiedene Annehmlichkeiten mit sich. Du wirst reichlich bezahlt werden, Geld ist in Menge da, ich habe als Freund des Delamarche nichts bekommen, nur wenn ich ausgegangen bin, hat mir Brunelda immer etwas mitgegeben, aber du wirst natürlich bezahlt werden, wie ein anderer Diener. Du bist ja auch nichts anderes. Das Wichtigste für dich aber ist, dass ich dir den Posten sehr erleichtern werde. Zunächst werde ich natürlich nichts machen, damit ich mich erhole, aber wie ich nur ein wenig erholt bin, kannst du auf mich rechnen. Die eigentliche Bedienung Bruneldas behalte ich überhaupt für mich, also das Frisieren und Anziehn, so weit es nicht Delamarche besorgt. Du wirst dich nur um das Aufräumen des Zimmers, um Besorgungen und die schwereren häuslichen Arbeiten zu kümmern haben."
"Nein, Robinson", sagte Josie, "das alles verlockt mich nicht."
"Mach keine Dummheiten, Rossmann", sagte Robinson, ganz nahe an Josies Gesicht, "verscherze dir nicht diese schöne Gelegenheit. Wo bekommst du denn gleich einen Posten? Wer kennt dich? Wen kennst du? Wir, zwei Männer, die schon viel erlebt haben und große Erfahrung besitzen, sind wochenlang herumgelaufen, ohne Arbeit zu bekommen. Es ist nicht leicht, es ist sogar verzweifelt schwer."
Josie nickte und wunderte sich, wie vernünftig Robinson auch sprechen konnte. Für ihn hatten diese Ratschläge allerdings keine Geltung, er durfte hier nicht bleiben, in der großen Stadt würde sich wohl ein Plätzchen noch für ihn finden, die ganze Nacht über, das wusste er, waren alle Gasthäuser überfüllt, man brauchte Bedienung für die Gäste, darin hatte er nun schon Übung, er würde sich schon rasch und unauffällig in irgendeinen Betrieb einfügen. Gerade im gegenüberliegenden Hause war unten ein kleines Gasthaus untergebracht, aus dem eine rauschende Musik hervor drang. Der Haupteingang war nur mit einem großen, gelben Vorhang verdeckt, der manchmal von einem Luftzug bewegt mächtig in die Gasse hinaus flatterte. Sonst war es in der Gasse freilich viel stiller geworden. Die meisten Balkone waren finster, nur in der Ferne fand sich noch hier oder dort ein einzelnes Licht, aber kaum fasste man es für ein Weilchen ins Auge, erhoben sich dort die Leute und während sie in die Wohnung zurückdrängten, griff ein Mann an die Glühlampe und drehte, als Letzter auf dem Balkon zurückbleibend, nach einem kurzen Blick auf die Gasse das Licht aus.
"Nun beginnt ja schon die Nacht", sagte sich Josie, "bleibe ich noch länger hier, gehöre ich schon zu ihnen." Er drehte sich um, um den Vorhang vor der Wohnungstür wegzuziehen. "Was willst du?" sagte Robinson und stellte sich zwischen Josie und den Vorhang. "Weg will ich", sagte Josie, "lass mich, lass mich!" "Du willst sie doch nicht stören", rief Robinson, "was fällt dir denn nur ein." Und er legte Josie die Arme um den Hals, hing sich mit seiner ganzen Last an ihn, umklammerte mit den Beinen Josies Beine und zog ihn so im Augenblick auf die Erde nieder. Aber Josie hatte unter den Liftjungen ein wenig raufen gelernt und so stieß er Robinson die Faust unter das Kinn, aber schwach und voll Schonung. Der gab Josie noch rasch und ganz rücksichtslos mit dem Knie einen vollen Stoß in den Bauch, fing dann aber, beide Hände am Kinn, so laut zu heulen an, dass von dem benachbarten Balkon ein Mann unter wildem Händeklatschen "Ruhe" befahl. Josie lag noch ein wenig still, um den Schmerz, den ihm der Stoß Robinsons verursacht hatte, zu verwinden. Er wendete nur das Gesicht zum Vorhang hin, der ruhig und schwer vor dem offenbar dunklen Zimmer hing. Es schien ja niemand mehr im Zimmer zu sein, vielleicht war Delamarche mit Brunelda ausgegangen und Josie hatte schon völlige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein Wächterhund benahm, war ja endgültig abgeschüttelt.
Da ertönten aus der Ferne, von der Gasse her stoßweise Trommeln und Trompeten. Einzelne Rufe vieler Leute sammelten sich bald zu einem allgemeinen Schreien. Josie drehte den Kopf und sah wie sich alle Balkone von neuem belebten. Langsam erhob er sich, er konnte sich nicht ganz aufrichten und musste sich schwer gegen das Geländer drücken. Unten auf den Trottoiren marschierten junge Burschen mit großen Schritten, ausgestreckten Armen, die Mützen in der erhobenen Hand, die Gesichter zurück gewendet. Die Fahrbahn blieb noch frei. Einzelne schwenkten auf hohen Stangen Lampione, die von einem gelblichen Rauch umhüllt waren. Gerade traten die Trommler und Trompeter in breiten Reihen ans Licht und Josie staunte über ihre Menge, da hörte er hinter sich Stimmen, drehte sich um und sah Delamarche den schweren Vorhang heben und dann aus dem Zimmerdunkel Brunelda treten, im roten Kleid, mit einem Spitzenüberwurf um die Schultern, einem dunklen Häubchen über dem wahrscheinlich unfrisierten und bloß aufgehäuften Haar, dessen Enden hier und da hervor sahen. In der Hand hielt sie einen kleinen, ausgespannten Fächer, bewegte ihn aber nicht, sondern drückte ihn eng an sich.
Josie schob sich am Geländer entlang zur Seite, um den beiden Platz zu machen. Gewiss würde ihn niemand zum Hierbleiben zwingen und wenn es auch Delamarche versuchen sollte, Brunelda würde ihn auf seine Bitte sofort entlassen. Sie konnte ihn ja gar nicht leiden, seine Augen erschreckten sie. Aber als er einen Schritt zur Tür hin machte, hatte sie es doch bemerkt und sagte: "Wohin denn, Kleiner?" Josie stockte vor den strengen Blicken Delamarches und Brunelda zog ihn zu sich. "Willst du dir denn nicht den Aufzug unten ansehn?" sagte sie und schob ihn vor sich an das Geländer. "Weißt du, um was es sich handelt?" hörte sie Josie hinter sich sagen und machte ohne Erfolg eine unwillkürliche Bewegung, um sich ihrem Druck zu entziehen. Traurig sah er auf die Gasse hinunter, als sei dort der Grund seiner Traurigkeit.
Delamarche stand zuerst mit gekreuzten Armen hinter Brunelda, dann lief er ins Zimmer und brachte Brunelda den Operngucker. Unten war hinter den Musikanten der Hauptteil des Aufzuges erschienen. Auf den Schultern eines riesenhaften Mannes saß ein Herr, von dem man in dieser Höhe nichts anderes sah, als seine matt schimmernde Glatze, über der er seinen Zylinderhut ständig grüßend hoch erhoben hielt. Rings um ihn wurden offenbar Holztafeln getragen, die vom Balkon aus gesehen ganz weiß erschienen; die Anordnung war derartig getroffen, dass diese Plakate von allen Seiten sich förmlich an den Herrn anlehnten, der aus ihrer Mitte hoch hervorragte. Da alles im Gange war, lockerte sich diese Mauer von Plakaten immerfort und ordnete sich auch immerfort von Neuem. Im weitern Umkreis war um den Herrn die ganze Breite der Gasse, wenn auch, so weit man im Dunkel schätzen konnte, auf eine unbedeutende Länge hin, von Anhängern des Herrn angefüllt, die sämtlich in die Hände klatschten und wahrscheinlich den Namen des Herrn, einen ganz kurzen, aber unverständlichen Namen, in einem getragenen Gesange verkündeten. Einzelne, die geschickt in der Menge verteilt waren, hatten Automobillaternen mit äußerst starkem Licht, das sie die Häuser auf beiden Seiten der Straße langsam auf- und abwärts führten. In Josies Höhe störte das Licht nicht mehr, aber auf den unteren Balkonen sah man die Leute, die davon bestrichen wurden, eiligst die Hände an die Augen führen.
Delamarche erkundigte sich auf die Bitte Bruneldas bei den Leuten auf dem Nachbarbalkon, was die Veranstaltung zu bedeuten habe. Josie war ein wenig neugierig, ob und wie man ihm antworten würde. Und tatsächlich musste Delamarche dreimal fragen, ohne eine Antwort zu bekommen. Er beugte sich schon gefährlich über das Geländer, Brunelda stampfte vor Ärger über die Nachbarn leicht auf, Josie fühlte ihr Knie. Endlich kam doch irgendeine Antwort, aber gleichzeitig fingen auf diesem Balkon, der gedrängt voll Menschen war, alle laut zu lachen an. Daraufhin schrie Delamarche etwas hinüber, so laut, dass, wenn nicht augenblicklich in der ganzen Gasse viel Lärm gewesen wäre, alles ringsherum erstaunt hätte aufhorchen müssen. Jedenfalls hatte es die Wirkung, dass das Lachen unnatürlich bald sich legte.
"Es wird morgen ein Richter in unserem Bezirk gewählt und der, den sie unten tragen, ist ein Kandidat", sagte Delamarche, vollkommen ruhig zu Brunelda zurückkehrend. "Nein!" rief er dann und klopfte liebkosend Brunelda auf den Rücken, "wir wissen schon gar nicht mehr, was in der Welt vorgeht."
"Delamarche", sagte Brunelda, auf das Benehmen der Nachbarn zurückkommend, "wie gern wollte ich übersiedeln, wenn es nicht so anstrengend wäre. Ich darf es mir aber leider nicht zutrauen." Und unter großen Seufzern, unruhig und zerstreut, nestelte sie an Josies Hemd, der möglichst unauffällig immer wieder diese kleinen, fetten Händchen weg zu schieben suchte, was ihm auch leicht gelang, denn Brunelda dachte nicht an ihn, sie war mit ganz anderen Gedanken beschäftigt.
Aber auch Josie vergaß bald Brunelda und duldete die Last ihrer Arme auf seinen Achseln, denn die Vorgänge auf der Straße nahmen ihn sehr in Anspruch. Auf Anordnung einer kleinen Gruppe gestikulierender Männer, die knapp vor dem Kandidaten marschierten und deren Unterhaltungen eine besondere Bedeutung haben mussten, denn von allen Seiten sah man lauschende Gesichter sich ihnen zuneigen, wurde unerwarteterweise vor dem Gasthaus Halt gemacht. Einer dieser maßgebenden Männer machte mit erhobener Hand ein Zeichen, das sowohl der Menge als auch dem Kandidaten galt. Die Menge verstummte und der Kandidat, der sich auf den Schultern seines Trägers mehrmals aufzustellen suchte und mehrmals in den Sitz zurück fiel, hielt eine kleine Rede, während welcher er seinen Zylinder in Windeseile hin- und herfahren ließ. Man sah das ganz deutlich, denn während seiner Rede waren alle Automobillaternen auf ihn gerichtet worden, so dass er in der Mitte eines hellen Sternes sich befand.
Nun erkannte man aber auch schon das Interesse, welches die ganze Straße an der Angelegenheit nahm. Auf den Balkonen, die von Parteigängern des Kandidaten besetzt waren, fiel man mit in das Singen seines Namens ein und ließ die weit über das Geländer vorgestreckten Hände maschinenmäßig klatschen. Auf den übrigen Balkonen, die sogar in der Mehrzahl waren, erhob sich ein starker Gegengesang, der allerdings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich um die Anhänger verschiedener Kandidaten handelte. Dagegen verbanden sich weiterhin alle Feinde des anwesenden Kandidaten zu einem allgemeinen Pfeifen und sogar Grammofone wurden vielfach wieder in Gang gesetzt. Zwischen den einzelnen Balkonen wurden politische Streitigkeiten mit einer durch die nächtliche Stunde verstärkten Erregung ausgetragen. Die meisten waren schon in Nachtkleidern und hatten nur Überröcke umgeworfen, die Frauen hüllten sich in große, dunkle Tücher, die unbeachteten Kinder kletterten beängstigend auf den Einfassungen der Balkone umher und kamen in immer größerer Zahl aus den dunklen Zimmern, in denen sie schon geschlafen hatten, hervor. Hier und da wurden einzelne unkenntliche Gegenstände von besonders Erhitzten in die Richtung ihrer Gegner geschleudert, manchmal gelangten sie an ihr Ziel, meist aber fielen sie auf die Straße herab, wo sie oft ein Wutgeheul hervorriefen. Wurde den führenden Männern unten der Lärm zu arg, so erhielten die Trommler und Trompeter den Auftrag, einzugreifen und ihr schmetterndes, mit ganzer Kraft ausgeführtes, nicht Enden wollendes Signal unterdrückte alle menschlichen Stimmen bis zu den Dächern der Häuser hinauf. Und immer, ganz plötzlich — man glaubte es kaum — hörten sie auf, worauf die hierfür offenbar eingeübte Menge auf der Straße in die für einen Augenblick eingetretene, allgemeine Stille ihren Parteigesang empor brüllte — man sah im Lichte der Automobillaternen den Mund jedes Einzelnen weit geöffnet — bis dann die inzwischen zur Besinnung gekommenen Gegner zehnmal so stark wie früher aus allen Balkonen und Fenstern hervor schrien und die Partei unten nach ihrem kurzen Sieg zu einem für diese Höhe wenigstens gänzlichen Verstummen brachten.
"Wie gefällt es dir, Kleiner?" fragte Brunelda, die sich eng hinter Josie hin- und herdrehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu übersehen. Josie antwortete nur durch Kopfnicken. Nebenbei bemerkte er, wie Robinson Delamarche eifrig verschiedene Mitteilungen, offenbar über Josies Verhalten, machte, denen aber Delamarche keine Bedeutung beizumessen schien, denn er suchte Robinson mit der Linken, mit der Rechten hatte er Brunelda umfasst, immerfort beiseite zu schieben. "Willst du nicht durch den Gucker schauen?" fragte Brunelda und klopfte auf Josies Brust, um zu zeigen, dass sie ihn meine.
"Ich sehe genug", sagte Josie.
"Versuch es doch", sagte sie, "du wirst besser sehen."
"Ich habe gute Augen", antwortete Josie, "ich sehe alles." Er empfand es nicht als Liebenswürdigkeit, sondern als Störung, als sie den Gucker seinen Augen näherte und tatsächlich sagte sie nun nichts als das eine Wort: "Du!" Melodisch, aber drohend. Und schon hatte Josie den Gucker an seinen Augen und sah nun tatsächlich nichts.
"Ich sehe ja nichts", sagte er und wollte den Gucker loswerden, aber den Gucker hielt sie fest und den auf ihrer Brust eingebetteten Kopf konnte er weder zurück noch seitwärts schieben.
"Jetzt siehst du aber schon", sagte sie und drehte an der Schraube des Guckers.
"Nein, ich sehe noch immer nichts", sagte Josie und dachte daran, dass er Robinson ohne seinen Willen nun tatsächlich entlastet habe, denn Bruneldas unerträgliche Launen wurden nun an ihm ausgelassen.
"Wann wirst du denn endlich sehen?" sagte sie und drehte — Josie hatte nun sein ganzes Gesicht in ihrem schweren Atem — weiter an der Schraube. "Jetzt?" fragte sie.
"Nein, nein, nein!" rief Josie, trotzdem er nun tatsächlich, wenn auch nur sehr undeutlich, alles unterscheiden konnte. Aber gerade hatte Brunelda irgendetwas mit Delamarche zu tun, sie hielt den Gucker nur lose vor Josies Gesicht und Josie konnte, ohne dass sie es besonders beachtete, unter dem Gucker hinweg auf die Straße sehen. Später bestand sie auch nicht mehr auf ihrem Willen und benützte den Gucker für sich.
Aus dem Gasthaus unten war ein Kellner getreten und auf der Türschwelle hin und her eilend nahm er die Bestellungen der Führer entgegen. Man sah, wie er sich streckte, um das Innere des Lokals zu übersehen und möglichst viel Bedienung herbeizurufen. Während dieser offenbar einem großen Freitrinken dienenden Vorbereitungen ließ der Kandidat nicht vom Reden ab. Sein Träger, der riesige nur ihm dienende Mann, machte immer nach einigen Sätzen eine kleine Drehung, um die Rede allen Teilen der Menge zukommen zu lassen. Der Kandidat hielt sich meist ganz zusammen gekrümmt und versuchte mit ruckweisen Bewegungen der einen freien Hand und des Zylinders in der andern seinen Worten möglichste Eindringlichkeit zu geben. Manchmal aber, in fast regelmäßigen Zwischenräumen, durchfuhr es ihn, er erhob sich mit ausgebreiteten Armen, er redete nicht mehr eine Gruppe, sondern die Gesamtheit an, er sprach zu den Bewohnern der Häuser bis zu den höchsten Stockwerken hinauf und doch war es vollkommen klar, dass ihn schon in den untersten Stockwerken niemand hören konnte, ja, dass ihm auch, wenn die Möglichkeit gewesen wäre, niemand hätte zuhören wollen, denn jedes Fenster und jeder Balkon war doch zumindest von einem schreienden Redner besetzt. Inzwischen brachten einige Kellner aus dem Gasthaus ein mit gefüllten, leuchtenden Gläsern besetztes Brett, im Umfang eines Billards, hervor. Die Führer organisierten die Verteilung, die in Form eines Vorbeimarsches an der Gasthaustür erfolgte. Aber trotzdem die Gläser auf dem Brett immer wieder nachgefüllt wurden, genügten sie für die Menge nicht, und zwei Reihen von Schankburschen mussten rechts und links vom Brett durchschlüpfen und die Menge weiterhin versorgen. Der Kandidat hatte natürlich mit Reden aufgehört und benützte die Pause, um sich neu zu kräftigen. Abseits von der Menge und dem grellen Licht trug ihn sein Träger langsam hin und her und nur einige seiner nächsten Anhänger begleiteten ihn dort und sprachen zu ihm hinauf.
"Sieh mal den Kleinen", sagte Brunelda, "er vergisst vor lauter Schauen, wo er ist." Und sie überraschte Josie und drehte mit beiden Händen sein Gesicht sich zu, so dass sie ihm in die Augen sah. Es dauerte aber nur einen Augenblick, denn Josie schüttelte gleich ihre Hände ab und ärgerlich darüber, dass man ihn nicht ein Weilchen lang in Ruhe ließ und gleichzeitig voll Lust auf die Straße zu gehen und alles von der Nähe anzusehen, suchte er sich nun mit aller Kraft vom Druck Bruneldas zu befreien und sagte: "Bitte, lassen Sie mich weg." "Du wirst bei uns bleiben", sagte Delamarche, ohne den Blick von der Straße zu wenden und streckte nur eine Hand aus, um Josie am Weggehen zu verhindern.
"Lass nur", sagte Brunelda und wehrte die Hand Delamarches ab, "er bleibt ja schon." Und sie drückte Josie noch fester ans Geländer, er hätte mit ihr raufen müssen, um sich von ihr zu befreien. Und wenn ihm das auch gelungen wäre, was hätte er damit erreicht. Links von ihm stand Delamarche, rechts hatte sich nun Robinson aufgestellt, er war in einer regelrechten Gefangenschaft.
"Sei froh, dass man dich nicht hinaus wirft", sagte Robinson und beklopfte Josie mit der Hand, die er unter Bruneldas Arm durchgezogen hatte.
"Hinaus wirft?" sagte Delamarche. "Einen entlaufenen Dieb wirft man nicht hinaus, den übergibt man der Polizei. Und das kann ihm gleich morgen früh geschehen, wenn er nicht ganz ruhig ist."
Von diesem Augenblick an hatte Josie an dem Schauspiel unten keine Freude mehr. Nur gezwungen, weil er Bruneldas wegen sich nicht aufrichten konnte, beugte er sich ein wenig über das Geländer. Voll eigener Sorgen, mit zerstreuten Blicken, sah er die Leute unten an, die in Gruppen von etwa zwanzig Mann vor die Gasthaustüre traten, die Gläser ergriffen, sich umdrehten und diese Gläser in der Richtung gegen den jetzt mit sich beschäftigten Kandidaten schwenkten, einen Parteigruß ausriefen, die Gläser leerten und sie, jedenfalls dröhnend, in dieser Höhe aber unhörbar, auf das Brett wieder nieder setzten, um einer neuen, vor Ungeduld lärmenden Gruppe Platz zu machen. Über Auftrag der Führer war die Kapelle, die bisher im Gasthaus gespielt hatte, auf die Gasse getreten, ihre großen Blasinstrumente strahlten aus der dunklen Menge, aber ihr Spiel verging fast im allgemeinen Lärm. Die Straße war nun wenigstens auf der Seite, wo sich das Gasthaus befand, weithin mit Menschen angefüllt. Von oben, von wo Josie am Morgen im Automobil gekommen war, strömten sie herab, von unten, von der Brücke her, liefen sie herauf und selbst die Leute in den Häusern hatten der Verlockung nicht widerstehen können, in diese Angelegenheit mit eigenen Händen einzugreifen, auf den Balkonen und in den Fenstern waren fast nur Frauen und Kinder zurückgeblieben, während die Männer unten aus den Haustoren drängten. Nun aber hatte die Musik und die Bewirtung den Zweck erreicht, die Versammlung war genügend groß, -ein von zwei Automobillaternen flankierter Führer winkte die Musik ab, stieß einen starken Pfiff aus und nun sah man den ein wenig abgeirrten Träger mit dem Kandidaten durch einen von Anhängern gebahnten Weg eiligst herbei kommen.
Kaum war er bei der Gasthaustüre, begann der Kandidat im Schein der nun im engen Kreis um ihn gehaltenen Automobillaternen seine neue Rede. Aber nun war alles viel schwieriger als früher, der Träger hatte nicht die geringste Bewegungsfreiheit mehr, das Gedränge war zu groß. Die nächsten Anhänger, die früher mit allen möglichen Mitteln die Wirkung der Reden des Kandidaten zu verstärken versucht hatten, hatten nun Mühe, sich in seiner Nähe zu erhalten, wohl zwanzig hielten sich mit aller Anstrengung am Träger fest. Aber selbst dieser starke Mann konnte keinen Schritt nach seinem Willen mehr machen, an eine Einflussnahme der Menge durch bestimmte Wendungen oder durch passendes Vorrücken oder Zurückweichen war nicht mehr zu denken. Die Menge flutete ohne Plan, einer lag am andern, keiner stand mehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch neues Publikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hatte sich lange in der Nähe der Gasthaustüre gehalten, nun aber ließ er sich scheinbar ohne Widerstand die Gasse auf und abwärts treiben, der Kandidat redete immerfort, aber es war nicht mehr ganz klar, ob er sein Programm auseinander legte oder um Hilfe rief; wenn nicht alles täuschte, hatte sich auch ein Gegenkandidat eingefunden, oder gar mehrere, denn hier und da sah man in irgendeinem plötzlich aufflammenden Licht einen von der Menge empor gehobenen Mann mit bleichem Gesicht und geballten Fäusten eine von vielstimmigen Rufen begrüßte Rede halten.
"Was geschieht denn da?" fragte Josie und wandte sich in atemloser Verwirrung an seine Wächter.
"Wie es den Kleinen aufregt", sagte Brunelda zu Delamarche und fasste Josie am Kinn, um seinen Kopf an sich zu ziehen. Aber das wollte Josie nicht und er schüttelte sich, durch die Vorgänge auf der Straße förmlich rücksichtsloser gemacht, so stark, dass Brunelda ihn nicht nur losließ, sondern zurückwich und ihn gänzlich freigab. "Jetzt hast du genug gesehen", sagte sie, offenbar durch Josies Benehmen böse gemacht, "geh ins Zimmer, bette auf und bereite alles für die Nacht vor." Sie streckte die Hand nach dem Zimmer aus. Das war ja die Richtung, die Josie schon seit einigen Stunden nehmen wollte, er widersprach mit keinem Wort. Da hörte man von der Gasse her das Krachen von vielem zersplitternden Glas. Josie konnte sich nicht bezwingen und sprang noch rasch zum Geländer, um flüchtig noch einmal hinunter zu schauen. Ein Anschlag der Gegner und vielleicht ein entscheidender war geglückt, die Automobillaternen der Anhänger, die mit ihrem starken Licht wenigstens die Hauptvorgänge vor der gesamten Öffentlichkeit geschehen ließen und dadurch alles in gewissen Grenzen gehalten hatten, waren sämtlich und gleichzeitig zerschmettert worden, den Kandidaten und seinen Träger umfing nun die gemeinsame, unsichere Beleuchtung, die in ihrer plötzlichen Ausbreitung wie völlige Finsternis wirkte. Auch nicht beiläufig hätte man jetzt angeben können, wo sich der Kandidat befand und das Täuschende des Dunkels wurde noch vermehrt durch einen gerade einsetzenden, breiten, einheitlichen Gesang, der von unten, von der Brücke her sich näherte.
"Habe ich dir nicht gesagt, was du jetzt zu tun hast", sagte Brunelda, "beeile dich. Ich bin müde", fügte sie hinzu und streckte dann die Arme in die Höhe, so dass sich ihre Brust noch viel mehr wölbte als gewöhnlich. Delamarche, der sie noch immer umfasst hielt, zog sie mit sich in eine Ecke des Balkons. Robinson ging ihnen nach, um die Überbleibsel seines Essens, die noch dort lagen, beiseite zu schieben.
Diese günstige Gelegenheit musste Josie ausnützen, jetzt war keine Zeit hinunter zu schauen, von den Vorgängen auf der Straße würde er unten noch genug sehen und mehr als von hier oben. In zwei Sprüngen eilte er durch das rötlich beleuchtete Zimmer, aber die Tür war verschlossen und der Schlüssel abgezogen. Der musste jetzt gefunden werden, aber wer wollte in dieser Unordnung einen Schlüssel finden und gar in der kurzen, kostbaren Zeit, die Josie zur Verfügung stand. Jetzt hätte er schon eigentlich auf der Treppe sein, hätte laufen und laufen sollen. Und nun suchte er den Schlüssel! Suchte ihn in allen zugänglichen Schubladen, stöberte auf dem Tisch herum, wo verschiedenes Essgeschirr, Servietten und irgendeine angefangene Stickerei herum lagen, wurde durch einen Lehnstuhl angelockt, auf dem ein ganz verfilzter Haufen alter Kleidungsstücke sich befand, in denen der Schlüssel sich möglicherweise befinden, aber niemals aufgefunden werden konnte und warf sich schließlich auf das tatsächlich übel riechende Kanapee, um in allen Ecken und Falten nach dem Schlüssel zu tasten. Dann ließ er vom Suchen ab und stockte in der Mitte des Zimmers. Gewiss hatte Brunelda den Schlüssel an ihrem Gürtel befestigt, sagte er sich, dort hingen ja so viele Sachen, alles Suchen war umsonst.
Und blindlings ergriff Josie zwei Messer und bohrte sie zwischen die Türflügel, eines oben, eines unten, um zwei voneinander entfernte Angriffspunkte zu erhalten. Kaum hatte er an den Messern gezogen, brachen natürlich die Klingen entzwei. Er hatte nichts anderes wollen, die Stümpfe, die er nun fester einbohren konnte, würden desto besser halten. Und nun zog er mit aller Kraft, die Arme weit ausgebreitet, die Beine weit auseinander gestemmt, stöhnend und dabei genau auf die Tür aufpassend. Sie würde nicht auf die Dauer widerstehen können, das erkannte er mit Freuden aus dem deutlich hörbaren Sichlockern der Riegel, je langsamer es aber ging, desto richtiger war es, aufspringen durfte ja das Schloss gar nicht, sonst würde man ja auf dem Balkon aufmerksam werden, das Schloss musste sich vielmehr ganz langsam voneinander lösen und darauf arbeitete Josie mit größter Vorsicht hin, die Augen immer mehr dem Schlosse nähernd.
"Seht einmal", hörte er da die Stimme Delamarches. Alle drei standen im Zimmer, der Vorhang war hinter ihnen schon zugezogen, Josie musste ihr Kommen überhört haben, die Hände sanken ihm bei dem Anblick von den Messern herab. Aber er hatte gar nicht Zeit, irgendein Wort zur Erklärung oder Entschuldigung zu sagen, denn in einem weit über die augenblickliche Gelegenheit hinausgehenden Wutanfall sprang Delamarche — sein gelöstes Schlafrockseil beschrieb eine große Figur in der Luft — auf Josie los. Josie wich noch im letzten Augenblick dem Angriff aus, er hätte die Messer aus der Tür ziehen und zur Verteidigung benützen können, aber das tat er nicht, dagegen griff er sich bückend und aufspringend nach dem breiten Schlafrockkragen Delamarches, schlug ihn in die Höhe, zog ihn dann noch weiter hinauf — der Schlafrock war ja für Delamarche viel zu groß — und hielt nun glücklich Delamarche beim Kopf, der allzu sehr überrascht, zuerst blind mit den Händen fuchtelte und erst nach einem Weilchen, aber noch nicht mit ganzer Wirkung mit den Fäusten auf Josies Rücken schlug, der sich, um sein Gesicht zu schützen, an die Brust Delamarches geworfen hatte. Die Faustschläge ertrug Josie, wenn er sich auch vor Schmerzen wand und wenn auch die Schläge immer stärker wurden, aber wie hätte er das nicht ertragen sollen, -vor sich sah er ja den Sieg. Die Hände am Kopf Delamarches, die Daumen wohl gerade über seinen Augen, führte er ihn vor sich her gegen das ärgste Möbeldurcheinander hin und versuchte überdies mit den Fußspitzen das Schlafrockseil um die Füße Delamarches zu schlingen und ihn auch so zu Fall zu bringen.
Da er sich aber ganz und gar mit Delamarche beschäftigen musste, zumal er dessen Widerstand immer mehr wachsen fühlte und immer sehniger dieser feindliche Körper sich ihm entgegen stemmte, vergaß er tatsächlich, dass er nicht mit Delamarche allein war. Aber nur allzu bald wurde er daran erinnert, denn plötzlich versagten seine Füße, die Robinson, der sich hinter ihm auf den Boden geworfen hatte, schreiend auseinander presste. Seufzend ließ Josie von Delamarche ab, der noch einen Schritt zurückwich. Brunelda stand mit weit auseinander gestellten Beinen und gebeugten Knien in aller ihrer Breite in der Zimmermitte und verfolgte die Vorgänge mit leuchtenden Augen. Als beteilige sie sich tatsächlich an dem Kampf, atmete sie tief, visierte mit den Augen und ließ ihre Fäuste langsam vorrücken. Delamarche schlug seinen Kragen nieder, hatte nun wieder freien Blick und nun gab es natürlich keinen Kampf mehr, sondern bloß eine Bestrafung. Er fasste Josie vorn beim Hemd, hob ihn fast vom Boden und schleuderte ihn, vor Verachtung sah er ihn gar nicht an, so gewaltig gegen einen ein paar Schritte entfernten Schrank, dass Josie im ersten Augenblick meinte, die stechenden Schmerzen im Rücken und am Kopf, die ihm das Aufschlagen am Kasten verursachte, stammten unmittelbar von der Hand Delamarches. "Du Halunke", hörte er Delamarche in dem Dunkel, das vor seinen zitternden Augen entstand, noch laut ausrufen. Und in der ersten Erschöpfung, in der er vor dem Kasten zusammen sank, klangen ihm die Worte "Warte nur" noch schwach in den Ohren nach.
Als er zur Besinnung kam, war es um ihn ganz finster, es mochte noch spät in der Nacht sein, vom Balkon her drang unter dem Vorhang ein leichter Schimmer des Mondlichts in das Zimmer. Man hörte die ruhigen Atemzüge der drei Schläfer, die bei weitem lautesten stammten von Brunelda, sie schnaufte im Schlaf, wie sie es bisweilen beim Reden tat; es war aber nicht leicht festzustellen, in welcher Richtung die einzelnen Schläfer sich befanden, das ganze Zimmer war von dem Rauschen ihres Atems voll. Erst nachdem er seine Umgebung ein wenig geprüft hatte, dachte Josie an sich und da erschrak er sehr, denn wenn er sich auch ganz krumm und steif von Schmerzen fühlte, so hatte er doch nicht daran gedacht, dass er eine schwere, blutige Verletzung erlitten haben könnte. Nun aber hatte er eine Last auf dem Kopf und das ganze Gesicht, der Hals, die Brust unter dem Hemd waren feucht wie von Blut. Er musste ans Licht, um seinen Zustand genau festzustellen, vielleicht hatte man ihn zum Krüppel geschlagen, dann würde ihn Delamarche wohl gerne entlassen, aber was sollte er dann anfangen, dann gab es wirklich keine Aussichten mehr für ihn. Der Bursche mit der zerfressenen Nase im Torweg fiel ihm ein und er legte einen Augenblick lang das Gesicht in seine Hände.
Unwillkürlich wendete er sich dann der Tür zu und tastete sich auf allen Vieren hin. Bald erfühlte er mit den Fingerspitzen einen Stiefel und weiterhin ein Bein. Das war Robinson, wer schlief sonst in Stiefeln? Man hatte ihm befohlen, sich quer vor die Tür zu legen, um Josie an der Flucht zu hindern. Aber kannte man denn Josies Zustand nicht? Vorläufig wollte er gar nicht entfliehen, er wollte nur ans Licht kommen. Konnte er also nicht zur Tür hinaus, so musste er auf den Balkon.
Den Esstisch fand er an einer offenbar ganz anderen Stelle als am Abend, das Kanapee, dem sich Josie natürlich sehr vorsichtig näherte, war überraschenderweise leer, dagegen stieß er in der Zimmermitte auf hoch geschichtete, wenn auch stark gepresste Kleider, Decken, Vorhänge, Polster und Teppiche. Zuerst dachte er, es sei nur ein kleiner Haufen, ähnlich dem, den er am Abend auf dem Sofa gefunden hatte und der etwa auf die Erde gerollt war, aber zu seinem Staunen bemerkte er beim Weiterkriechen, dass da eine ganze Wagenladung solcher Sachen lag, die man wahrscheinlich für die Nacht aus den Kästen herausgenommen hatte, wo sie während des Tages aufbewahrt wurden. Er umkroch den Haufen und erkannte bald, dass das Ganze eine Art Bettlager darstellte, auf dem hoch oben, wie er sich durch vorsichtigstes Tasten überzeugte, Delamarche und Brunelda ruhten.
Jetzt wusste er also, wo alle schliefen und beeilte sich nun, auf den Balkon zu kommen. Es war eine ganz andere Welt, in der er sich nun, außerhalb des Vorhangs, schnell erhob. In der frischen Nachtluft, im vollen Schein des Mondes ging er einige Mal auf dem Balkon auf und ab. Er sah auf die Straße, sie war ganz still, aus dem Gasthaus klang noch die Musik, aber nur gedämpft hervor, vor der Tür kehrte ein Mann das Trottoir, in der Gasse, in der am Abend innerhalb des wüsten, allgemeinen Lärms das Schreien eines Wahlkandidaten von tausend anderen Stimmen nicht hatte unterschieden werden können, hörte man nun deutlich das Kratzen des Besens auf dem Pflaster.
Das Rücken eines Tisches auf dem Nachbarbalkon machte Josie aufmerksam, dort saß ja jemand und studierte. Es war ein junger Mann mit einem kleinen Spitzbart, an dem er beim Lesen, das er mit raschen Lippenbewegungen begleitete, ständig drehte. Er saß, das Gesicht Josie zugewendet, an einem kleinen, mit Büchern bedeckten Tisch, die Glühlampe hatte er von der Mauer abgenommen, zwischen zwei große Bücher geklemmt und war nun von ihrem grellen Licht ganz überleuchtet.
"Guten Abend", sagte Josie, da er bemerkt zu haben glaubte, dass der junge Mann zu ihm herüber geschaut hätte.
Aber das musste wohl ein Irrtum gewesen sein, denn der junge Mann schien ihn überhaupt noch nicht bemerkt zu haben, legte die Hand über die Augen, um das Licht abzublenden und festzustellen, wer da plötzlich grüßte und hob dann, da er noch immer nichts sah, die Glühlampe hoch, um mit ihr auch den Nachbarbalkon ein wenig zu beleuchten.
"Guten Abend", sagte dann auch er, blickte einen Augenblick lang scharf herüber und fügte dann hinzu: "Und was weiter?"
"Ich störe Sie?" fragte Josie.
"Gewiss, gewiss", sagte der Mann und brachte die Glühlampe wieder an ihren früheren Ort.
Mit diesen Worten war allerdings jede Anknüpfung abgelehnt, aber Josie verließ trotzdem die Balkonecke, in der er dem Manne am nächsten war, nicht. Stumm sah er zu, wie der Mann in seinem Buche las, die Blätter wendete, hier und da in einem andern Buche, das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgendetwas nachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu dem Hefte senkte.
Ob dieser Mann vielleicht ein Student war? Es sah ganz so aus, als ob er studierte. Nicht viel anders — jetzt war es schon lange her — war Josie zuhause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Josie nur das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bücher rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen! Schon als kleines Kind hatte Josie immer gerne zugesehen, wenn die Mutter gegen Abend die Wohnungstür mit dem Schlüssel absperrte. Sie hatte keine Ahnung davon, dass es jetzt mit Josie so weit gekommen war, dass er fremde Türen mit Messern aufzubrechen suchte.
Und welchen Zweck hatte sein ganzes Studium gehabt! Er hatte ja alles vergessen; wenn es darauf angekommen wäre, hier sein Studium fortzusetzen, es wäre ihm sehr schwer geworden. Er erinnerte sich daran, dass er zuhause einmal einen Monat lang krank gewesen war — welche Mühe hatte es ihn damals gekostet, sich nachher wieder in dem unterbrochenen Lernen zurechtzufinden. Und nun hatte er außer dem Lehrbuch der englischen Handelskorrespondenz schon so lange kein Buch gelesen.
"Sie, junger Mann", hörte sich Josie plötzlich angesprochen, "könnten Sie sich nicht anderswo aufstellen? Ihr Herüberstarren stört mich schrecklich. Um zwei Uhr in der Nacht kann man doch schließlich verlangen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zu können. Wollen Sie denn etwas von mir?"
"Sie studieren?" fragte Josie.
"Ja, ja", sagte der Mann und benutzte dieses für das Lernen verlorene Weilchen, um unter seinen Büchern eine neue Ordnung einzurichten.
"Dann will ich Sie nicht stören", sagte Josie, "ich gehe überhaupt schon ins Zimmer zurück. Gute Nacht."
Der Mann gab nicht einmal eine Antwort, mit einem plötzlichen Entschlusse hatte er sich nach Beseitigung dieser Störung wieder ans Studieren gemacht und stützte die Stirn schwer in die rechte Hand.
Da erinnerte sich Josie knapp vor dem Vorhang daran, warum er eigentlich herausgekommen war, er wusste ja noch gar nicht, wie es mit ihm stand. Was lastete nur so auf seinem Kopf? Er griff hinauf und staunte, da war keine blutige Verletzung, wie er im Dunkel des Zimmers gefürchtet hatte, es war nur ein noch immer feuchter, turbanartiger Verband. Er war, nach den noch hier und da hängenden Spitzenüberresten zu schließen, aus einem alten Wäschestück Bruneldas gerissen und Robinson hatte ihn wohl flüchtig Josie um den Kopf gewickelt. Nur hatte er vergessen, ihn auszuwinden und so war während Josies Bewusstlosigkeit das viele Wasser das Gesicht herab und unter das Hemd geronnen und hatte Josie einen solchen Schrecken eingejagt.
"Sie sind wohl noch immer da?" fragte der Mann und blinzelte herüber.
"Jetzt gehe ich aber schon wirklich", sagte Josie, "ich wollte hier nur etwas anschauen, im Zimmer ist es ganz finster."
"Wer sind Sie denn?" sagte der Mann, legte den Federhalter in das vor ihm geöffnete Buch und trat an das Geländer. "Wie heißen Sie? Wie kommen Sie zu den Leuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollen Sie denn anschauen? Drehen Sie doch ihre Glühlampe dort auf, damit man Sie sehen kann."
Josie tat dies, zog aber, ehe er antwortete, noch den Vorhang der Tür fester zu, damit man im Innern nichts merken konnte. "Verzeihen Sie", sagte er dann im Flüsterton, "dass ich so leise rede. Wenn mich die drinnen hören, habe ich wieder einen Krawall."
"Wieder?" fragte der Mann.
"Ja", sagte Josie, "ich habe ja erst am Abend einen großen Streit mit ihnen gehabt. Ich muss da noch eine fürchterliche Beule haben." Und er tastete hinten seinen Kopf ab.
"Was war denn das für ein Streit?" fragte der Mann und fügte, da Josie nicht gleich antwortete, hinzu: "Mir können Sie ruhig alles anvertrauen, was Sie gegen diese Herrschaften auf dem Herzen haben. Ich hasse sie nämlich alle drei und ganz besonders ihre Madame. Es sollte mich übrigens wundern, wenn man Sie nicht schon gegen mich gehetzt hätte. Ich heiße Josef Mendel und bin Student."
"Ja", sagte Josie, "erzählt hat man mir schon von ihnen, aber nichts Schlimmes. Sie haben wohl einmal Frau Brunelda behandelt, nicht wahr?"
"Das stimmt", sagte der Student und lachte, "riecht das Kanapee noch danach?"
"Oh ja", sagte Josie.
"Das freut mich aber", sagte der Student und fuhr mit der Hand durchs Haar. "Und warum macht man ihnen Beulen?"
"Es war ein Streit", sagte Josie im Nachdenken darüber, wie er es dem Studenten erklären sollte. Dann aber unterbrach er sich und sagte: "Störe ich Sie denn nicht?"
"Erstens", sagte der Student, "haben Sie mich schon gestört und ich bin leider so nervös, dass ich lange Zeit brauche, um mich wieder hinein zu finden. Seit Sie da ihre Spaziergänge auf dem Balkon angefangen haben, komme ich mit dem Studieren nicht vorwärts. Zweitens aber mache ich um drei Uhr immer eine Pause. Erzählen Sie also nur ruhig. Es interessiert mich auch."
"Es ist ganz einfach", sagte Josie, "Delamarche will, dass ich bei ihm Diener werde. Aber ich will nicht. Ich wäre am liebsten noch gleich abends weggegangen. Er wollte mich nicht lassen, hat die Tür abgesperrt, ich wollte sie aufbrechen und dann kam es zu der Rauferei. Ich bin unglücklich, dass ich noch hier bin."
"Haben Sie denn eine andere Stellung?" fragte der Student. "Nein", sagte Josie, "aber daran liegt mir nichts, wenn ich nur von hier fort wäre."
"Hören Sie einmal", sagte der Student, "daran liegt ihnen nichts?" Und beide schwiegen ein Weilchen.
"Warum wollen Sie denn bei den Leuten nicht bleiben?" fragte dann der Student.
"Delamarche ist ein schlechter Mensch", sagte Josie, "ich kenne ihn schon von früher her. Ich marschierte einmal einen Tag lang mit ihm und war froh, als ich nicht mehr bei ihm war. Und jetzt soll ich Diener bei ihm werden?"
"Wenn alle Diener bei der Auswahl ihrer Herrschaften so heikel sein wollten wie Sie!" sagte der Student und schien zu lächeln. "Sehen Sie, ich bin während des Tages Verkäufer, niedrigster Verkäufer, eher schon Laufbursche im Warenhaus von Montly. Dieser Montly ist zweifellos ein Schurke, aber das lässt mich ganz ruhig, wütend bin ich nur, dass ich so elend bezahlt werde. Nehmen Sie sich also an mir ein Beispiel."
"Wie?" sagte Josie, "Sie sind bei Tag Verkäufer und in der Nacht studieren Sie?"
"Ja", sagte der Student, "es geht nicht anders. Ich habe schon alles Mögliche versucht, aber diese Lebensweise ist noch die beste. Vor Jahren war ich nur Student, bei Tag und Nacht, wissen Sie, nur bin ich dabei fast verhungert, habe in einer schmutzigen alten Höhle geschlafen und wagte mich in meinem damaligen Anzug nicht in die Hörsäle. Aber das ist vorüber."
"Aber wann schlafen Sie?" fragte Josie und sah den Studenten verwundert an.
"Ja, schlafen!" sagte der Student, "schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen Kaffee." Und er wandte sich um, zog unter seinem Studiertisch eine große Flasche hervor, goss aus ihr schwarzen Kaffee in ein Tässchen und schüttete ihn in sich hinein, so wie man Medizinen eilig schluckt, um möglichst wenig von ihrem Geschmack zu spüren.
"Eine feine Sache, der schwarze Kaffee", sagte der Student, "schade, dass Sie so weit sind, dass ich ihnen nicht ein wenig hinüber reichen kann."
"Mir schmeckt schwarzer Kaffee nicht", sagte Josie.
"Mir auch nicht", sagte der Student und lachte. "Aber was wollte ich ohne ihn anfangen. Ohne den schwarzen Kaffee würde mich Montly keinen Augenblick behalten. Ich sage immer Montly, trotzdem der natürlich keine Ahnung hat, dass ich auf der Welt bin. Ganz genau weiß ich nicht, wie ich mich im Geschäft benehmen würde, wenn ich nicht dort im Pult eine gleich große Flasche wie diese immer vorbereitet hätte, denn ich habe noch nie gewagt, mit dem Kaffeetrinken auszusetzen, aber vertrauen Sie nur, ich würde bald hinter dem Pulte liegen und schlafen. Leider ahnt man das, sie nennen mich dort den 'schwarzen Kaffee', was ein blödsinniger Witz ist und mir gewiss in meinem Vorwärtskommen schon geschadet hat."
"Und wann werden Sie mit ihrem Studium fertig werden?" fragte Josie. "Es geht langsam", sagte der Student mit gesenktem Kopf. Er verließ das Geländer und setzte sich wieder an den Tisch; die Ellbogen auf das offene Buch aufgestützt, mit den Händen durch seine Haare fahrend sagte er dann: "Es kann noch ein bis zwei Jahre dauern."
"Ich wollte auch studieren", sagte Josie, als gebe ihm dieser Umstand ein Anrecht auf ein noch größeres Vertrauen, als es der jetzt verstummende Student ihm gegenüber schon bewiesen hatte.
"So", sagte der Student und es war nicht ganz klar, ob er in seinem Buche schon wieder las oder nur zerstreut hinein starrte, "seien Sie froh, dass Sie das Studium aufgegeben haben. Ich selbst studiere schon seit Jahren eigentlich nur aus Konsequenz. Befriedigung habe ich wenig davon und Zukunftsaussichten noch weniger. Was für Aussichten wollte ich denn haben! Amerika ist voll von Schwindeldoktoren."
"Ich wollte Ingenieur werden", sagte Josie noch eilig zu dem scheinbar schon gänzlich unaufmerksamen Studenten hinüber.
"Und jetzt sollen Sie Diener bei diesen Leuten werden", sagte der Student und sah flüchtig auf, "das schmerzt Sie natürlich."
Diese Schlussfolgerung des Studenten war allerdings ein Missverständnis, aber vielleicht konnte es Josie beim Studenten nutzen. Er fragte deshalb: "Könnte ich nicht vielleicht auch eine Stelle im Warenhaus bekommen?"
Diese Frage riss den Studenten völlig von seinem Buche los; der Gedanke, dass er Josie bei seiner Postenbewerbung behilflich sein könnte, kam ihm gar nicht. "Versuchen Sie es", sagte er, "oder versuchen Sie es lieber nicht. Dass ich meinen Posten bei Montly bekommen habe, ist der bisher größte Erfolg meines Lebens gewesen. Wenn ich zwischen dem Studium und meinem Posten zu wählen hätte, würde ich natürlich den Posten wählen. Meine Anstrengung geht nur darauf hin, die Notwendigkeit einer solchen Wahl nicht eintreten zu lassen."
"So schwer ist es, dort einen Posten zu bekommen", sagte Josie mehr für sich.
"Ach, was denken Sie denn", sagte der Student, "es ist leichter, hier Bezirksrichter zu werden, als Türöffner bei Montly."
Josie schwieg. Dieser Student, der doch so viel erfahrener war als er, der Delamarche aus irgendwelchen, Josie noch unbekannten Gründen hasste, der dagegen Josie gewiss nichts Schlechtes wünschte, fand für Josie kein Wort der Aufmunterung, Delamarche zu verlassen. Und dabei kannte er noch gar nicht die Gefahr, die Josie von der Polizei drohte und vor der er nur bei Delamarche halbwegs geschützt war.
"Sie haben doch am Abend die Demonstration unten gesehen? Nicht wahr? Wenn man die Verhältnisse nicht kennen würde, sollte man doch denken, dieser Kandidat, er heißt Lobter, werde doch irgendwelche Aussichten haben oder er komme doch wenigstens in Betracht, nicht?"
"Ich verstehe von Politik nichts", sagte Josie.
"Das ist ein Fehler", sagte der Student. "Aber abgesehen davon haben Sie doch Augen und Ohren. Der Mann hat doch zweifellos Freunde und Feinde gehabt, das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nun bedenken Sie, der Mann hat meiner Meinung nach nicht die geringsten Aussichten, gewählt zu werden. Ich weiß zufällig alles über ihn, es wohnt da bei uns einer, der ihn kennt. Er ist kein unfähiger Mensch und seinen politischen Ansichten und seiner politischen Vergangenheit nach wäre gerade er der passende Richter für den Bezirk. Aber kein Mensch denkt daran, dass er gewählt werden könnte, er wird so prachtvoll durchfallen, als man durchfallen kann, er wird für die Wahlkampagne seine paar Dollars hinausgeworfen haben, das wird alles sein.
Josie und der Student sahen einander ein Weilchen schweigend an. Der Student nickte lächelnd und drückte mit einer Hand die müden Augen.
"Nun, werden Sie noch nicht schlafen gehen?" fragte er dann, "ich muss ja auch wieder studieren. Sehen Sie, wie viel ich noch durchzuarbeiten habe." Und er blätterte ein halbes Buch rasch durch, um Josie einen Begriff von der Arbeit zu geben, die noch auf ihn wartete.
"Dann also gute Nacht", sagte Josie und verbeugte sich.
"Kommen Sie doch einmal zu uns herüber“, sagte der Student, der schon wieder an seinem Tisch saß, "natürlich nur, wenn Sie Lust haben. Sie werden hier immer große Gesellschaft finden. Von neun bis zehn Uhr abends habe ich auch für Sie Zeit."
"Sie raten mir also, bei Delamarche zu bleiben?" fragte Josie.
"Unbedingt", sagte der Student und senkte schon den Kopf zu seinen Büchern. Es schien, als hätte gar nicht er das Wort gesagt; wie von einer Stimme gesprochen, die tiefer war als jene des Studenten, klang es noch in Josies Ohren nach. Langsam ging er zum Vorhang, warf noch einen Blick auf den Studenten, der jetzt ganz unbeweglich, von der großen Finsternis umgeben, in seinem Lichtschein saß und schlüpfte ins Zimmer. Die vereinten Atemzüge der drei Schläfer empfingen ihn. Er suchte die Wand entlang das Kanapee und als er es gefunden hatte, streckte er sich ruhig auf ihm aus, als sei es sein gewohntes Lager. Da ihm der Student, der Delamarche und die hiesigen Verhältnisse genau kannte und überdies ein gebildeter Mann war, geraten hatte, hier zu bleiben, hatte er vorläufig keine Bedenken. So hohe Ziele wie der Student hatte er nicht, wer weiß, ob es ihm sogar zuhause gelungen wäre, das Studium zu Ende zu führen und wenn es zuhause kaum möglich schien, so konnte niemand verlangen, dass er es hier im fremden Lande tue. Die Hoffnung aber, einen Posten zu finden, in dem er etwas leisten und für seine Leistungen anerkannt werden könnte, war gewiss größer, wenn er vorläufig die Dienerstelle bei Delamarche annahm und aus dieser Sicherheit heraus die günstige Gelegenheit abwartete. Es schienen sich ja in dieser Straße viele Büros mittleren und unteren Ranges zu befinden, die vielleicht im Falle des Bedarfes bei der Auswahl ihres Personals nicht gar zu wählerisch waren. Er wollte ja gern, wenn es sein musste, Geschäftsdiener werden, aber schließlich war es ja gar nicht ausgeschlossen, dass er auch für reine Büroarbeit aufgenommen werden konnte und einstmals als Bürobeamter an seinem Schreibtisch sitzen und ohne Sorgen ein Weilchen lang aus dem offenen Fenster schauen würde, wie jener Beamte, den er heute früh beim Durchmarsch durch die Höfe gesehen hatte. Beruhigend fiel ihm ein, als er die Augen schloss, dass er doch jung war und dass Delamarche ihn doch einmal freigeben würde; dieser Haushalt sah ja wirklich nicht danach aus, als sei er für die Ewigkeit gemacht. Wenn aber Josie einmal einen solchen Posten in einem Büro hätte, dann wollte er sich mit nichts anderem beschäftigen, als mit seinen Büroarbeiten, und nicht die Kräfte zersplittern wie der Student. Wenn es nötig sein sollte, wollte er auch die Nacht fürs Büro verwenden, was man ja im Beginn, bei seiner geringen kaufmännischen Vorbildung, sowieso von ihm verlangen würde. Er wollte nur an das Interesse des Geschäftes denken, dem er zu dienen hätte und allen Arbeiten sich unterziehen, selbst solchen, die andere Bürobeamte als ihrer nicht würdig zurückweisen würden. Die guten Vorsätze drängten sich in seinem Kopf, als stehe sein künftiger Chef vor dem Kanapee und lese sie von seinem Gesicht ab.
In solchen Gedanken schlief Josie ein und nur im ersten Halbschlaf störte ihn noch ein gewaltiges Seufzen Bruneldas, die scheinbar von schweren Träumen geplagt sich auf ihrem Lager wälzte.

Kapitel VIII: Waschung/Guten Appetit!
"Auf! Auf!" rief Robinson, kaum dass Josie früh die Augen öffnete. Der Türvorhang war noch nicht weggezogen, aber man merkte an dem durch die Lücken einfallenden, gleichmäßigen Sonnenlicht, wie spät am Vormittag es schon war. Robinson lief eilfertig mit besorgten Blicken hin und her, bald trug er ein Handtuch, bald einen Wasserkübel, bald Wäsche- und Kleidungsstücke und immer, wenn er an Josie vorüber kam, suchte er ihn durch Kopfnicken zum Aufstehen aufzumuntern und zeigte durch Hochheben dessen, was er gerade in der Hand hielt, wie er sich heute noch zum letzten Mal für Josie plage, der natürlich am ersten Morgen von den Einzelheiten des Dienstes nichts verstehen konnte.
Aber bald sah Josie, wen Robinson eigentlich bediente. In einem durch zwei Kästen vom übrigen Zimmer abgetrennten Raum, den Josie bisher noch nicht gesehen hatte, fand eine große Waschung statt. Man sah den Kopf Bruneldas, den freien Hals — das Haar war gerade ins Gesicht geschlagen — und den Ansatz ihres Nackens über den Kasten ragen und die hier und da gehobene Hand Delamarches hielt einen weit herumspritzenden Badeschwamm, mit dem Brunelda gewaschen und gerieben wurde. Man hörte die kurzen Befehle Delamarches, die er Robinson erteilte, der nicht durch den jetzt verstellten, eigentlichen Zugang des Raumes die Dinge reichte, sondern auf eine kleine Lücke zwischen einem Kasten und einer spanischen Wand angewiesen war, wobei er überdies bei jeder Handreichung den Arm weit ausstrecken und das Gesicht abgewendet halten musste. "Das Handtuch! Das Handtuch", rief Delamarche. Und kaum erschrak Robinson, der gerade unter dem Tisch etwas anderes suchte, über diesen Auftrag und zog den Kopf unter dem Tisch hervor, hieß es schon: "Wo bleibt das Wasser, zum Teufel", und über dem Kasten erschien hochgereckt das wütende Gesicht Delamarches. Alles, was man sonst nach Josies Meinung zum Waschen und Anziehen nur einmal brauchte, wurde hier in jeder möglichen Reihenfolge viele Male verlangt und gebracht. Auf einem kleinen elektrischen Ofen stand immer ein Kübel mit Wasser zum Wärmen und immer wieder trug Robinson die schwere Last zwischen den weit auseinander gestellten Beinen zum Waschraum hin. Bei der Fülle seiner Arbeit war es zu verstehen, wenn er sich nicht immer genau an die Befehle hielt und einmal, als wieder ein Handtuch verlangt wurde, einfach ein Hemd von der großen Schlafstätte in der Zimmermitte nahm und in einem großen Knäuel über die Kästen hinüber warf. Aber auch Delamarche hatte schwere Arbeit und war vielleicht nur deshalb gegen Robinson so gereizt — in seiner Gereiztheit übersah er Josie glattwegs — weil er selbst Brunelda nicht zufrieden stellen konnte. "Ach", schrie sie auf und selbst der sonst unbeteiligte Josie zuckte zusammen, "wie du mir weh tust! Geh weg! Ich wasch mich lieber selbst, statt so zu leiden! Jetzt kann ich schon wieder den Arm nicht heben. Mir ist ganz übel, wie du mich drückst. Auf dem Rücken muss ich lauter blaue Flecke haben. Natürlich, du wirst es mir nicht sagen. Warte, ich werde mich von Robinson anschauen lassen oder von unserem Kleinen. Nein, ich tu es ja nicht, aber sei nur ein wenig zarter. Nimm Rücksicht, Delamarche, aber das kann ich jeden Morgen wiederholen, du nimmst und nimmst keine Rücksicht. Robinson", rief sie dann plötzlich und schwenkte ein Spitzenhöschen über ihrem Kopf, "komm mir zur Hilfe, schau, wie ich leide, diese Tortur nennt er Waschen, dieser Delamarche. Robinson, Robinson, wo bleibst du, hast auch du kein Herz?" Josie machte schweigend Robinson ein Zeichen mit dem Finger, dass er doch hingehen möge, aber Robinson schüttelte mit gesenkten Augen überlegen den Kopf, er wusste es besser. "Was fällt dir ein?" sagte Robinson zu Josies Ohr gebeugt, "das ist nicht so gemeint. Nur einmal bin ich hingegangen und nicht wieder. Sie haben mich damals beide gepackt und in die Wanne getaucht, dass ich fast ertrunken wäre. Und tagelang hat mir Brunelda vorgeworfen, dass ich schamlos bin und immer wieder hat sie gesagt: 'Jetzt warst du aber schon lange nicht im Bad bei mir' oder 'Wann wirst du mich denn wieder im Bade anschauen kommen?' Erst bis ich ihr einige Mal auf den Knien abgebeten habe, hat sie aufgehört. Das werde ich nicht vergessen." Und während Robinson das erzählte, rief Brunelda immer wieder: "Robinson! Robinson! Wo bleibt denn dieser Robinson!"
Trotzdem aber niemand ihr zu Hilfe kam und nicht einmal eine Antwort erfolgte — Robinson hatte sich zu Josie gesetzt und beide sahen schweigend zu den Kästen hin, über denen hier und da die Köpfe Bruneldas oder Delamarches erschienen — trotzdem hörte Brunelda nicht auf, laut über Delamarche Klage zu führen. "Aber Delamarche", rief sie, "jetzt spüre ich ja wieder gar nicht, dass du mich wäschst. Wo hast du den Schwamm? Also greif doch zu! Wenn ich mich nur bücken, wenn ich mich nur bewegen könnte! Ich wollte dir schon zeigen, wie man wäscht. Wo sind die Mädchenzeiten, als ich dort drüben auf dem Gut der Eltern jeden Morgen im Colorado schwamm, die beweglichste von allen meinen Freundinnen. Und jetzt! Wann wirst du denn lernen, mich zu waschen, Delamarche, du schwenkst den Schwamm herum, strengst dich an und ich spür nichts. Wenn ich sagte, dass du mich nicht wund drücken sollst, so meinte ich doch nicht, dass ich da stehen und mich erkälten will. Dass ich aus der Wanne spring und weglaufe, so wie ich bin."
Aber dann führte sie diese Drohung nicht aus — was sie ja auch an und für sich gar nicht im Stande gewesen wäre — Delamarche schien sie aus Furcht, sie könnte sich erkälten, erfasst und in die Wanne gedrückt zu haben, denn mächtig klatschte es ins Wasser.
"Das kannst du, Delamarche", sagte Brunelda ein wenig leiser, "schmeicheln und immer wieder schmeicheln, wenn du etwas schlecht gemacht hast." Dann war es ein Weilchen still. "Jetzt küsst er sie", sagte Robinson und hob die Augenbrauen.
"Was kommt jetzt für eine Arbeit?" fragte Josie. Da er sich nun einmal entschlossen hatte, hier zu bleiben, wollte er auch gleich seinen Dienst versehen. Er ließ Robinson, der nicht antwortete, allein auf dem Kanapee und begann das große, von der Last der Schläfer während der langen Nacht noch immer zusammengepresste Lager auseinander zu werfen, um dann jedes einzelne Stück dieser Masse ordentlich zusammenzulegen, was wohl schon seit Wochen nicht geschehen war.
"Schau nach, Delamarche", sagte da Brunelda, "ich glaube, sie zerwerfen unser Bett. An alles muss man denken, niemals hat man Ruhe. Du musst gegen die zwei strenger sein, sie machen sonst, was sie wollen." "Das ist gewiss der Kleine mit seinem verdammten Diensteifer", rief Delamarche und wollte wahrscheinlich aus dem Waschraum hervor stürzen, Josie warf schon alles aus der Hand, aber glücklicherweise sagte Brunelda: "Nicht weg gehn, Delamarche, nicht weg gehn. Ach, wie ist das Wasser heiß, man wird so müde. Bleib bei mir, Delamarche." Erst jetzt merkte Josie eigentlich, wie der Wasserdampf hinter den Kästen unaufhörlich emporstieg.
Robinson legte erschrocken die Hand an die Wange, als habe Josie etwas Schlimmes angerichtet. "Alles in dem gleichen Zustand lassen, in dem es war", erklang die Stimme Delamarches, "wisst ihr denn nicht, dass Brunelda nach dem Bade immer noch eine Stunde ruht? Elende Misswirtschaft! Wartet bis ich über euch komme. Robinson, du träumst wahrscheinlich schon wieder. Dich, dich allein mache ich für alles verantwortlich, was geschieht. Du hast den Jungen im Zaum zu halten, hier wird nicht nach seinem Kopf gewirtschaftet. Wenn man etwas will, kann man nichts von euch bekommen, wenn nichts zu tun ist, seid ihr fleißig. Verkriecht euch irgendwohin und wartet, bis man euch braucht."
Aber gleich war alles vergessen, denn Brunelda flüsterte ganz müde, als werde sie von dem heißen Wasser überflutet: "Das Parfüm! Bringt das Parfüm!" "Das Parfüm!" schrie Delamarche. "Rührt euch." Ja aber, wo war das Parfüm? Josie sah Robinson an, Robinson sah Josie an. Josie merkte, dass er hier alles allein in die Hand nehmen müsse, Robinson hatte keine Ahnung, wo das Parfüm war, er legte sich einfach auf den Boden, fuhr immerfort mit beiden Armen unter dem Kanapee herum, beförderte aber nichts anderes als Knäuel von Staub und Frauenhaaren heraus. Josie eilte zuerst zum Waschtisch, der gleich bei der Türe stand, aber in seinen Schubladen fanden sich nur alte englische Romane, Zeitschriften und Noten vor und alles war so überfüllt, dass man die Schubladen nicht schließen konnte, wenn man sie einmal aufgemacht hatte. "Das Parfüm", seufzte unterdessen Brunelda. "Wie lange das dauert! Ob ich heute noch mein Parfüm bekomme!" Bei dieser Ungeduld Bruneldas durfte natürlich Josie nirgends gründlich suchen, er musste sich auf den oberflächlichen, ersten Eindruck verlassen. Im Waschkasten war die Flasche nicht, auf dem Waschkasten standen überhaupt nur alte Fläschchen mit Medizinen und Salben, alles andere war jedenfalls schon in den Waschraum getragen worden. Vielleicht war die Flasche in der Schublade des Esstisches. Auf dem Weg zum Esstisch aber — Josie dachte nur an das Parfüm, sonst an nichts — stieß er heftig mit Robinson zusammen, der das Suchen unter dem Kanapee endlich aufgegeben hatte und in einer aufdämmernden Ahnung vom Standort des Parfüms wie blind Josie entgegen lief. Man hörte deutlich das Zusammenschlagen der Köpfe, Josie blieb stumm, Robinson hielt zwar im Lauf nicht ein, schrie aber, um sich den Schmerz zu erleichtern, andauernd und übertrieben laut.
"Statt das Parfüm zu suchen, kämpfen sie", sagte Brunelda. "Ich werde krank von dieser Wirtschaft, Delamarche, und werde ganz gewiss in deinen Armen sterben. Ich muss das Parfüm haben", rief sie dann sich aufraffend, "ich muss es unbedingt haben. Ich gehe nicht früher aus der Wanne, ehe man es mir bringt und müsste ich hier bis abends bleiben." Und sie schlug mit der Faust ins Wasser, man hörte es aufspritzen.
Aber auch in der Schublade des Esstisches war das Parfüm nicht, zwar waren dort ausschließlich Toilettengegenstände Bruneldas, wie alte Puderquasten, Schminktöpfchen, Haarbürsten, Löckchen und viele verfitzte und zusammengeklebte Kleinigkeiten, aber das Parfüm war dort nicht. Und auch Robinson, der noch immer schreiend in einer Ecke von etwa hundert dort aufgehäuften Schachteln und Kassetten, eine nach der andern öffnete und durchkramte, wobei immer die Hälfte des Inhalts, meist Nähzeug und Briefschaften, auf den Boden fiel und dort liegen blieb, konnte nichts finden, wie er zeitweise Josie durch Kopfschütteln und Achselzucken anzeigte.
Da sprang Delamarche in Unterkleidung aus dem Waschraum hervor, während man Brunelda krampfhaft weinen hörte. Josie und Robinson ließen vom Suchen ab und sahen Delamarche an, der ganz und gar durchnässt, auch vom Gesicht und von den Haaren rann ihm das Wasser, ausrief: "Jetzt also fangt gefälligst zu suchen an." "Hier!" befahl er zuerst Josie zu suchen und dann "Dort!" Robinson. Josie suchte wirklich und überprüfte auch noch die Plätze, zu denen Robinson schon kommandiert worden war, aber er fand ebenso wenig das Parfüm, wie Robinson, der eifriger, als er suchte, seitlich nach Delamarche ausschaute, der soweit der Raum reichte, stampfend im Zimmer auf- und abging und gewiss am liebsten sowohl Josie wie Robinson durchgeprügelt hätte.
"Delamarche", rief Brunelda, "komm mich doch wenigstens abtrocknen. Die zwei finden ja das Parfum doch nicht und bringen nur alles in Unordnung. Sie sollen sofort mit dem Suchen aufhören. Aber gleich! Und alles aus der Hand legen! Und nichts mehr anrühren! Sie möchten wohl aus der Wohnung einen Stall machen. Nimm sie beim Kragen, Delamarche, wenn sie nicht aufhören! Aber sie arbeiten ja noch immer, gerade ist eine Schachtel gefallen. Sie sollen sie nicht mehr aufheben, alles liegen lassen und aus dem Zimmer heraus! Riegel hinter ihnen die Tür zu und komm zu mir. Ich liege ja schon viel zu lange im Wasser, die Beine habe ich schon ganz kalt."
"Gleich, Brunelda, gleich", rief Delamarche und eilte mit Josie und Robinson zur Tür. Ehe er sie aber entließ, gab er ihnen den Auftrag, das Frühstück zu holen und womöglich von jemandem ein gutes Parfüm für Brunelda auszuborgen.
"Das ist eine Unordnung und ein Schmutz bei euch", sagte Josie draußen auf dem Gang, "gleich wie wir mit dem Frühstück zurückkommen, müssen wir zu ordnen anfangen."
"Wenn ich nur nicht so leidend wäre", sagte Robinson. "Und diese Behandlung!" Gewiss kränkte sich Robinson darüber, dass Brunelda zwischen ihm, der sie doch schon monatelang bediente, und Josie, der erst gestern eingetreten war, nicht den geringsten Unterschied machte. Aber er verdiente es nicht besser und Josie sagte: "Du musst dich ein wenig zusammennehmen." Um ihn aber nicht gänzlich seiner Verzweiflung zu überlassen, fügte er hinzu: "Es wird ja nur eine einmalige Arbeit sein. Ich werde dir hinter den Kästen ein Lager machen, und wenn nur einmal alles ein wenig geordnet ist, wirst du dort den ganzen Tag liegen können, dich um gar nichts kümmern müssen und sehr bald gesund werden."
"Jetzt siehst du es also selbst ein, wie es mit mir steht", sagte Robinson und wandte das Gesicht von Josie ab, um mit sich und seinem Leid allein zu sein. "Aber werden sie mich denn jemals ruhig liegen lassen?"
"Wenn du willst, werde ich darüber selbst mit Delamarche und Brunelda reden."
"Nimmt denn Brunelda irgendeine Rücksicht?" rief Robinson aus und stieß, ohne dass er Josie darauf vorbereitet hätte, mit der Faust eine Tür auf, zu der sie eben gekommen waren.
Sie traten in eine Küche ein, von deren Herd, der reparaturbedürftig schien, geradezu schwarze Wölkchen aufstiegen. Vor der Herdtüre kniete eine der Frauen, die Josie gestern auf dem Korridor gesehen hatte, und legte mit den bloßen Händen große Kohlenstücke in das Feuer, das sie nach allen Richtungen hin prüfte. Dabei seufzte sie in ihrer für eine alte Frau unbequemen knieenden Stellung.
"Natürlich, da kommt auch noch diese Plage", sagte sie beim Anblick Robinsons, erhob sich mühselig, die Hand auf der Kohlenkiste, und schloss die Herdtüre, deren Griff sie mit ihrer Schürze umwickelt hatte. "Jetzt, um vier Uhr nachmittags", — Josie staunte die Küchenuhr an, — "müsst ihr noch frühstücken? Bande!"
"Setzt euch", sagte sie dann, "und wartet, bis ich für euch Zeit habe."
Robinson zog Josie auf ein Bänkchen in der Nähe der Türe nieder und flüsterte ihm zu: "Wir müssen ihr folgen. Wir sind nämlich von ihr abhängig. Wir haben unser Zimmer von ihr gemietet und sie kann uns natürlich jeden Augenblick kündigen. Aber wir können doch nicht die Wohnung wechseln, wie sollen wir denn wieder alle die Sachen wegschaffen und vor allem ist doch Brunelda nicht transportabel."
"Und hier auf dem Gang ist kein anderes Zimmer zu bekommen?" fragte Josie.
"Es nimmt uns ja niemand auf", antwortete Robinson, "im ganzen Haus nimmt uns niemand auf."
So saßen sie still auf ihrem Bänkchen und warteten. Die Frau lief immerfort zwischen zwei Tischen, einem Waschbottich und dem Herd hin und her. Aus ihren Ausrufen erfuhr man, dass ihre Tochter unwohl war und sie deshalb alle Arbeit, nämlich die Bedienung und Verpflegung von dreißig Mietern allein besorgen musste. Nun war noch überdies der Ofen schadhaft, das Essen wollte nicht fertig werden, in zwei riesigen Töpfen wurde eine dicke Suppe gekocht und wie oft die Frau auch sie mit Schöpflöffeln untersuchte und aus der Höhe herab fließen ließ, die Suppe wollte nicht gelingen, es musste wohl das schlechte Feuer daran schuld sein und so setzte sie sich vor der Herdtüre fast auf den Boden und arbeitete mit dem Schürhaken in der glühenden Kohle herum. Der Rauch, von dem die Küche erfüllt war, reizte sie zum Husten, der sich manchmal so verstärkte, dass sie nach einem Stuhl griff und minutenlang nichts anderes tat als hustete. Öfters machte sie die Bemerkung, dass sie das Frühstück heute überhaupt nicht mehr liefern werde, weil sie dazu weder Zeit noch Lust habe. Da Josie und Robinson einerseits den Befehl hatten, das Frühstück zu holen, andererseits aber keine Möglichkeit, es zu erzwingen, antworteten sie auf solche Bemerkungen nicht, sondern blieben still sitzen wie zuvor.
Ringsherum auf Sesseln und Fußbänkchen, auf und unter den Tischen, ja selbst auf der Erde, in einen Winkel zusammengedrängt, stand noch das ungewaschene Frühstücksgeschirr der Mieter. Da waren Kännchen, in denen sich noch ein wenig Kaffee oder Milch vorfinden würde, auf manchen Tellerchen gab es noch Überbleibsel von Butter, aus einer umgefallenen, großen Blechbüchse waren Cakes weit heraus gerollt. Es war schon möglich, aus dem allen ein Frühstück zusammenzustellen, an dem Brunelda, wenn sie seinen Ursprung nicht erfuhr, nicht das Geringste hätte aussetzen können. Als Josie das bedachte und ein Blick auf die Uhr ihm zeigte, dass sie nun schon eine halbe Stunde hier warteten und Brunelda vielleicht wütete und Delamarche gegen die Dienerschaft aufhetzte, rief gerade die Frau aus einem Husten heraus — während dessen sie Josie anstarrte: "Ihr könnt hier schon sitzen, aber das Frühstück bekommt ihr nicht. Dagegen bekommt ihr in zwei Stunden das Nachtmahl."
"Komm, Robinson", sagte Josie, "wir werden uns das Frühstück selbst zusammenstellen." "Wie?" rief die Frau mit geneigtem Kopf. "Seien Sie doch bitte vernünftig", sagte Josie, "warum wollen Sie uns denn das Frühstück nicht geben? Nun warten wir schon eine halbe Stunde, das ist lang genug. Man bezahlt ihnen doch alles und gewiss zahlen wir bessere Preise als alle andern. Dass wir so spät frühstücken, ist gewiss für Sie lästig, aber wir sind ihre Mieter, haben die Gewohnheit, spät zu frühstücken, und Sie müssen sich eben auch ein wenig für uns einrichten. Heute wird es Ihnen natürlich wegen der Krankheit ihres Fräulein Tochter besonders schwer, aber dafür sind wir wieder bereit, uns das Frühstück hier aus den Überbleibseln zusammenzustellen, wenn es nicht anders geht, und Sie uns kein frisches Essen geben."
Aber die Frau wollte sich mit niemanden in eine freundschaftliche Aussprache einlassen, für diese Mieter schienen ihr auch noch die Überbleibsel des allgemeinen Frühstücks zu gut; aber andererseits hatte sie die Zudringlichkeit der zwei Diener schon satt, packte deshalb ein Tablett und stieß es Robinson gegen den Leib, der erst nach einem Weilchen mit wehleidigem Gesicht begriff, dass er das Tablett halten sollte, um das Essen, das die Frau aussuchen wollte, in Empfang zu nehmen. Sie belud nun das Tablett in größter Eile zwar mit einer Menge von Dingen, aber das Ganze sah eher wie ein Haufen schmutzigen Geschirrs, nicht wie ein eben zu servierendes Frühstück aus. Noch während die Frau sie hinaus drängte und sie gebückt, als fürchteten sie Schimpfwörter oder Stöße, zur Türe eilten, nahm Josie das Tablett Robinson aus den Händen, denn bei Robinson schien es ihm nicht genug sicher.
Auf dem Gang setzte sich Josie, nachdem sie weit genug von der Tür der Vermieterin waren, mit dem Tablett auf den Boden, um vor allem das Tablett zu reinigen, die zusammengehörigen Dinge zu sammeln, also die Milch zusammen zu gießen, die verschiedenen Butterüberbleibsel auf einen Teller zu kratzen, dann alle Anzeichen des Gebrauches zu beseitigen, also die Messer und Löffel zu reinigen, die angebissenen Brötchen gerade zu schneiden und so dem Ganzen ein besseres Ansehen zu geben. Robinson hielt diese Arbeit für unnötig und behauptete, das Frühstück hätte schon oft noch viel ärger ausgesehen, aber Josie ließ sich durch ihn nicht abhalten und war noch froh, dass sich Robinson mit seinen schmutzigen Fingern an der Arbeit nicht beteiligen wollte. Um ihn in Ruhe zu halten, hatte ihm Josie gleich, allerdings ein für allemal, wie er ihm dabei sagte, einige Cakes und den dicken Bodensatz eines früher mit Schokolade gefüllten Töpfchens zugewiesen.
Als sie vor ihre Wohnung kamen und Robinson ohne weiteres die Hand an die Klinke legte, hielt ihn Josie zurück, da es doch nicht sicher war, ob sie eintreten durften. "Aber ja", sagte Robinson, "jetzt frisiert er sie ja nur." Und tatsächlich saß in dem noch immer ungelüfteten und verhängten Zimmer Brunelda mit weit auseinander gestellten Beinen im Lehnstuhl und Delamarche, der hinter ihr stand, kämmte mit tief herab gebeugtem Gesicht ihr kurzes, wahrscheinlich sehr verfilztes Haar. Brunelda trug wieder ein ganz loses Kleid, diesmal aber von blassrosa Farbe, es war vielleicht ein wenig kürzer als das gestrige, wenigstens sah man die weißen, grob gestrickten Strümpfe fast bis zum Knie. Ungeduldig über die lange Dauer des Kämmens, fuhr Brunelda mit der dicken roten Zunge zwischen den Lippen hin und her, manchmal riss sie sich sogar mit dem Ausruf "Aber Delamarche!" gänzlich von Delamarche los, der mit erhobenem Kamm ruhig wartete, bis sie den Kopf wieder zurücklegte.
"Es hat lange gedauert", sagte Brunelda im Allgemeinen und zu Josie insbesondere sagte sie: "Du musst ein wenig flinker sein, wenn du willst, dass man mit dir zufrieden ist. An dem faulen und gefräßigen Robinson darfst du dir kein Beispiel nehmen. Ihr habt wohl schon inzwischen irgendwo gefrühstückt, ich sage euch, nächstens dulde ich das nicht."
Das war sehr ungerecht und Robinson schüttelte auch den Kopf und bewegte, allerdings lautlos, die Lippen, Josie jedoch sah ein, dass man auf die Herrschaft nur dadurch einwirken könne, dass man ihr zweifellose Arbeit zeige. Er zog daher ein niedriges japanisches Tischchen aus einem Winkel, überdeckte es mit einem Tuch und stellte die mitgebrachten Sachen auf. Wer den Ursprung des Frühstücks gesehen hatte, konnte mit dem Ganzen zufrieden sein, sonst aber war, wie sich Josie sagen musste, manches daran auszusetzen.
Glücklicherweise hatte Brunelda Hunger. Wohlgefällig nickte sie Josie zu, während er alles vorbereitete und öfters hinderte sie ihn, indem sie vorzeitig mit ihrer weichen, fetten, womöglich gleich alles zerdrückenden Hand irgendeinen Bissen für sich hervorholte. "Er hat es gut gemacht", sagte sie schmatzend und zog Delamarche, der den Kamm in ihrem Haar für die spätere Arbeit stecken ließ, neben sich auf einen Sessel nieder. Auch Delamarche wurde im Anblick des Essens freundlich, beide waren sehr hungrig, ihre Hände eilten kreuz und quer über das Tischchen. Josie erkannte, dass man hier, um zu befriedigen, nur immer möglichst viel bringen musste und in Erinnerung daran, dass er in der Küche noch verschiedene brauchbare Esswaren auf dem Boden liegen gelassen hatte, sagte er: "Zum ersten Mal habe ich nicht gewusst, wie alles eingerichtet werden soll, nächstes Mal werde ich es besser machen." Aber noch während des Redens erinnerte er sich, zu wem er sprach, er war zu sehr von der Sache selbst befangen gewesen.
Brunelda nickte Delamarche befriedigt zu und reichte Josie zum Lohn eine Handvoll Keks.

Kapitel IX: Auszug
Eines Morgens schob Josie den Krankenwagen, in dem Brunelda saß, aus dem Haustor. Es war nicht mehr so früh, wie er gehofft hatte. Sie waren übereingekommen, die Auswanderung noch in der Nacht zu bewerkstelligen, um in den Gassen kein Aufsehen zu erregen, das bei Tag unvermeidlich gewesen wäre, so bescheiden auch Brunelda mit einem großen, grauen Tuch sich bedecken wollte. Aber der Transport über die Treppe hatte zu lange gedauert, trotz der bereitwilligsten Mithilfe des Studenten, der viel schwächer als Josie war, wie sich bei dieser Gelegenheit herausstellte. Brunelda hielt sich sehr tapfer, seufzte kaum und suchte ihren Trägern die Arbeit auf alle Weise zu erleichtern. Aber es ging doch nicht anders, als dass man sie auf jeder fünften Treppenstufe nieder setzte, um sich selbst und ihr die Zeit zum notwendigsten Ausruhen zu gönnen. Es war ein kühler Morgen, auf den Gängen wehte kalte Luft, wie in Kellern, aber Josie und der Student waren ganz in Schweiß und mussten während der Ruhepausen jeder ein Zipfel von Bruneldas Tuch, das sie ihnen übrigens freundlich reichte, nehmen, um das Gesicht zu trocknen. So kam es, dass sie erst nach zwei Stunden unten anlangten, wo schon vom Abend her das Wägelchen stand. Das Hineinheben Bruneldas gab noch eine gewisse Arbeit, dann aber durfte man das Ganze für gelungen ansehn, denn das Schieben des Wagens musste dank den hohen Rädern nicht schwer sein und es blieb nur die Befürchtung, dass der Wagen unter Brunelda aus den Fugen gehen würde. Diese Gefahr musste man allerdings auf sich nehmen, man konnte nicht einen Ersatzwagen mitführen, zu dessen Bereitstellung und Führung der Student halb im Scherz sich angeboten hatte. Es erfolgte nun die Verabschiedung vom Studenten, die sogar sehr herzlich war. Alle Nichtübereinstimmung zwischen Brunelda und dem Studenten schien vergessen, er entschuldigte sich sogar wegen der alten Beleidigung Bruneldas, die er sich bei ihrer Krankheit hatte zu Schulden kommen lassen, aber Brunelda sagte, alles sei längst vergessen und mehr als gut gemacht. Schließlich bat sie den Studenten, er möge zum Andenken an sie einen Dollar freundlichst annehmen, den sie mühselig aus ihren vielen Röcken hervor suchte. Dieses Geschenk war bei Bruneldas bekanntem Geiz sehr bedeutungsvoll, der Student hatte auch wirklich große Freude davon und warf vor Freude die Münze hoch in die Luft. Dann allerdings musste er sie auf dem Boden suchen und Josie musste ihm helfen, schließlich fand sie auch Josie unter dem Wagen Bruneldas. Der Abschied zwischen dem Studenten und Josie war natürlich viel einfacher, sie reichten einander nur die Hand und sprachen die Überzeugung aus, dass sie einander wohl noch einmal sehen würden und dass dann wenigstens einer von ihnen — der Student behauptete es von Josie, Josie vom Studenten — etwas Rühmenswertes erreicht haben würde, was bisher leider nicht der Fall war. Dann fasste Josie mit gutem Mut den Griff des Wagens und schob ihn aus dem Tor. Der Student sah ihnen solange nach, als sie noch zu sehen waren und winkte mit einem Tuch. Josie nickte oft grüßend zurück, auch Brunelda hätte sich gerne umgewendet, aber solche Bewegungen waren für sie zu anstrengend. Um ihr doch noch einen letzten Abschied zu ermöglichen, führte Josie am Ende der Straße den Wagen in einem Kreis herum, so dass auch Brunelda den Studenten sehen konnte, der diese Gelegenheit ausnützte, um mit dem Tuch besonders eifrig zu winken.
Dann aber sagte Josie, jetzt dürften sie sich keinen Aufenthalt mehr gönnen, der Weg sei lang und sie seien viel später ausgefahren, als es beabsichtigt war. Tatsächlich sah man schon hier und da Fuhrwerke und, wenn auch sehr vereinzelt, Leute, die zur Arbeit gingen. Josie hatte mit seiner Bemerkung nichts weiter sagen wollen, als was er wirklich gesagt hatte, Brunelda aber fasste es in ihrem Zartgefühl anders auf und bedeckte sich ganz und gar mit ihrem grauen Tuch. Josie wendete nichts dagegen ein; der mit einem grauen Tuch bedeckte Handwagen war zwar sehr auffällig, aber unvergleichlich weniger auffällig als die unbedeckte Brunelda gewesen wäre. Er fuhr sehr vorsichtig; ehe er um eine Ecke bog, beobachtete er die nächste Straße, ließ sogar, wenn es nötig schien, den Wagen stehn und ging allein paar Schritte voraus; sah er irgendeine, vielleicht unangenehme Begegnung voraus, so wartete er, bis sie sich vermeiden ließ oder wählte sogar den Weg durch eine ganz andere Straße. Selbst dann kam er, da er alle möglichen Wege vorher genau studiert hatte, niemals in die Gefahr, einen bedeutenden Umweg zu machen. Allerdings erschienen Hindernisse, die zwar zu befürchten gewesen waren, sich aber im Einzelnen nicht hatten vorhersehen lassen. So trat plötzlich in einer Straße, die leicht ansteigend, weit zu überblicken und erfreulicherweise vollständig leer war, ein Vorteil, den Josie durch besondere Eile auszunützen suchte, aus dem dunklen Winkel eines Haustors ein Polizeimann und fragte Josie, was er denn in dem so sorgfältig verdeckten Wagen führe. So streng er aber Josie angesehen hatte, so musste er doch lächeln, als er die Decke lüftete und das erhitzte, ängstliche Gesicht Bruneldas erblickte. "Wie?" sagte er. "Ich dachte, du hättest hier zehn Kartoffelsäcke und jetzt ist es ein einziges Frauenzimmer? Wohin fahrt ihr denn? Wer seid ihr?" Brunelda wagte gar nicht, den Polizeimann anzusehen, sondern blickte nur immer auf Josie, mit dem deutlichen Zweifel, dass selbst er sie nicht werde erretten können. Josie hatte aber schon genug Erfahrungen mit Polizisten, ihm schien das ganze nicht sehr gefährlich. "Zeigen Sie doch, Fräulein", sagte er, "das Schriftstück, das Sie bekommen haben." "Ach ja", sagte Brunelda und begann in einer so hoffnungslosen Weise zu suchen, dass sie wirklich verdächtig erscheinen musste. "Das Fräulein", sagte der Polizeimann mit zweifelloser Ironie, "wird das Schriftstück nicht finden." "Oh ja", sagte Josie ruhig, "sie hat es bestimmt, sie hat es nur verlegt." Er begann nun selbst zu suchen und zog es tatsächlich hinter Bruneldas Rücken hervor. Der Polizeimann sah es nur flüchtig an. "Das ist es also", sagte der Polizeimann lächelnd, "so ein Fräulein ist das Fräulein? Und Sie, Kleiner, besorgen die Vermittlung und den Transport? Wissen Sie wirklich keine bessere Beschäftigung zu finden?" Josie zuckte bloß die Achseln, das waren wieder die bekannten Einmischungen der Polizei. "Na, glückliche Reise", sagte der Polizeimann, als er keine Antwort bekam. In den Worten des Polizeimanns lag wahrscheinlich Verachtung, dafür fuhr auch Josie ohne Gruß weiter, Verachtung der Polizei war besser als ihre Aufmerksamkeit.
Kurz darauf hatte er eine womöglich noch unangenehmere Begegnung. Es machte sich nämlich an ihn ein Mann heran, der einen Wagen mit großen Milchkannen vor sich herschob und äußerst gern erfahren hätte, was unter dem grauen Tuch auf Josies Wagen lag. Es war nicht anzunehmen, dass er den gleichen Weg wie Josie hatte, dennoch aber blieb er ihm zur Seite, so überraschende Wendungen Josie auch machte. Zuerst begnügte er sich mit Ausrufen, wie z.B. "Du musst eine schwere Last haben" oder "Du hast schlecht aufgeladen, oben wird etwas herausfallen." Später aber fragte er geradezu: "Was hast du denn unter dem Tuch?" Josie sagte: "Was kümmert's dich?" Aber da das den Mann noch neugieriger machte, sagte Josie schließlich: "Es sind Äpfel." "So viel Äpfel", sagte der Mann staunend und hörte nicht auf, diesen Ausruf zu wiederholen. "Das ist ja eine ganze Ernte", sagte er dann. "Nun ja", sagte Josie. Aber sei es, dass er Josie nicht glaubte, sei es, dass er ihn ärgern wollte, er ging noch weiter, begann — alles während der Fahrt — die Hand wie zum Scherz nach dem Tuch auszustrecken und wagte es endlich sogar, an dem Tuch zu zupfen. Was musste Brunelda leiden! Aus Rücksicht auf sie wollte sich Josie in keinen Streit mit dem Mann einlassen und fuhr in das nächste, offene Tor ein, als sei dies sein Ziel gewesen. "Hier bin ich zuhause", sagte er, "Dank für die Begleitung." Der Mann blieb erstaunt vor dem Tor stehen und sah Josie nach, der ruhig daranging, wenn es sein musste, den ganzen ersten Hof zu durchqueren. Der Mann konnte nicht mehr zweifeln, aber um seiner Bosheit ein letztes Mal zu genügen, ließ er seinen Wagen stehen, lief Josie auf den Fußspitzen nach und riss so stark an dem Tuch, dass er Bruneldas Gesicht fast entblößt hätte. "Damit deine Äpfel Luft bekommen", sagte er und lief zurück. Auch das nahm Josie noch hin, da es ihn endgültig von dem Mann befreite. Er führte dann den Wagen in einen Hofwinkel, wo einige große leere Kisten standen, in deren Schutz er unter dem Tuch Brunelda einige beruhigende Worte sagen wollte. Aber er musste lange auf sie einreden, denn sie war ganz in Tränen und flehte ihn allen Ernstes an, hier hinter den Kisten den ganzen Tag zu bleiben und erst in der Nacht weiter zu fahren. Vielleicht hätte er allein sie gar nicht davon überzeugen können, wie verfehlt das gewesen wäre, als aber jemand am andern Ende des Kistenhaufens eine leere Kiste unter ungeheuerem, im leeren Hof widerhallenden Lärm zu Boden warf, erschrak sie so, dass sie ohne ein Wort mehr zu wagen, das Tuch über sich zog und wahrscheinlich glückselig war, als Josie kurz entschlossen sofort zu fahren begann.
Die Straßen wurden jetzt zwar immer belebter, aber die Aufmerksamkeit, die der Wagen erregte, war nicht so groß, wie Josie befürchtet hatte. Vielleicht wäre es überhaupt klüger gewesen, eine andere Zeit für den Transport zu wählen. Wenn eine solche Fahrt wieder nötig werden sollte, wollte sich Josie getrauen, sie in der Mittagsstunde auszuführen. Ohne schwerer belästigt worden zu sein, bog er endlich in die schmale, dunkle Gasse ein, in der das Unternehmen Nr. 25 sich befand. Vor der Tür stand der schielende Verwalter mit der Uhr in der Hand. "Bist du immer so unpünktlich?" fragte er. "Es gab verschiedene Hindernisse", sagte Josie. "Die gibt es bekanntlich immer", sagte der Verwalter. "Hier im Haus gelten sie aber nicht. Merk dir das!" Auf solche Reden hörte Josie kaum mehr hin, jeder nützte seine Macht aus und beschimpfte den Niedrigen. War man einmal daran gewöhnt, klang es nicht anders, als das regelmäßige Uhrenschlagen. Wohl aber erschreckte ihn, als er jetzt den Wagen in den Flur schob, der Schmutz, der hier herrschte und den er allerdings erwartet hatte. Es war, wenn man näher zusah, kein fassbarer Schmutz. Der Steinboden des Flurs war fast rein gekehrt, die Malerei der Wände nicht alt, die künstlichen Palmen nur wenig verstaubt, und doch war alles fettig und abstoßend, es war, als wäre von allem ein schlechter Gebrauch gemacht worden und als wäre keine Reinlichkeit mehr im Stande, das wieder gut zu machen. Josie dachte gern, wenn er irgendwohin kam, darüber nach, was hier verbessert werden könne und welche Freude es sein müsste, sofort einzugreifen, ohne Rücksicht auf die vielleicht endlose Arbeit, die es verursachen würde. Hier aber wusste er nicht, was zu tun wäre. Langsam nahm er das Tuch von Brunelda ab. "Willkommen, Fräulein", sagte der Verwalter geziert, es war kein Zweifel, dass Brunelda einen guten Eindruck auf ihn machte. Sobald Brunelda dies merkte, verstand sie das, wie Josie befriedigt sah, gleich auszunützen. Alle Angst der letzten Stunden verschwand.

Kapitel X: Theater von Oklahama
Josie sah an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: "Auf dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Theater in Oklahama aufgenommen! Das große Theater von Oklahama ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf wird alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!"
Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zu finden. Es gab so viele Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher als Plakate sonst zu sein pflegen. Vor allem aber hatte es einen großen Fehler, es stand kein Wort von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein wenig erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiss genannt; es hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.
Für Josie stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung. "Jeder war willkommen", hieß es. Jeder, also auch Josie. Alles, was er bisher getan hatte, war vergessen, niemand wollte ihm daraus einen Vorwurf machen. Er durfte sich zu einer Arbeit melden, die keine Schande war, zu der man vielmehr öffentlich einladen konnte! Und ebenso öffentlich wurde das Versprechen gegeben, dass man auch ihn annehmen würde. Er verlangte nichts Besseres, er wollte endlich den Anfang einer anständigen Laufbahn finden, und hier zeigte er sich vielleicht. Mochte alles Großsprecherische, was auf dem Plakate stand, eine Lüge sein, mochte das große Theater von Oklahama ein kleiner Wanderzirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, das war genügend. Josie las das Plakat nicht zum zweiten Male, suchte aber noch einmal den Satz: "Jeder ist willkommen" hervor.
Zuerst dachte er daran, zu Fuß nach Clayton zu gehen, aber das wären drei Stunden angestrengten Marsches gewesen, und er wäre dann möglicherweise gerade zurechtgekommen, um zu erfahren, dass man schon alle verfügbaren Stellen besetzt hätte. Nach dem Plakat war allerdings die Zahl der Aufzunehmenden unbegrenzt, aber so waren immer alle derartigen Stellenangebote abgefasst. Josie sah ein, dass er entweder auf die Stelle verzichten oder fahren musste. Er überrechnete sein Geld, es hätte ohne diese Fahrt für acht Tage gereicht, er schob die kleinen Münzen auf der flachen Hand hin und her. Ein Herr, der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: "Viel Glück zur Fahrt nach Clayton." Josie nickte stumm und rechnete weiter. Aber er entschloss sich bald, teilte das für die Fahrt notwendige Geld ab und lief zur Untergrundbahn.
Als er in Clayton ausstieg, hörte er gleich den Lärm vieler Trompeten. Es war ein wirrer Lärm, die Trompeten waren nicht gegeneinander abgestimmt, es wurde rücksichtslos geblasen. Aber das störte Josie nicht, es bestätigte ihm vielmehr, dass das Theater von Oklahama ein großes Unternehmen war. Aber als er aus dem Stationsgebäude trat und die ganze Anlage vor sich überblickte, sah er, dass alles noch größer war, als er nur irgendwie hatte denken können, und er begriff nicht, wie ein Unternehmen, nur zu dem Zweck um Personal zu erhalten, derartige Aufwendungen machen konnte. Vor dem Eingang zum Rennplatz war ein langes, niedriges Podium aufgebaut, auf dem hunderte Frauen als Engel gekleidet in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken auf langen, goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren aber nicht unmittelbar auf dem Podium, sondern jede stand auf einem Postament, das aber nicht zu sehen war, denn die langen, wehenden Tücher der Engelskleidung hüllten es vollständig ein. Da nun die Postamente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen die Gestalten der Frauen riesenhaft aus, nur ihre kleinen Köpfe störten ein wenig den Eindruck der Größe, auch ihr gelöstes Haar hing zu kurz und fast lächerlich zwischen den großen Flügeln und an den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte man Postamente in der verschiedensten Größe verwendet, es gab ganz niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben ihnen schwangen sich andere Frauen in solche Höhe hinauf, dass man sie beim leichtesten Windstoß in Gefahr glaubte. Und nun bliesen alle diese Frauen.
Es gab nicht viele Zuhörer. Klein im Vergleich zu den großen Gestalten gingen etwa zehn Burschen vor dem Podium hin und her und blickten zu den Frauen hinauf. Sie zeigten einander diese oder jene, sie schienen aber nicht die Absicht zu haben, einzutreten und sich aufnehmen zu lassen. Nur ein einziger, älterer Mann war zu sehen, er stand ein wenig abseits. Er hatte gleich auch seine Frau und ein Kind im Kinderwagen mitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Hand den Wagen, mit der anderen stützte sie sich auf die Schulter des Mannes. Sie bewunderten zwar das Schauspiel, aber man erkannte doch, dass sie enttäuscht waren. Sie hatten wohl auch erwartet, eine Arbeitsgelegenheit zu finden, dieses Trompetenblasen aber beirrte sie.
Josie war in der gleichen Lage. Er trat in die Nähe des Mannes, hörte ein wenig den Trompeten zu und sagte dann: "Hier ist doch die Aufnahmestelle für das Theater von Oklahama?" "Ich glaubte es auch", sagte der Mann, "aber wir warten hier schon seit einer Stunde und hören nichts als die Trompeten. Nirgends ist ein Plakat zu sehn, nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Auskunft geben könnte." Josie sagte: "Vielleicht wartet man, bis mehr Leute zusammenkommen. Es sind wirklich noch sehr wenig hier." "Möglich", sagte der Mann und sie schwiegen wieder. Es war auch schwer, im Lärm der Trompeten etwas zu verstehen. Aber dann flüsterte die Frau etwas ihrem Manne zu, er nickte und sie rief gleich Josie an: "Könnten Sie nicht in die Rennbahn hinübergehen und fragen, wo die Aufnahme stattfindet." "Ja", sagte Josie, "aber ich müsste über das Podium gehen, zwischen den Engeln durch." "Ist das so schwierig?" fragte die Frau. Für Josie erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann aber wollte sie nicht ausschicken. "Nun ja", sagte Josie, "ich werde gehen." "Sie sind sehr gefällig", sagte die Frau und sie, wie auch ihr Mann drückten Josie die Hand. Die Burschen liefen zusammen, um aus der Nähe zu sehen, wie Josie auf das Podium stieg. Es war, als bliesen die Frauen stärker, um den ersten Stellensuchenden zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren Postament Josie gerade vorüber ging, gaben sogar die Trompeten vom Munde und beugten sich zur Seite, um seinen Weg zu verfolgen. Josie sah auf dem andern Ende des Podiums einen unruhig auf und ab gehenden Mann, der offenbar nur auf Leute wartete, um ihnen alle Auskunft zu geben, die man nur wünschen konnte. Josie wollte schon auf ihn zugehen, da hörte er über sich seinen Namen rufen: "Josie", rief ein Engel. Josie sah auf und fing vor freudiger Überraschung zu lachen an; es war Fanny. "Fanny", rief er und grüßte mit der Hand hinauf. "Komm doch her", rief Fanny, "du wirst doch nicht an mir vorüber laufen." Und sie schlug die Tücher auseinander, so dass das Postament und eine schmale Treppe, die hinaufführte, frei gelegt wurde. "Ist es erlaubt hinauf zu gehen?" fragte Josie. "Wer will es uns verbieten, dass wir einander die Hand drücken", rief Fanny und blickte sich erzürnt um, ob nicht etwa schon jemand mit dem Verbote käme. Josie lief aber schon die Treppe hinauf. "Langsamer", rief Fanny, "das Postament und wir beide stürzen um." Aber es geschah nichts, Josie kam glücklich bis zur letzten Stufe. "Sieh nur", sagte Fanny, nachdem sie einander begrüßt hatten, "sieh nur was für eine Arbeit ich bekommen habe." "Es ist ja schön", sagte Josie und sah sich um. Alle Frauen in der Nähe hatten schon Josie bemerkt und kicherten. "Du bist fast die Höchste", sagte Josie und streckte die Hand aus, um die Höhe der andern abzumessen. "Ich habe dich gleich gesehen", sagte Fanny, "als du aus der Station kamst, aber ich bin leider hier in der letzten Reihe, man sieht mich nicht und rufen konnte ich auch nicht. Ich habe zwar besonders laut geblasen, aber du hast mich nicht erkannt." "Ihr blast ja alle schlecht", sagte Josie. "Lass mich einmal blasen." "Aber gewiss", sagte Fanny und reichte ihm die Trompete, "aber verdirb den Chor nicht, sonst entlässt man mich." Josie fing zu blasen an, er hatte gedacht, es sei eine grob gearbeitete Trompete, nur zum Lärm machen bestimmt, aber nun zeigte sich, dass es ein Instrument war, das fast jede Feinheit ausführen konnte. Waren alle Instrumente von gleicher Beschaffenheit, so wurde ein großer Missbrauch mit ihnen getrieben. Josie blies, ohne sich vom Lärm der andern stören zu lassen, mit voller Brust ein Lied, das er irgendwo in einer Kneipe einmal gehört hatte. Er war froh, eine alte Freundin getroffen zu haben, hier vor allen bevorzugt die Trompete blasen zu dürfen und möglicherweise bald eine gute Stellung bekommen zu können. Viele Frauen hörten zu blasen auf und hörten zu; als er plötzlich abbrach, war kaum die Hälfte der Trompeten in Tätigkeit, erst allmählich kam wieder der vollständige Lärm zu Stande. "Du bist ein Künstler", sagte Fanny, als Josie ihr die Trompete wieder reichte. "Lass dich als Trompeter aufnehmen." "Werden denn auch Männer aufgenommen?" fragte Josie. "Ja", sagte Fanny, "wir blasen zwei Stunden. Dann werden wir von Männern, die als Teufel angezogen sind, abgelöst. Die Hälfte bläst, die Hälfte trommelt. Es ist sehr schön, wie überhaupt die ganze Ausstattung sehr kostbar ist. Ist nicht auch unser Kleid sehr schön? Und die Flügel?" Sie sah an sich hinab. "Glaubst du", fragte Josie, "dass auch ich noch eine Stelle bekommen werde?" "Ganz bestimmt", sagte Fanny, "es ist ja das größte Theater der Welt. Wie gut es sich trifft, dass wir wieder beisammen sein werden. Allerdings kommt es darauf an, was für eine Stelle du bekommst. Es wäre nämlich auch möglich, dass wir, auch wenn wir beide hier angestellt sind, uns doch gar nicht sehen." "Ist denn das Ganze wirklich so groß?" fragte Josie. "Es ist das größte Theater der Welt", sagte Fanny nochmals, "ich habe es allerdings selbst noch nicht gesehen, aber manche meiner Kolleginnen, die schon in Oklahama waren, sagen, es sei fast grenzenlos." "Es melden sich aber wenig Leute", sagte Josie und zeigte hinunter auf die Burschen und die kleine Familie. "Das ist wahr", sagte Fanny. "Bedenke aber, dass wir in allen Städten Leute aufnehmen, dass unsere Werbetruppe immerfort reist und dass es noch viele solche Truppen gibt." "Ist denn das Theater noch nicht eröffnet?" fragte Josie. "Oh ja", sagte Fanny, "es ist ein altes Theater, aber es wird immerfort vergrößert." "Ich wundere mich", sagte Josie, "dass sich nicht mehr Leute dazu drängen." "Ja", sagte Fanny, "es ist merkwürdig." "Vielleicht", sagte Josie, "schreckt dieser Aufwand an Engeln und Teufeln mehr ab, als er anzieht." "Wie du das herausfinden kannst", sagte Fanny. "Es ist aber möglich. Sag es unserem Führer, vielleicht kannst du ihm dadurch nützen." "Wo ist er?" fragte Josie. "In der Rennbahn", sagte Fanny, "auf der Schiedsrichtertribüne." "Auch das wundert mich", sagte Josie, "warum geschieht denn die Aufnahme auf der Rennbahn?" "Ja", sagte Fanny, "wir machen überall die größten Vorbereitungen für den größten Andrang. Auf der Rennbahn ist eben viel Platz. Und in allen Ständen, wo sonst die Wetten abgeschlossen werden, sind die Aufnahmskanzleien eingerichtet. Es sollen zweihundert verschiedene Kanzleien sein." "Aber", rief Josie, "hat denn das Theater von Oklahama so große Einkünfte, um derartige Werbetruppen erhalten zu können?" "Was kümmert uns denn das", sagte Fanny, "aber nun, Josie, geh, damit du nichts versäumst, ich muss auch wieder blasen. Versuche auf jeden Fall einen Posten bei dieser Truppe zu bekommen und komm gleich zu mir, es melden. Denke daran, dass ich in großer Unruhe auf die Nachricht warte." Sie drückte ihm die Hand, ermahnte ihn zur Vorsicht beim Hinabsteigen, setzte wieder die Trompete an die Lippen, blies aber nicht früher, ehe sie Josie unten auf dem Boden in Sicherheit sah. Josie legte wieder die Tücher über die Treppe, so wie sie früher gewesen waren, Fanny dankte durch Kopfnicken, und Josie ging, das eben Gehörte nach verschiedenen Richtungen hin überlegend auf den Mann zu, der schon Josie oben bei Fanny gesehen und sich dem Postament genähert hatte, um ihn zu erwarten.
"Sie wollen bei uns eintreten?" fragte der Mann. "Ich bin der Personalchef dieser Truppe und heiße Sie willkommen." Er war ständig, wie aus Höflichkeit, ein wenig vorgebeugt, tänzelte, trotzdem er sich nicht von der Stelle rührte und spielte mit seiner Uhrkette. "Ich danke", sagte Josie, "ich habe das Plakat ihrer Gesellschaft gelesen und melde mich, wie es dort verlangt wird." "Sehr richtig", sagte der Mann anerkennend, "leider verhält sich hier nicht jeder so richtig." Josie dachte daran, dass er jetzt den Mann darauf aufmerksam machen könnte, dass möglicherweise die Lockmittel der Werbetruppe gerade wegen ihrer Großartigkeit versagten. Aber er sagte es nicht, denn dieser Mann war gar nicht der Führer der Truppe, und außerdem wäre es wenig empfehlend gewesen, wenn er, der noch gar nicht aufgenommen war, gleich Verbesserungsvorschläge gemacht hätte. Darum sagte er nur: "Es wartet draußen noch einer, der sich auch anmelden will und der mich nur vorausgeschickt hat. Darf ich ihn jetzt holen?" "Natürlich", sagte der Mann, "je mehr kommen, desto besser." "Er hat auch eine Frau bei sich, und ein kleines Kind im Kinderwagen. Sollen die auch kommen?" "Natürlich", sagte der Mann und schien über Josies Zweifel zu lächeln. "Wir können alle brauchen." "Ich bin gleich wieder zurück", sagte Josie und lief wieder zurück an den Rand des Podiums. Er winkte dem Ehepaar zu und rief, dass alle kommen dürften. Er half den Kinderwagen auf das Podium heben und sie gingen nun gemeinsam. Die Burschen, die das sahen, berieten sich miteinander, stiegen dann langsam, bis zum letzten Augenblick noch zögernd, die Hände in den Taschen auf das Podium hinauf und folgten schließlich Josie und der Familie. Eben kamen aus dem Stationsgebäude der Untergrundbahn neue Passagiere hervor, die angesichts des Podiums mit den Engeln staunend die Arme erhoben. Immerhin schien es, als ob die Bewerbung um Stellen nun doch lebhafter werden solle. Josie war sehr froh, so früh, vielleicht als Erster gekommen zu sein, das Ehepaar war ängstlich und stellte verschiedene Fragen darüber, ob große Anforderungen gestellt würden. Josie sagte, er wisse noch nichts Bestimmtes, er hätte aber wirklich den Eindruck erhalten, dass jeder ohne Ausnahme genommen würde. Er glaube, man dürfe getrost sein.
Der Personalchef kam ihnen schon entgegen, war sehr zufrieden, dass so viele kamen, rieb sich die Hände, grüßte jeden Einzelnen durch eine kleine Verbeugung und stellte sie alle in eine Reihe. Josie war der erste, dann kam das Ehepaar und dann erst die andern. Als sie sich alle aufgestellt hatten, die Burschen drängten sich zuerst durcheinander und es dauerte ein Weilchen, ehe bei ihnen Ruhe eintrat, sagte der Personalchef, während die Trompeten verstummten: "Im Namen des Theaters von Oklahama begrüße ich Sie. Sie sind früh gekommen", es war aber schon bald Mittag, "das Gedränge ist noch nicht groß, die Formalitäten ihrer Aufnahme werden daher bald erledigt sein. Sie haben natürlich alle ihre Legitimationspapiere bei sich." Die Burschen holten gleich irgendwelche Papiere aus den Taschen und schwenkten sie gegen den Personalchef hin, der Ehemann stieß seine Frau an, die unter dem Federbett des Kinderwagens ein ganzes Bündel Papiere hervor zog, Josie allerdings hatte keine. Sollte das ein Hindernis für seine Aufnahme werden? Es war nicht unwahrscheinlich. Immerhin wusste Josie aus Erfahrung, dass sich derartige Vorschriften, wenn man nur ein wenig entschlossen ist, leicht umgehen lassen. Der Personalchef überblickte die Reihe, vergewisserte sich, dass alle Papiere hatten, und da auch Josie die Hand, allerdings die leere Hand, erhob, nahm er an, auch bei ihm sei alles in Ordnung. "Es ist gut", sagte dann der Personalchef und winkte den Burschen ab, die ihre Papiere gleich untersucht haben wollten, "die Papiere werden jetzt in den Aufnahmekanzleien überprüft werden. Wie Sie schon aus unserem Plakat gesehen haben, können wir jeden brauchen. Wir müssen aber natürlich wissen, was für einen Beruf er bisher ausgeübt hat, damit wir ihn an den richtigen Ort stellen können, wo er seine Kenntnisse verwerten kann." "Es ist ja ein Theater", dachte Josie zweifelnd und hörte sehr aufmerksam zu. "Wir haben daher", fuhr der Personalchef fort, "in den Buchmacherbuden Aufnahmekanzleien eingerichtet, je eine Kanzlei für eine Berufsgruppe. Jeder von ihnen wird mir also jetzt seinen Beruf angeben, die Familie gehört im Allgemeinen zur Aufnahmekanzlei des Mannes, ich werde Sie dann zu den Kanzleien führen, wo zuerst ihre Papiere und dann ihre Kenntnisse von Fachmännern überprüft werden sollen — es wird nur eine ganz kurze Prüfung sein, niemand muss sich fürchten. Dort werden Sie dann auch gleich aufgenommen werden und die weitern Weisungen erhalten. Fangen wir also an. Hier, die erste Kanzlei, ist wie schon die Aufschrift sagt, für Ingenieure bestimmt. Ist vielleicht ein Ingenieur unter ihnen?" Josie meldete sich. Er glaubte, gerade weil er keine Papiere hatte, müsse er bestrebt sein, alle Formalitäten möglichst rasch durch zu jagen, eine kleine Berechtigung sich zu melden hatte er auch, denn er hatte ja Ingenieur werden wollen. Aber als die Burschen sahen, dass sich Josie meldete, wurden sie neidisch und meldeten sich auch, alle meldeten sich. Der Personalchef streckte sich in die Höhe und sagte zu den Burschen: "Sie sind Ingenieure?" Da senkten sie alle langsam die Hände, Josie dagegen bestand auf seiner ersten Meldung. Der Personalchef sah ihn zwar ungläubig an, denn Josie schien ihm zu kläglich angezogen und auch zu jung, um Ingenieur sein zu können, aber er sagte doch nichts weiter, vielleicht aus Dankbarkeit, weil Josie ihm, wenigstens seiner Meinung nach, die Bewerber hereingeführt hatte. Er zeigte bloß einladend nach der Kanzlei und Josie ging hin, während sich der Personalchef den andern zuwendete.
In der Kanzlei für Ingenieure saßen an den zwei Seiten eines rechtwinkligen Pultes zwei Herren und verglichen zwei große Verzeichnisse, die vor ihnen lagen. Der eine las vor, der andere strich in seinem Verzeichnis die vorgelesenen Namen an. Als Josie grüßend vor sie hin trat, legten sie sofort die Verzeichnisse fort und nahmen andere große Bücher vor, die sie aufschlugen. Der eine, offenbar nur ein Schreiber, sagte: "Ich bitte um ihre Legitimationspapiere." "Ich habe sie leider nicht bei mir", sagte Josie. "Er hat sie nicht bei sich", sagte der Schreiber zu dem andern Herrn und schrieb die Antwort gleich in sein Buch ein. "Sie sind Ingenieur?" fragte dann der andere, der der Leiter der Kanzlei zu sein schien. "Ich bin es noch nicht", sagte Josie schnell, "aber —". "Genug", sagte der Herr noch viel schneller, "dann gehören Sie nicht zu uns. Ich bitte die Aufschrift zu beachten." Josie biss die Zähne zusammen, der Herr musste es bemerkt haben, denn er sagte: "Es ist kein Grund zur Unruhe. Wir können alle brauchen." Und er winkte einem der Diener, die beschäftigungslos zwischen den Barrieren herum gingen: "Führen Sie diesen Herrn zu der Kanzlei für Leute mit technischen Kenntnissen." Der Diener fasste den Befehl wörtlich auf und fasste Josie bei der Hand. Sie gingen zwischen vielen Buden durch, in einer sah Josie schon einen der Burschen, der bereits aufgenommen war und den Herren dort dankend die Hand drückte. In der Kanzlei, in die Josie jetzt gebracht wurde, war, wie Josie vorausgesehen hatte, der Vorgang ähnlich wie in der ersten Kanzlei. Nur schickte man ihn von hier, da man hörte, dass er eine Mittelschule besucht hatte, in die Kanzlei für gewesene Mittelschüler. Als Josie dort aber sagte, er hätte eine europäische Mittelschule besucht, erklärte man sich auch dort für unzuständig und ließ ihn in die Kanzlei für europäische Mittelschüler führen. Es war eine Bude am äußersten Rand, nicht nur kleiner, sondern sogar niedriger als alle andern. Der Diener, der ihn hierher gebracht hatte, war wütend über die lange Führung und die vielen Abweisungen, an denen seiner Meinung nach Josie allein die Schuld tragen musste. Er wartete nicht mehr die Fragen ab, sondern lief gleich fort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzte Zuflucht. Als Josie den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fast über die Ähnlichkeit, die dieser mit einem Professor hatte, der wahrscheinlich noch jetzt an der Realschule zuhause unterrichtete. Die Ähnlichkeit bestand allerdings, wie sich gleich herausstellte, nur in Einzelheiten, aber die auf der breiten Nase ruhende Brille, der blonde, wie ein Schaustück gepflegte Vollbart, der sanft gebeugte Rücken und die immer unerwartet hervorbrechende laute Stimme hielten Josie noch einige Zeit in Staunen. Glücklicherweise musste er auch nicht sehr aufmerken, denn es ging hier einfacher zu, als in den andern Kanzleien. Es wurde zwar auch hier eingetragen, dass seine Legitimationspapiere fehlten und der Kanzleileiter nannte es eine unbegreifliche Nachlässigkeit, aber der Schreiber, der hier die Oberhand hatte, ging schnell darüber hinweg und erklärte nach einigen kurzen Fragen des Leiters, während sich dieser gerade zu einer größern Frage anschickte, Josie für aufgenommen. Der Leiter wandte sich mit offenem Mund gegen den Schreiber, dieser aber machte eine abschließende Handbewegung, sagte: "Aufgenommen", und trug auch gleich die Entscheidung ins Buch ein. Offenbar war der Schreiber der Meinung, ein europäischer Mittelschüler zu sein, sei schon etwas so Schmähliches, dass man es jedem, der es von sich behaupte, ohne Weiteres glauben könne. Josie für seinen Teil hatte nichts dagegen einzuwenden, er ging zu ihm hin und wollte ihm danken. Es gab aber noch eine kleine Verzögerung, als man ihn jetzt nach seinem Namen fragte. Er antwortete nicht gleich, er hatte eine Scheu, seinen wirklichen Namen zu nennen und aufschreiben zu lassen. Bis er hier auch nur die kleinste Stelle erhalten und zur Zufriedenheit ausfüllen würde, dann mochte man seinen Namen erfahren, jetzt aber nicht, allzu lang hatte er ihn verschwiegen, als dass er ihn jetzt hätte verraten sollen. Er nannte daher, da ihm im Augenblick kein anderer Name einfiel, nur den Rufnamen aus seinen letzten Stellungen: "Negro". "Negro?" fragte der Leiter, drehte den Kopf und machte eine Grimasse, als hätte Josie jetzt den Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit erreicht.
Auch der Schreiber sah Josie eine Weile prüfend an, dann aber wiederholte er "Negro" und schrieb den Namen ein. "Sie haben doch nicht Negro aufgeschrieben", fuhr ihn der Leiter an. "Ja, Negro", sagte der Schreiber ruhig und machte eine Handbewegung, als habe nun der Leiter das Weitere zu veranlassen. Der Leiter bezwang sich auch, stand auf und sagte: "Sie sind also für das Theater von Oklahama —". Aber weiter kam er nicht, er konnte nichts gegen sein Gewissen tun, setzte sich und sagte: "Er heißt nicht Negro." Der Schreiber zog die Augenbrauen in die Höhe, stand nun selbst auf und sagte: "Dann teile also ich Ihnen mit, dass Sie für das Theater in Oklahama aufgenommen sind und dass man Sie jetzt unserm Führer vorstellen wird." Wieder wurde ein Diener gerufen, der Josie zur Schiedsrichtertribüne führte.
Unten an der Treppe sah Josie den Kinderwagen und gerade kam auch das Ehepaar herunter, die Frau mit dem Kind auf dem Arm. "Sind Sie aufgenommen?" fragte der Mann, er war viel lebhafter als früher, auch die Frau sah ihm lachend über die Schulter. Als Josie antwortete, eben sei er aufgenommen worden und gehe zur Vorstellung, sagte der Mann: "Dann gratuliere ich. Auch wir sind aufgenommen worden, es scheint ein gutes Unternehmen zu sein, allerdings kann man sich nicht gleich in alles einfinden, so ist es aber überall." Sie sagten einander noch "Auf Wiedersehn" und Josie stieg zur Tribüne hinauf. Er ging langsam, denn der kleine Raum oben schien von Leuten überfüllt zu sein und er wollte sich nicht eindrängen. Er blieb sogar stehen und überblickte das große Rennfeld, das auf allen Seiten bis an ferne Wälder reichte. Ihn erfasste Lust, einmal ein Pferderennen zu sehn, er hatte in Amerika noch keine Gelegenheit dazu gefunden. In Europa war er einmal als kleines Kind zu einem Rennen mitgenommen worden, konnte sich aber an nichts anderes erinnern, als dass er von der Mutter zwischen vielen Menschen, die nicht auseinander weichen wollten, durchgezogen worden war. Er hatte also eigentlich überhaupt noch kein Rennen gesehn. Hinter ihm fing eine Maschinerie zu schnarren an, er drehte sich um und sah auf dem Apparat, auf dem beim Rennen die Namen der Sieger veröffentlicht werden, jetzt folgende Aufschrift in die Höhe ziehn: "Kaufmann Kalla mit Frau und Kind". Hier wurden also die Namen der Aufgenommenen den Kanzleien mitgeteilt.
Gerade liefen einige Herren lebhaft miteinander sprechend, Bleistifte und Notizblätter in den Händen die Treppe herunter, Josie drückte sich ans Geländer, um sie vorbei zu lassen und stieg, da nun oben Platz geworden war, hinauf. In einer Ecke der mit Holzgeländern versehenen Plattform — das Ganze sah wie das flache Dach eines schmalen Turmes aus — saß, die Arme entlang der Holzgeländer ausgestreckt, ein Herr, dem ein breites, weißes Seidenband mit der Aufschrift: Führer der 10ten Werbetruppe des Theaters von Oklahama quer über die Brust ging. Neben ihm stand auf einem Tischchen ein gewiss auch bei den Rennen verwendeter telefonischer Apparat, durch den der Führer offenbar alle notwendigen Angaben über die einzelnen Bewerber noch vor der Vorstellung erfuhr, denn er stellte an Josie zunächst gar keine Fragen, sondern sagte zu einem Herrn, der mit gekreuzten Beinen, die Hand am Kinn, neben ihm lehnte: "Negro, ein europäischer Mittelschüler." Und als sei damit der sich tief verneigende Josie für ihn erledigt, sah er die Treppe hinunter, ob nicht wieder jemand käme. Aber da niemand kam, hörte er manchmal dem Gespräch, das der andere Herr mit Josie führte zu, blickte aber meistens über das Rennfeld hin und klopfte mit den Fingern auf das Geländer. Diese zarten und doch kräftigen, langen und schnell bewegten Finger lenkten zeitweilig Josies Aufmerksamkeit auf sich, trotzdem ihn der andere Herr genug in Anspruch nahm.
"Sie sind stellungslos gewesen?" fragte dieser Herr zunächst. Diese Frage, sowie fast alle andern Fragen, die er stellte, waren sehr einfach, ganz unverfänglich und die Antworten wurden überdies nicht durch Zwischenfragen nachgeprüft, trotzdem aber wusste ihnen der Herr, durch die Art, wie er sie mit großen Augen aussprach, wie er ihre Wirkung mit vorgebeugtem Oberkörper beobachtete, wie er die Antworten mit auf die Brust gesenktem Kopfe aufnahm und hier und da laut wiederholte, eine besondere Bedeutung zu geben, die man zwar nicht verstand, deren Ahnung aber vorsichtig und befangen machte. Es kam öfters vor, dass es Josie drängte, die gegebene Antwort zu widerrufen und durch eine andere, die vielleicht mehr Beifall finden würde, zu ersetzen, aber er hielt sich doch immer noch zurück, denn er wusste, einen wie schlechten Eindruck ein derartiges Schwanken machen musste und wie überdies die Wirkung der Antworten eine meist unberechenbare war. Überdies aber schien ja seine Aufnahme schon entschieden zu sein, dieses Bewusstsein gab ihm Rückhalt.
Die Frage, ob er stellungslos gewesen sei, beantwortete er mit einem einfachen "Ja". "Wo waren Sie zuletzt angestellt?" fragte dann der Herr. Josie wollte schon antworten, da hob der Herr den Zeigefinger und sagte noch einmal: "Zuletzt!" Josie hatte auch schon die erste Frage richtig verstanden, unwillkürlich schüttelte er die letzte Bemerkung als beirrend mit dem Kopfe ab und antwortete: "In einem Büro." Das war noch die Wahrheit, würde aber der Herr eine nähere Auskunft über die Art des Büros verlangen, so musste er lügen. Aber das tat der Herr nicht, sondern stellte die überaus leicht ganz wahrheitsgemäß zu beantwortende Frage: "Waren Sie dort zufrieden?" "Nein", rief Josie ihm fast in die Rede fallend. Bei einem Seitenblick bemerkte Josie, dass der Führer ein wenig lächelte, Josie bereute die unbedachte Art seiner letzten Antwort, aber es war zu verlockend gewesen, das Nein hinaus zu schreien, denn während seiner ganzen, letzten Dienstzeit hatte er nur den großen Wunsch gehabt, irgendein fremder Dienstgeber möge einmal eintreten und diese Frage an ihn richten. Seine Antwort konnte aber noch einen andern Nachteil bringen, denn der Herr konnte nun fragen, warum er nicht zufrieden gewesen sei. Statt dessen fragte er jedoch: "Zu was für einen Posten fühlen Sie sich geeignet?" Diese Frage enthielt möglicherweise wirklich eine Falle, denn wozu wurde sie gestellt, da Josie doch schon als Schauspieler aufgenommen war; trotzdem er das aber erkannte, konnte er sich dennoch nicht zu der Erklärung überwinden, er fühle sich für den Schauspielerberuf besonders geeignet. Er wich daher der Frage aus und sagte auf die Gefahr hin, trotzig zu erscheinen: "Ich habe das Plakat in der Stadt gelesen und da dort stand, dass man jeden brauchen kann, habe ich mich gemeldet." "Das wissen wir", sagte der Herr, schwieg und zeigte dadurch, dass er auf seiner frühern Frage beharre. "Ich bin als Schauspieler aufgenommen", sagte Josie zögernd, um den Herren die Schwierigkeit, in die ihn die letzte Frage gebracht hatte, begreiflich zu machen. "Das ist richtig", sagte der Herr und verstummte wieder. "Nun", sagte Josie und die ganze Hoffnung, einen Posten gefunden zu haben, kam ins Wanken, "ich weiß nicht, ob ich zum Theater spielen geeignet bin. Ich will mich aber anstrengen und alle Aufträge auszuführen suchen." Der Herr wandte sich dem Leiter zu, beide nickten, Josie schien richtig geantwortet zu haben, er fasste wieder Mut und erwartete aufgerichtet die nächste Frage. Die lautete: "Was wollten Sie denn ursprünglich studieren?" Um die Frage genau zu bestimmen — an der genauen Bestimmung lag dem Herrn immer sehr viel — fügte er hinzu: "In Europa, meine ich." Hierbei nahm er die Hand vom Kinn und machte eine schwache Bewegung, als wolle er damit gleichzeitig andeuten, wie ferne Europa und wie bedeutungslos die dort einmal gefassten Pläne seien. Josie sagte: "Ich wollte Ingenieur werden." Diese Antwort widerstrebte ihm zwar, es war lächerlich, im vollen Bewusstsein seiner bisherigen Laufbahn in Amerika die alte Erinnerung, dass er einmal habe Ingenieur werden wollen, hier wieder aufzufrischen — wäre er es denn selbst in Europa jemals geworden? — aber er wusste gerade keine andere Antwort und sagte deshalb diese. Aber der Herr nahm es ernst, wie er alles ernst nahm. "Nun, Ingenieur", sagte er, "können Sie wohl nicht gleich werden, vielleicht würde es Ihnen aber vorläufig entsprechen, irgendwelche niedrigen technische Arbeiten auszuführen." "Gewiss", sagte Josie, er war sehr zufrieden, er wurde zwar, wenn er das Angebot annahm, aus dem Schauspielerstand unter die technischen Arbeiter geschoben, aber er glaubte tatsächlich, sich bei dieser Arbeit besser bewähren zu können. Übrigens, dies wiederholte er sich immer wieder, es kam nicht so sehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf, sich überhaupt irgendwo dauernd festzuhalten. "Sind Sie denn kräftig genug für schwerere Arbeit?" fragte der Herr. "Oh ja", sagte Josie. Hierauf ließ der Herr Josie näher zu sich herankommen und befühlte seinen Arm. "Es ist ein kräftiger Junge", sagte er dann, indem er Josie am Arm zum Führer hinzog. Der Führer nickte lächelnd, reichte, ohne sich übrigens aus seiner Ruhelage aufzurichten, Josie die Hand und sagte: "Dann sind wir also fertig. In Oklahama wird alles noch überprüft werden. Machen Sie unserer Werbetruppe Ehre!" Josie verbeugte sich zum Abschied, er wollte sich dann auch von dem andern Herren verabschieden, dieser aber spazierte schon, als sei er mit seiner Arbeit vollständig fertig, das Gesicht in die Höhe gerichtet auf der Plattform auf und ab. Während Josie hinunterstieg, wurde zur Seite der Treppe auf der Anzeigetafel die Aufschrift hochgezogen: "Negro, technischer Arbeiter". Da alles hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte es Josie nicht mehr so sehr bedauert, wenn auf der Tafel sein wirklicher Name zu lesen gewesen wäre. Es war alles sogar überaus sorgfältig eingerichtet, denn am Fuß der Treppe wurde Josie schon von einem Diener erwartet, der ihm eine Binde um den Arm festmachte. Als Josie dann den Arm hob, um zu sehn, was auf der Binde stand, war dort der ganz richtige Aufdruck "Technischer Arbeiter".
Wohin Josie nun aber geführt werden mochte, zuerst wollte er doch Fanny melden, wie glücklich alles abgelaufen war. Aber zu seinem Bedauern erfuhr er vom Diener, dass die Engel ebenso wie auch die Teufel bereits nach dem nächsten Bestimmungsort der Werbetruppe abgereist seien, um dort die Ankunft der Truppe für den nächsten Tag bekannt zu machen. "Schade", sagte Josie, es war die erste Enttäuschung, die er in diesem Unternehmen erlebte, "ich hatte eine Bekannte unter den Engeln." "Sie werden sie in Oklahama wiedersehn", sagte der Diener, "nun aber kommen Sie, Sie sind der letzte." Er führte Josie an der hintern Seite des Podiums entlang, auf dem früher die Engel gestanden waren, jetzt waren dort nur noch die leeren Postamente. Josies Annahme aber, dass ohne die Musik der Engel mehr Stellensuchende kommen würden, erwies sich nicht als richtig, denn vor dem Podium standen jetzt überhaupt keine Erwachsenen mehr, nur paar Kinder kämpften um eine lange, weiße Feder, die wahrscheinlich aus einem Engelsflügel gefallen war. Ein Junge hielt sie in die Höhe, während die andern Kinder mit einer Hand seinen Kopf nieder drücken wollten und mit der andern nach der Feder langten.
Josie zeigte auf die Kinder, der Diener aber sagte ohne hinzusehn: "Kommen Sie rascher, es hat sehr lange gedauert, ehe Sie aufgenommen wurden. Man hatte wohl Zweifel?" "Ich weiß nicht", sagte Josie erstaunt, er glaubte es aber nicht.
Immer, selbst bei den klarsten Verhältnissen, fand sich doch irgendjemand, der seinem Mitmenschen Sorgen machen wollte. Aber vor dem freundlichen Anblick der großen Zuschauertribüne, zu der sie jetzt kamen, vergaß Josie bald die Bemerkung des Dieners. Auf dieser Tribüne war nämlich eine ganze, lange Bank mit einem weißen Tuch gedeckt, alle Aufgenommenen saßen mit dem Rücken zur Rennbahn auf der nächsttieferen Bank und wurden bewirtet. Alle waren fröhlich und aufgeregt, gerade als sich Josie unbemerkt als Letzter auf die Bank setzte, standen viele mit erhobenen Gläsern auf und einer hielt einen Trinkspruch auf den Führer der zehnten Werbetruppe, den er den "Vater der Stellungssuchenden" nannte. Jemand machte darauf aufmerksam, dass man ihn auch von hier aus sehen könne und tatsächlich war die Schiedsrichtertribüne mit den zwei Herren in nicht allzu großer Entfernung sichtbar. Nun schwenkten alle ihre Gläser in dieser Richtung, auch Josie fasste das vor ihm stehende Glas, aber so laut man auch rief und so sehr man sich bemerkbar zu machen suchte, auf der Schiedsrichtertribüne deutete nichts darauf hin, dass man die Ovation bemerkte oder wenigstens bemerken wolle. Der Führer lehnte in der Ecke wie früher und der andere Herr stand neben ihm, die Hand am Kinn.
Ein wenig enttäuscht setzte man sich wieder, hier und da drehte sich noch einer nach der Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäftigte man sich nur mit dem reichlichen Essen; großes Geflügel, wie es Josie noch nie gesehen hatte, mit vielen Gabeln in dem knusprig gebratenen Fleisch, wurde herum getragen, Wein wurde immer wieder von den Dienern eingeschenkt — man merkte es kaum, man war über seinen Teller gebückt und in den Becher fiel der Strahl des roten Weines — und wer sich an der allgemeinen Unterhaltung nicht beteiligen wollte, konnte Bilder von Ansichten des Theaters von Oklahama besichtigen, die an einem Ende der Tafel aufgestapelt waren und von Hand zu Hand gehen sollten. Doch kümmerte man sich nicht viel um die Bilder und so geschah es, dass bei Josie, der der Letzte war, nur ein Bild ankam. Nach diesem Bild zu schließen mussten aber alle sehr sehenswert sein. Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der Vereinigten Staaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold, in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten Schere ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons früherer Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend gerade Nase, aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starr gesenkte Augen. Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe, kamen Strahlen von Licht; weißes und doch mildes Licht enthüllte förmlich den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen sich faltendem Samt, der an der ganzen Umrandung nieder fiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle rötlich schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. Josie vergaß das Essen nicht, sah aber doch oft die Abbildung an, die er neben seinen Teller gelegt hatte.
Schließlich hätte er doch noch sehr gern wenigstens eines der übrigen Bilder angesehn, selbst holen wollte er es sich aber nicht, denn ein Diener hatte die Hand auf den Bildern liegen und die Reihenfolge musste wohl gewahrt werden; er suchte also nur die Tafel zu überblicken und festzustellen, ob sich nicht doch noch ein Bild nähere. Da bemerkte er staunend — zuerst glaubte er es gar nicht — unter den am tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes — Giacomo. Gleich lief er zu ihm hin. "Giacomo", rief er. Dieser, schüchtern wie immer, wenn er überrascht wurde, erhob sich vom Essen, drehte sich in dem schmalen Raum zwischen den Bänken, wischte mit der Hand den Mund, war dann aber sehr froh, Josie zu sehen, bat ihn sich neben ihn zu setzen oder bot sich an zu Josies Platz hinüber zu kommen, sie wollten einander alles erzählen und immer beisammen bleiben. Josie wollte die andern nicht stören, jeder sollte deshalb vorläufig seinen Platz behalten, das Essen werde bald zu Ende sein und dann wollten sie natürlich immer zueinander halten. Aber Josie blieb doch noch bei Giacomo, nur um ihn anzusehn. Was für Erinnerungen an vergangene Zeiten! Wo war die Oberköchin? Was machte Therese? Giacomo selbst hatte sich in seinem Äußern fast gar nicht verändert, die Voraussage der Oberköchin, dass er in einem halben Jahr ein knochiger Amerikaner werden müsse, war nicht eingetroffen, er war zart wie früher, die Wangen eingefallen wie früher, augenblicklich allerdings waren sie gerundet, denn er hatte im Mund einen übergroßen Bissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen Knochen langsam heraus zog, um sie dann auf den Teller zu werfen. Wie Josie an seiner Armbinde ablesen konnte, war auch Giacomo nicht als Schauspieler, sondern als Liftjunge aufgenommen, das Theater von Oklahama schien wirklich jeden brauchen zu können.
In den Anblick Giacomos verloren, blieb aber Josie allzu lange von seinem Platze fort, eben wollte er zurückkehren, da kam der Personalchef, stellte sich auf eine der höher gelegenen Bänke, klatschte in die Hände und hielt eine kleine Ansprache, während die meisten aufstanden und die Sitzengebliebenen, die sich nicht vom Essen trennen konnten, durch Stöße der andern schließlich auch zum Aufstehn gezwungen wurden. "Ich will hoffen", sagte er, Josie war inzwischen schon auf den Fußspitzen zu seinem Platz zurück gelaufen, "dass Sie mit unserm Empfangsessen zufrieden waren. Im Allgemeinen lobt man das Essen unserer Werbetruppe. Leider muss ich die Tafel bereits aufheben, denn der Zug, der Sie nach Oklahama bringen soll, fährt in fünf Minuten. Es ist zwar eine lange Reise, Sie werden aber sehn, dass für Sie gut gesorgt ist. Hier stelle ich ihnen den Herrn vor, der ihren Transport führen wird und dem Sie Gehorsam schulden." Ein magerer, kleiner Herr erkletterte die Bank, auf welcher der Personalchef stand, nahm sich kaum Zeit, eine flüchtige Verbeugung zu machen, sondern begann sofort mit ausgestreckten, nervösen Händen zu zeigen, wie sich alle sammeln, ordnen und in Bewegung setzen sollten. Aber zunächst folgte man ihm nicht, denn derjenige aus der Gesellschaft, der schon früher eine Rede gehalten hatte, schlug mit der Hand auf den Tisch und begann eine längere Dankrede, trotzdem — Josie wurde ganz unruhig — eben gesagt worden war, dass der Zug bald abfahre. Aber der Redner achtete nicht einmal darauf, dass auch der Personalchef nicht zuhörte, sondern dem Transportleiter verschiedene Anweisungen gab, er legte seine Rede groß an, zählte alle Gerichte auf, die aufgetragen worden waren, gab über jedes sein Urteil ab und schloss dann zusammenfassend mit dem Ausruf: "Geehrte Herren, so gewinnt man uns." Alle außer den Angesprochenen lachten, aber es war doch mehr Wahrheit als Scherz.
Diese Rede büßte man überdies damit, dass jetzt der Weg zur Bahn im Laufschritt gemacht werden musste. Das war aber auch nicht sehr schwer, denn — Josie bemerkte es erst jetzt — niemand trug ein Gepäckstück — das einzige Gepäckstück war eigentlich der Kinderwagen, der jetzt an der Spitze der Truppe vom Vater gelenkt wie haltlos auf und nieder sprang. Was für besitzlose, verdächtige Leute waren hier zusammengekommen und wurden doch so gut empfangen und behütet! Und dem Transportleiter mussten sie geradezu ans Herz gelegt sein. Bald fasste er selbst mit einer Hand die Lenkstange des Kinderwagens und erhob die andere um die Truppe aufzumuntern, bald war er hinter der letzten Reihe, die er antrieb, bald lief er an den Seiten entlang, fasste einzelne Langsamere aus der Mitte ins Auge und suchte ihnen mit schwingenden Armen darzustellen, wie sie laufen müssten.
Als sie auf dem Bahnhof ankamen, stand der Zug schon bereit. Die Leute auf dem Bahnhof zeigten einander die Truppe, man hörte Ausrufe wie "Alle diese gehören zum Theater von Oklahama", das Theater schien viel bekannter zu sein, als Josie angenommen hatte, allerdings hatte er sich um Theaterdinge niemals gekümmert. Ein ganzer Waggon war eigens für die Truppe bestimmt, der Transportleiter drängte zum Einsteigen mehr als der Schaffner. Er sah zuerst in jede einzelne Abteilung, ordnete hier und da etwas und erst dann stieg er selbst ein. Josie hatte zufällig einen Fensterplatz bekommen und Giacomo neben sich gezogen. So saßen sie aneinander gedrängt und freuten sich im Grunde beide auf die Fahrt; so sorgenlos hatten sie in Amerika noch keine Reise gemacht. Als der Zug zu fahren begann, winkten sie mit den Händen aus dem Fenster, während die Burschen ihnen gegenüber einander anstießen und es lächerlich fanden.

Kapitel XI: Zugreise
Sie fuhren zwei Tage und zwei Nächte. Jetzt erst begriff Josie die Größe Amerikas. Unermüdlich sah er aus dem Fenster und Giacomo drängte sich solange mit heran, bis die Burschen gegenüber, die sich viel mit Kartenspiel beschäftigten, dessen überdrüssig wurden und ihm freiwillig den Fensterplatz einräumten. Josie dankte ihnen — Giacomos Englisch war nicht jedem verständlich — und sie wurden im Laufe der Zeit, wie es unter Kupeegenossen nicht anders sein kann, viel freundlicher, doch war auch ihre Freundlichkeit oft lästig, da sie z.B. immer, wenn ihnen eine Karte auf den Boden fiel und sie den Boden nach ihr absuchten, Josie oder Giacomo mit aller Kraft ins Bein zwickten. Giacomo schrie dann, immer von Neuem überrascht, und zog das Bein in die Höhe, Josie versuchte manchmal mit einem Fußtritt zu antworten, duldete aber im Übrigen alles schweigend. Alles, was sich in dem kleinen, selbst bei offenem Fenster von Rauch überfüllten Kupee ereignete, verging vor dem, was draußen zu sehen war.
Am ersten Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge. Bläulich schwarze Steinmassen gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich aus dem Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunkle, schmale, zerrissene Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sich verloren, breite Bergströme kamen eilend als große Wellen auf dem hügeligen Untergrund und in sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter die Brücken, über die der Zug fuhr, und sie waren so nah, dass der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte. [Kafkas Ende]
Der Zug raste auf die nächste Brücke zu, so hoch, so hoch,
sie brach ein, der Zug stürzte den Abgrund hinab, konnte Josie sich retten oder blieb er für immer verschollen? Und was geschah mit Giacomo?
Fortsetzung folgt (nicht)...

Franz Kafka - "Der Verschollene" (Amerika) in der Fassung der modernen Rechtschreibung

Kapitel I: "Der Heizer" Als der sechzehnjährige Josie Rossmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden w...